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von Uli Pelz
Herbert 16 4.7.13
Das letzte Kapitel. Neue Heimat, oder: Ick gloob meen Schwein pfeift
Nach dem Durchzug durch Oyten erreichte der Umzugskonvoi mit Musik in Begleitung der Britischen Besatzungskräfte den Oyter Berg, von wo aus sich bis heute ein herrlicher Blick ins Wesertal und in die Amerikanische Besatzungszone Bremen eröffnet. So gab es hier an diesem historischen Ort dann auch einen einmaligen besatzungspolitischen Akt, indem der Britische Konvoiführer die Führung des Umzugskonvois an den alliierten amerikanischen Besatzungskameraden in militärischer Form übergab. Dabei wurden alle drei Hymnen von Jonny und seinen Bläsern gespielt, zuerst die königliche, dann die bundesrepublikanische, und dann zum Schluss die amerikanische, bei der es sich einige Konvoiteilnehmer aus dem Dorf, die es gewohnt waren bei Bischoff, Schulz oder Segelken am Tresen zu stehen, nicht verkneifen konnten, halblaut den verbotenen eingedeutschten amerikanischen Yankiedaddel-Hymnentext mitzuschunkeln: „…wir steh’n mit dem Arsch an der Theke …usw.“ Und zur Überraschung aller Konvoiteilnehmer überflog in dem Moment des Abspielens der amerikanischen Hymne durch Jonny Behrens und seine Kameraden eine Kunstfliegerstaffel der Royal Airforce, bestehend aus 5 Düsenjägern, im militärischen Formationstiefflug den Konvoi. Und, als würden die Flugmaschinen von fremder Hand gesteuert, zogen sie über der Landesgrenze zu Bremen plötzlich gemeinsam hoch in die niedersächsischen Lüfte und entschwanden wohl zurück zu ihrem Stützpunkt in der Lüneburger Heide. Derweil waren die Nachkriegskinder in dem Umzugskonvoi von dem Fliegerangriff total erschrocken und traumatisiert, und sie brüllten und schrien, sie heulten und schluchzten und riefen nach ihren Beschützern. Nun gut, nur Ipa, der ja vorne bei Albert stolz wie Puma auf dem Mitfahrersitz des großen Fendt saß, bekam von dem Luftangriff nichts mit, da er sich gerade wieder einmal seinen selbstverletzenden Fingerübungen hingab und dabei selbstvergessen Borchert und Brecht in sich selbst hinein aufsagte. Und für Herbert Junior, der ja vorne im ersten alliierten Führungswagen saß, war die großbritannische Luftshow auch nichts Auergewöhnliches, da er ähnliche Veranstaltungen ja bereits aus seiner Flüchtlingszeit auf dem vereisten Kurischen Haff kannte – allerdings waren es damals rotarmistische Fluggeräte. Auch Mausi konnte die Flugdemonstration nichts anhaben, da sie ja im Erziehungskontext der Freien Deutschen Jugend auch in Luftgitarre, Luftangriff und Luftabwehr ausgebildet war. Sie konnte dazu nur im Bus von Badenhoop, in dem sie ja die Umzugsfahrt in die Neue Heimat mitmachte, kurz den anderen Nachkriegskindern erklären, dass die Fliegerstaffeln der Volksarmee der Deutschen Demokratischen Republik nicht nur aus 5 Flugzeugen bestehen würden,
sondern aus einem Fliegerkollektiv von 9 sozialistisch verdienten Flugrevolutionären, die bereits im Spanienkampf 1936 und im konterrevolutionären Ungarnaufstand 1956 erfolgreich eingesetzt waren.
Wer nun gedacht hätte, dass beim Eintreffen des Konvois an der Landesgrenze zu Tenever die Menschenmassen an den Straßenrändern der Freien und Hansestadt Bremen stehen würden, um die Neubürger zu empfangen, sah sich getäuscht. Trotz der Musik und der Alliierten Militärischen Begleitung kümmerten sich kein Bremer und keine Bremerin um den Einmarsch der heimatvertriebenen Dörfler. Im Gegenteil, in den Häusern an der Osterholzer Heerstraße wurden die Türen abgeschlossen und die Vorhänge zugezogen. Die auf der Heerstraße spielenden Kinder wurden hereingerufen mit den Warnungen: „Kommt rein, die Zigeuner kommen“, oder: „ Geht vonne Straße weg, die haben Kuhscheiße anne Hacken!“
An der Kreuzung Osterholzer Heerstraße und Osterholzer Landstraße regelte Amerikanische Militärpolizei die Ankunft der Umsiedler. Sie dirigierte den ländlichen Konvoi hinein in die Osterholzer Landstraße in Richtung Schevemoor, Nervenheilanstalt Ellen und Oberneuland, wo er dann von weiteren Amerikanischen Besatzungskräften an der Kreuzung Rockwinkler Landstraße / Franz-Schütte-Allee in die „Neue Heimat“ Neue Vahr Nord geleitet werden sollte. Währen in Schevemoor die einheimischen Osterholzer sich für einen Dreck um die Umsiedler interessierten, standen in Ellen auf Befehl des Chefarztes Dr. Hoppmann, der häufig mit seiner winters wie sommers sonnenbrillentragenden Frau Dr. Hoppmann im offenen Mercedes-Cabriolet bei Sonkowskis, die sich aus Ost-Berlin, der Hauptstadt der so genannten Deutschen Demokratischen Republik, kannten, vorfuhr, alle Patienten der Anstalt an der Ellener Straße und winkten den Übersiedlern zu. Ipa winkte mit den blutenden Fingern zurück, dachte an die hundertfachen elterlichen Drohungen der letzten Kindheitsjahre zurück, dass er auch hier landen würde, wenn er sich nicht endlich anständig benehmen würde, und er rief den an der Ellener Straße stehenden Ellener Insassen ein spontan selbstgedichtetes Kurzgedicht zu: „ Zu Ellen an der Straße. So mancher Doktor stand. Zu Ellen an der Straße. So mancher Dussel stand. Zu Ellen an der Straße. So mancher schon sein Ende fand. Zu Ellen an der Straße. Möcht‘ ich nicht begraben sein“.
Und alle an der Ellener Straße jubelten und klatschten begeistert.
Der Umzugskonvoi setzte seinen Weg nach der Bejubelung durch die Insassen der Ellener Anstalten nun fort in Richtung Rockwinkel und Oberneuland. Dabei kam es noch einmal zu einer kleinen Pause, da der amerikanische Führungsoffizier im nichtbesiedelten Teil zwischen Rockwinkel und Oberneuland den Konvoi stoppen ließ und den Befehl ausgab: „Pinkelpause, die Männer rechts in die Felder, die Frauen links in die Felder“. Und schon strömten alle Konvoiteilnehmer mit Blasendrang, besonders die, die auf ihren Gefährten ja alkoholische Eigenversorgung mitgenommen hatten, in die Felder und hinter die uralten Eichen und Buchen am Straßenrande, um sich zu entleeren. Auffällig war wieder einmal, dass auf der rechten Seite sich fast alle Männer des Konvois im Rübenfeld oder auf dem Kartoffelacker, hinter Randbüschen und den Bäumen, wiederfanden um sich, wie bei Männern üblich, einem kollektiven Stehpissritual hinzugeben, während die Felder und Büsche auf der linken Seite der Frauen ungenutzt blieben. Hilda, die Schneiderin aus Ostpreußen rief dem amerikanischen Führungsoffizier zu: „Na, was sollen wir hier im Felde meicheln, wir sind ja bald bei unserem Wasserklo!“ Die Frauen auf dem Wagen des Turnvereins verzichteten auch auf den Austritt in die linken Felder. Sie stecken ihre Köpfe zusammen und bekicherten, so wie sie es immer auch in Bischoffs Saal beim Turnerball zu tun pflegten, die Aktionen der Männer. Sie kicherten, wie immer, so heftig, dass bei der einen oder anderen der weiblichen Turnerriege eine inkontinente Folge zu befürchten war. Aber ein Austritt in die linken Rockwinkler Felder kam für keine der Damen in Anwesenheit von amerikanischen und britischen Besatzungssoldaten und in Anwesenheit von ihren eigenen Männern nicht in Frage. Auch vor den Augen der Kriegskinder und der Nachkriegskinder , die ja überwiegend in Badenhoops Bus saßen, einen feldurinalen Akt zu vollbringen, wäre keine der Damen in den Sinn gekommen, zumal alle es für unanständig gehalten hätten. Herbert Junior, der ja in einem Sonderwagen der Britischen Armee ganz vorne im Konvoi fuhr, verzichtete auch auf den Gang in die Felder, da er ja ohnehin wegen seiner angeschlagenen Gesundheit ein anderes Blasenverhalten hatte, als die anderen Kinder und Jugendlichen. So grenzte er sich nicht nur durch das bessere Schachspiel, die höhere Fingerfertigkeit bei Peddigrohrarbeiten, die natürliche Schnüffelintelligenz beim Pilzesuchen und durch seine hervorragenden künstlerischen Malbegabungen von den Geschwistern und den anderen Kindern ab, sondern eben auch durch seine höhere Blasenintelligenz. Mausi hingegen begründete ihren Nichtaustritt in die linken weiblichen Felder mit dem Argument, welches sie aus dem Badenhoop’schen Bus durchs geöffnete Busfenster hinaus in die Oberneuländer Landschaft deklamierte: „Ich lass‘ mich doch nicht von einem amerikanisch, imperialistisch-kapitalistischen Soldaten in die Felder schicken, lieber piss‘ ich mir in die Hosen.“ Was daraufhin dann ja auch geschehen sein soll. So jedenfalls behauptete es Badenhoop später, der in seinem Bus auf dem Platz, auf dem Mausi gesessen haben soll, Urinflecken vorgefunden haben will. Die Wahrheit ist aber bis heute ungeklärt. Auf jeden Fall soll Herbert Senior wegen dieses Vorganges Monate später eine neue Manchesterhose für Badenhoop kostenlos angefertigt haben. Was aber auch bis heute unbewiesen ist.
Auf dem Musikwagen von Jonny Behrens wurden während der amerikanisch befohlenen Konvoifahrtpause Lale-Andersen-Lieder geblasen, unter anderem „Vor der Kaserne…“ und „Wo de Nordseewellen trecken an denn Strand… „ Nach zehn Minuten des Stillstandes setzte sich der Konvoi dann zur letzten Etappe wieder in Bewegung, um an der Kreuzung Rockwinkler Landstraße und Franz-Schütte-Alle links in dieselbe abzubiegen Richtung Neubaugebiet Neue Vahr. Hier waren bereits in der Ferne die Hochbauten, soweit man durch den Blätterwald der herbstlichen Baumallee hindurch blicken konnte, des Neubaugebietes zu erblicken. In Badenhoops Kinderbus war helle Aufregung. Fredi Faber, der in einem Schundheft schon einmal Comic-Zeichnungen von New York gesehen hatte, rief verzückt: „Kuck mal, Wolkenkratzers.“ Diekmann, der beim Fußball nur einen linken Fuß hatte, drehte sich weg und vergrub sein Gesicht in die hinterste Ecke des Rücksitzes und murmelte vor sich hin:“ Wie kann das nur angehen, wie kann das nur angehen…?“ Während Günter Flaig noch bewundernd vor sich hin staunend erklärte: „Ohh, das müssen mindestens 150 m hoch sein, Wahnsinn, wie komm’n die da hoch?“ erklärte Mausi den Mitreisenden in Badenhoops Bus, dass die westdeutschen und die Bremer Baukapitalisten diese Hochbauweise dem Sozialistischen Volkswohnungsbau abgeschaut hätten, und das diese Bauweise im Sozialismus längst zum Alltag gehöre. „Im Sozialismus hat jeder Anspruch auf eine menschenwürdige Wohnung. Der Mauerbau am 13.August in Berlin, der Hauptstadt der DDR, hatte auch das Ziel, die Menschen diesen Wohnungen zuzuführen und sie nicht der Kapitalistischen, angeblich gemeinnützigen, sozialen Wohnungswirtschaft im Westen auszuliefern.“ Stutzke, der angeblich beste Spieler der Schülermannschaft des TSV Gut Heil, der hinten im Badenhoop’schen Bus neben Diekmann saß, meldete sich zu Wort und hielt Mausi entgegen: „Och, hör‘ doch auf mit eure Ostzone, ihr könnt ja noch nich mal richtig Fußballspielen, sogar Stalin spielt jetzt bei uns.“
Die letzten Meter zur Neuen Heimat waren nun absehbar. Die amerikanischen und britischen Führer stoppten den Konvoi noch einmal in Höhe Achterdiekseee, der links von der Franz-Schütte-Allee, die später von Helmut Weigelt und seinen Genossen in Richard-Boljahn-Allee umgetauft werden sollte, vor sich hindämmerte, um den Einmarsch in die Neue Heimat zu ordnen. Die anglo-amerikanischen Führungsoffiziere Fellstein und Mcmullum schritten die Wagenkolonne ab, um noch letzte Anweisungen zur Regulierung der Anzüge und Uniformen zu erteilen, und um die Abstände zwischen den Konvoigefährten neu festzulegen. Sie ermahnten eindringlich alle Wagenbesatzungen, beim Einmarsch in das neue Wohngebiet der Schneiderfamilie diszipliniert auf den Wagen zu sitzen oder zu stehen, und auf jegliches öffentliches Trinkverhalten zu verzichten. Das könnten sie dann ja bei dem Rückmarsch, der ja auch noch bevorstünde, kompensieren. Jetzt, so die Führungspersönlichkeiten der Besatzungskräfte, käme es darauf an, die Flüchtlingsfamilie heil und würdevoll im neuen Domizil abzuliefern. Die Kameraden des Kyffhäuserverbandes standen stramm auf ihrem Wagen, die Barbarossafahnen in den Wind gedreht, die Frauen des Turnvereins beendeten kurzfristig ihr Kichern, die Lehrer der Volksschule bildeten einen Teamkreis durch Auflegen der Arme auf den Schultern der Kolleginnen und Kollegen
Der sozialdemokratische Wagen war inzwischen verwaist, obwohl noch von dem Trecker mit der Lenkerin Inge Duhnenkamp, seit August Bebels Zeiten in der Partei, gezogen. Die Genossen hatten sich während der langen Fahrt auf den Wagen von Bischoff, Schulz und Segelken geschlichen, wo es offensichtlich mehr Verpflegung und Getränkevorrat gab. Nun gut, die Parteiplakate flankierten den genossenleeren Wagen weiterhin, was aber auf der Franz-Schütte-Allee , die später erst nach einem berühmten Bremer korrupten Parteigenossen benannt werden sollte, keine große Bedeutung hatte. Auf dem Musikwagen von Jonny Behrens war weiterhin gute Stimmung und gute Musik. Die Führungskräfte der Besatzungsarmeeen fragten Jonny; ob er nicht im letzten Abschnitt überwiegend amerikanische und englische Weisen spielen könne. „Selbstverständlich, zu Befehl meine Herren“. In Badenhoops Schulbus wurde die Unruhe immer größer. Die Nachkriegskinder hatten zwar Respekt vor den Uniformen der Besatzungssoldaten – sie haben ja jahrelang diese dreieckigen Weißbrote der Engländer und diese zusammengeklappten Brötchen mit diesen dünnen Scheiben Fleisch dazwischen der Amerikaner in Empfang genommen – aber als kommende 68er-Generation war bei ihnen inzwischen auch der aufkeimende revolutionäre Hass gegen die englischen und amerikanischen Kapitalisten und Imperialisten spürbar. Mausi rief den Offizieren auf Russisch, was sie in Ansätzen im sozialistischen Jugendlager am Scharmützelsee gelernt hatte, zu (übersetzt): „ Cuba Libre, Venceremos“. Von ganz hinten im Bus von der letzten Bank, mann weiß nicht, ob es Stutzke oder Diekmann war, wurden sogar Zitate aus der Mao-Bibel vorgetragen: „ Gehorche dem Kommando in allem, was du tust, und: Beschädige nicht die Ackerbaukulturen!“
Vorne an der Spitze des Konvois war alles für den Einmarsch vorbereitet. Herbert Senior, der Schneidermeister und Hilda seine Frau, die Schneiderin aus Ostpreußen, saßen im Britischen Jeep und schwiegen aufgeregt, was nun wohl auf sie zukommen würde: Besonders Hilda war sehr aufgeregt, da sie die neue Wohnung vorher noch nicht gesehen hatte. Im Gegensatz zu Herbert Senior, der diesen ganzen Umzug ja neben seinen 24-Stunden-Tätigkeiten in der Bremer Industrie und auf seinem Schneidermeisterküchentisch ja auch noch so nebenbei in die Wege geleitet hatte, und der die neue Wohnung ja schon einmal in Augenschein nehmen konnte. Er ergriff im Britischen Jeep seit langer Zeit wieder einmal die Hand von Hilda, um sie mit den Worten zu beruhigen: „Nu, es wird alles schön werden. Du wirst es sehen. Für Herbertschen wird alles besser werden, er wird gesund werden.“ Herbertschen hingegen, im zweiten Britischen Jeep, hustete wie verrückt vor sich hin und sprach in den hustenfreien Momenten den schottischen Chauffeur des Besatzungsjeeps mit den englischen Worten, die er in den Rotenburger Anstalten gelernt hatte, an: „ I will spleep very well in my new Bettgestell.“ Woraufhin der Schotte zurückfragte: “Yes Sir, but please tell me, what is a Bettgestell?” Woraufhin der besagte Herbert Junior dem besagten Schotten entgegenhielt: “ I will you kill in chess!“ Der Schotte: „No sports, no chess.“ Damit war der Dialog im zweiten Britischen Besatzungsjeep vorläufig beendet. Während auf dem folgenden Fendt 1004, der von Albert dem Knecht und von seinem Beifahrer Ipa geführt wurde, und der die beiden Anhänger mit den Umzugsutensilien der Flüchtlingsfamilie beherbergte und bis hierher, bis zur Franz-Schütte-Allee, ohne Verluste transportiert hatte, die Frage gestellt wurde, wann denn nun endlich dieser Transport ein Ende finden würde. Allerdings wurde die Frage von keinem der beiden Wagenlenker artikuliert, weil der eine sowieso nie etwas sagte, und weil der andere für die Formung des Satzes sprachtechnisch mindestens 5 Minuten benötigt hätte, was konvoiökonomisch und zeitökonomisch völliger Unsinn gewesen wäre. So beschränkte sich die Kommunikation zwischen dem Knecht und dem 1.Nachkriegskind der Schneiderfamilie Herbert Senior und Hilda auf die Gestikulation von Fratzen, Handzeichen, Zungenbewegungen, Speichelauswürfen und pubertär sexistischen Bewegungen.
Nach der letzten Inspektion des gesamten Konvois vor dem Einmarsch in die Neue Heimat kehrten die amerikanischen und britischen Führungsoffiziere an die Spitze der ländlichen Karawane zurück, um mit alliiertem Hackenzusammenschlagen und links- und rechtshändigem Mehrfachhutabwinken die letzte Etappe des Umzugumzuges in Angriff zu nehmen. Der amerikanische Oberkommandierende Fellstein postierte sich auf dem Dach des Führungsjeeps mit einer amerikanischen Trillerpfeife im Maul und zwei blauen Fahnen in den Händen, um trillerpfeifend und blauefahnenschwenkend den Einmarsch in die Neue Vahr Nord zu befehlen. Jonny Behrens und seine Kameraden intonierten jetzt auf Befehl von Fellstein so gut sie konnten Glenn Miller. Es fing an mit dem Chattanooga Choo Choo und sollte enden mit When Johnny Comes Marching Home. Mit dem verabredeten Tempo von 15km durchquerte der Konvoi die Autobahnunterführung, um jetzt einen freien Blick auf die so genannte Satellitenstadt Neue Vahr zu haben. Allen Flüchtlingen und Dörflern bleib die Spucke weg – so etwas hatten sie in ihrem Leben noch nie gesehen. Links und rechts der Franz-Schütte-Alle Häuser so hoch wie Berge, ein künstlicher See und eine Fontäne, die Wasser in die Luft blies. Allerdings alles noch in einer Baulandschaft, die bestimmt war von Baufahrzeugen und Baukränen. Und die besonders bestimmt war von aufgewühlter Erde, unbefahrbarem Wiesengelände und unwirklichem Gelände. Hier nun musste der Konvoi rechts abbiegen, um die Neue Heimat der Schneider Herbert und Hilda und ihrer Familie zu erreichen. Und so wurde der Konvoi nun kurz nach der Autobahnunterführung rechts abgeleitet über feuchtes Wiesengelände, aufgewühlte Baustellen und vorbei an den Riesengeräten der Baufirmen an den Zielpunkt des Umzuges. Über die halbfertigen Straßen Julius-Bruhns und Heinrich-Schulz, alles verdiente Genossen der deutschen Sozialdemokratie, gelang der Konvoi zum endgültigen Endpunkt der Fahrt: Gustav-Radbruch–Straße, die ebenfalls nach einem verdienten Deutschen Sozialdemokraten benannt war. Unter diesen sozialdemokratischen Umständen war es dann ja auch kein Wunder, dass am Ziel des Umzugskonvois, auf dem noch völlig von den Bautätigkeiten verdreckten Vorplatz des Wolkenkratzers bei der Nummer 17, in dem die Flüchtlingsfamilie der Schneider aus Sachsen und Ostpreußen mit ihren 4 teils kranken, teils sozialistisch und teils überhaupt nicht erzogenen Flüchtlings- und Nachkriegskindern wohnen sollten, ein SPD-Stand mit SPD-Sonnenschirm und mit SPD-Tapetentisch, auf dem Propagandamaterial drapiert war für die Ankommenden, vorzufinden war. Dahinter waren die Parteigenossen Dieter Klink, Herbert Brückner und Bernhard Schmidt zu erkennen, die in blauen Anzügen und roten Krawatten das Erbe von August Bebel hochhielten, und die bei der Ankunft des Konvois in strammer Haltung mit erhobener linker Faust Spalier standen. Die ländlichen Genossen auf dem SPD-Wagen des Umzugskonvois, die leider während der Fahrt zu viel dem Bier und Korn zugesprochen hatten, bekamen die sozialdemokratische Empfangsszene leider nicht mit, da sie sich inzwischen zu einem Mittagsschläfchen auf den Boden des Parteiwagens niedergelegt hatten. Nur Albert Duhn schreckte kurz auf und rief den Bremer Genossen zu: „Es lebe die Internationale Solidarität. “ Die Kinder aus Badenhoops Schulbus, die so etwas noch nie gesehen hatten, stürmten sofort los, um das unbekannte Areal zu erkunden. Dabei landeten sie natürlich im Fahrstuhl des achtstöckigen Gebäudes, um zum Leidwesen der anderen gerade einziehenden Neumieter mehrere Stunden, bis zur Rückfahrt des Begleitkonvois, immer hoch und runter zu fahren. Auch liefen sie wie verrückt durchs achtgeschossige Treppenhaus - und riefen, und schrien, und spuckten, und rannten. Und wechselten im Hoch und Runter immer vom Treppenlaufen zum Fahrtstuhlfahren und umgekehrt, je nach dem auf welcher der acht Stockwerke der Fahrstuhl gerade anzutreffen war. Der Ingenieur Kazmann aus Berlin, der mit seiner 4köpfigen Familie – nun gut, mit seiner 5-köpfigen Familie, denn die Oma war ja auch dabei – auch gerade mit einem Umzugskonvoi aus Berlin angekommen war, rief den Kindern auf Berlinisch zu: „Verfatzda! Jeht ma aus de Oojen“. Das half aber nicht, und so rannten und fahrstuhlten die Dorfkinder weiter die 8 Stockwerke des Wolkenkratzers hoch und runter. Auch Kazmanns weiterer Ruf durchs gesamte Treppenhaus:“ Ick gloob meen Schwein pfeift“ änderte an der Tatsache der Flurbesetzung durch die dörflichen Kinder nichts. Kazmanns kleenster Sohn Peter stand neben seinem Vater und heulte, er konnte nur noch verbal herausbringen:“Basel II, Basel II, Bundesanstalt für die Bankenaufsicht.“ Sprachverkümmerung im Frühstadium eines Hochhauskindes, die sich leider, aber das konnten damals weder die amerikanischen und britischen Besatzungskräfte erahnen, in den späteren Jahren negativ zu beruflichen Ungunsten des 1. Nachkriegskindes Ipa auswirken sollte. Aber darauf kommen wir, wenn überhaupt, in anderen Zusammenhängen noch einmal zurück. Unabhängig davon war auch Carlo Meyerschmidt, der erste Oberkellner des Astorias Bremen, dem berühmten Varieté, sehr genervt über die Fahrstuhlbelagerung durch die Dorfjugend. Er musste ja immerhin seinen Umzugskrempel bis hinauf in den 8.Stock befördern, wo er zusammen mit neuer Frau und Kindern, es waren wohl 2, ein älterer Bursche und ein Baby, einen familiären Neuanfang starten wollte. Aber so hatte er sich das nicht vorgestellt. Was ihn zu dem Ausruf unten am Fahrstuhl hoch durch den gesamten Flur bis hinauf in den 8.Stock, wo er eigentlich eine Wohnung beziehen wollte, hinreißen ließ: „Verdammtes Bauernpack, könnt ihr nicht auf euren Misthaufen in euren verschissenen Dörfern spielen!“ Später dann sollte sich zwischen der Schneiderfamilie, die ja unten im Erdgeschoß links eine neue Wohnung bekam, und der Oberkellnerfamilie oben im 8.Stock eine enge nachbarschaftliche Freundschaft entwickeln.
Albert, der Knecht der von und zu Herrlichmühlen, und sein Beifahrer Ipa fuhren den Fendt 1004 mit den zwei Anhängern, auf denen der Umzugskrempel der Schneiderfamilie Herbert Senior und Hilda transportiert wurde, jetzt ganz nah an den Eingang des Wohnhochhauses Nr.17 heran, damit die Tragewege nicht zu beschwerlich wurden. Ipa saß wie Graf Koks auf dem Beifahrersitz und inspizierte die Umgebung, während die anderen mitgereisten Dorfkinder immer noch im Flur des Hauses hoch und runter tobten. Mausi in ihrer FDJ-Uniform stand geschockt vor dem neugebauten Wohnhochhaus. So etwas Modernes und baulich Großartiges hatte sie bei ihren Besichtigungen des Sozialistischen Plattenbaues in Berlin noch nie gesehen – ein Wohnhaus mit Fahrstuhl, mit großen Balkons und mit einer Müllschluckanlage auf jeder Etage. Donnerwetter, so dachte sie, um allen Anwesenden auf dem Vorplatz zur Nr. 17 doch noch zuzurufen: „Eure von den Kapitalisten geprägte Bauweise mag auf den ersten Blick dem Volke dienen, bei näherer Betrachtung jedoch werden wir feststellen, dass die Ausbeutung der Arbeiterklasse hier über den Mietpreis realisiert wird, während unsere Volksgenossen in der DDR in ihren neuen 1- oder 2- oder 3Raumwohnungen kaum Miete zu entrichten haben, weil die Sozialistische Volksgemeinschaft dafür aufkommt.“ Helmut Schlohbohm vom Kyffhäuserwagen des Konvois rief dazwischen: „ Halt doch endlich einmal die Fresse Mausi und begib‘ dich doch schon einmal in dein neues Kinderzimmer“. Herbert Junior war von der langen Fahrt sehr angestrengt, was zu erwarten gewesen war. Er konnte sich aber gleich auf sein neues blaues Auszieh-Sofa begeben, dass Herbert Senior in den Tagen vor dem Umzug im neuen Einzelzimmer von Herbert von Dodenhof hat heimlich aufstellen lassen. „Wie soll ich hier nur Pilze finden, wie soll ich hier nur malen können?“ – waren seine letzten Worte, bevor er sich auf seinem neuen blauen Sofa hustend ausruhen konnte. Hilda, die Schneiderin, begab sich in die neue Einbauküche und fragte entsetzt: „Na, wo ist denn hier der Herd, wo sind die Briketts und wo sind die Torfstücke?“ Einen eingebauten Elektroherd hatte sie bis dahin nur bei den von und zu Herrlichmühlen in der Küche gesehen. Nachdem sie auch herausgefunden hatte, dass Wasser nicht mehr von unten von der Pumpe geholt werden musste, sondern aus so einem merkwürdigen krummen Wasserhahn heraussprudelte, setzte sie im großen alten Wassertopf, der den Umzug mitgemacht hatte, Kaffeewasser auf für die Umzugshelfer, die noch den Rest der Utensilien auf den beiden Umzugswagen in die neue Wohnung tragen würden. Albert half selbstverständlich beim Hineintragen der Umzugsgüter, ebenso Stalin und Fredi Faber. Herbert Senior trug seine komplette Schneiderwerkstatt sofort in die neue Küche: den abgewetzten Tisch, das Bügeleisen, die großen Schneiderscheren, die Kreiden und Maßbänder, die diversen Nadeln und die sonstigen Handwerkszeuge, die ein Schneider so benötigt. Die Singer-Nähmaschine mit Fusspedal jedoch passte nicht in die Schneiderküche, so dass sie erst einmal ihren Platz im großen Wohnzimmer, das dann auch gleichzeitig Schlafzimmer der Eltern werden sollte, finden musste. Nachdem alles abgeladen war und irgendwie und irgendwo in der neuen 80qm großen Wohnung und auf dem 20qm großen Balkon mit Blick auf das Vahrer Fleet, auf dem Ipa, als es im Folgewinter zugefroren war, sich eine lebensbedrohliche schwere Gehirnerschütterung zuzog und 34 Tage im katholischen Krankenhaus St.Joseph neben dem Generalmusikdirektor der Bremer Philharmonie, der vom vielen Dirigieren nicht mehr konnte, ausharren und rehabilitieren musste, verteilt war, und nachdem noch die eine oder Tasse Kaffee, die Hilda tatsächlich in der neuen Küche hinbekommen hatte, getrunken wurde, ertönte außen auf dem Vorplatz zur Nr.17 das letzte Signal der Besatzungsmächte. Ein amerikanischer, farbiger Besatzungssoldat blies ins militärische Horn, was das bei Friseur Hoppe verabredete Zeichen zum Rückmarsch des Konvois war. Die britischen und die amerikanischen Besatzungskräfte verabschiedeten sich militärisch exakt von den Anwesenden und wünschten der Umzugsfamilie „ a happy time in your new castle“ und den rückfahrenden Konvoiteilnehmer „a gloppy turn to home“, was so viel heißen sollte, wie: Kommt gut nach Hause. Im losen Verbund sammelten sich jetzt die dörflichen Begleiter, um die Rückfahrt anzutreten. Auch Albert, der Knecht, war jetzt bereit zur Rückfahrt, nachdem er 5 Tassen Kaffee mit viel Milch und Zucker, so wie es von jeher bei den von und zu Herrlichmühlen üblich war, von Hilda bekommen hatte. Und nachdem alle Dörfler vor der Abreise das phänomenale neue Wasserspülklo in der neuen Wohnung der Schneider eingesaut hatten, teils im Sitzen, meistens im Stehen, und nachdem alle Nachkriegskinder aus dem Fahrstuhl und aus dem Hausflur des Hauses Nr.17 eingefangen waren, gab Jonny Behrens und sein Blasorchester das Zeichen zur Abfahrt mit der Intonation : „Muss i denn , Muss i denn zum Städele hinaus…“ Hilda, die ostpreußische Schneiderin, stand am offenen Küchenfenster und weinte und rief noch hinaus: „Eines Tages kehren wir zurück in die Heimat!“ Herbert Senior war auf den Vorplatz gegangen , um den Herren des Kyffhäuser-Bundes noch mitzuteilen, dass er in den nächsten Tagen wohl noch einmal zu Bischoff, Schulz oder Segelken zurückkehren werde, um alte Rechnungen zu kassieren und um alte Deckel zu begleichen. Herbert Junior schlief auf dem Blauen Sofa während der Abfahrt. Die anderen drei Nachkriegskinder balgten sich um die zwei restlichen Kinderzimmer in der neuen Wohnung in der Neuen Heimat. Rein mathematisch gesehen war dabei die Doppelbelegung eines der neuen Zimmer nicht zu verhindern, da Mausi sich entschieden hatte, auch im Kapitalistischen Sozialen Wohnungsbau zu verbleiben, was letztendlich dazu führte, dass sie später eine enge Freundschaft mit einem Diakon und Sozialdemokraten, also einem „Revisionistenschwein“, aus der Neuen Vahr Nord einging.
Das dritte Nachkriegskind wuchs im Block heran. Es spielte bald nicht mehr in der Sandkiste vor der Tür, sondern fand in der weiten vorstädtischen Landschaft der Neuen Heimat zusammen mit Gleichgesinnten genügend Raum zur persönlichen Entfaltung. Mausi wurde unter Anleitung ihres Führungsdiakones Führungskraft in der Bewegung „Christen für den Sozialismus“, während sich Ipa zusammen mit Peter Matthes aus der Nr. 25 jetzt dem Handballspiel beim TSV Osterholz-Tenever hingab. Dabei nahmen sie auch die Spielfeldrandbeleidigungen während des Trainings und während der Punktspiele , ausgerufen von Hermann Senkstake, dem 1.Vorsitzenden des OT, in Kauf: „ Du hast doch keine Ahnung von Handball, den hättest du reinhauen müssen, hau doch ab du Pfeife, du Versager. Oder: Was bist du doch nur für eine Krücke, du hast doch keinen Wurf, du Paddel.“Immerhin, das darf an dieser Stelle unbescheiden erwähnt, wurde der OT irgendwann in den 60erJahren mit Ipa und Matthes Bremer A-Jugend-Meister im Feldhandball. Später wandte sich Ipa dem Feldhandball wieder ab, um sich nun voll und ganz auf eine Theaterkarriere vorzubereiten. Das Aufsagen von Texten, seien es Gedichte oder Sporttabellen war ja schon immer seine Stärke – nun schloss er sich der Jungen Gemeinde der Kirchengemeinde auf der anderen Seite der Franz-Schütte-Allee an, um dort unter der Anleitung eines ehemaligen Tischlers und späteren, in den Spandauer Anstalten umgebildeten, Diakones christliches Theater zu spielen.
Herbert Junior hingegen blieb die Teilnahme am kulturellen und sozialen Leben in der Neuen Heimat Neue Vahr weitestgehend krankheitsbedingt verschlossen. Er konnte keine weiten Wege gehen, weil dann sofort Atemknappheit einsetzte. So konnte er weder in die Jugendgruppen der Kirchengemeinden mitgenommen werden, noch zum sonntagnachmittäglichen Jugendtanztee im Cafe Heinemann. Sein einziges Vergnügen außerhalb seines blauen Sofas und seiner Malarbeiten in seinem neuen Zimmer war die 1 x wöchentlich stattfindende Trainingsstunde des Schachclubs, in den ihn Herbert Senior auf dem Fahrrad mitnahm. Hier blühte er für ein bis zwei Stunden auf, auch wenn der Aufenthalt an den Schachbrettern im Schulraum in der Gartenstadt Vahr auch nicht gerade gesundheitsfördernd war, weil die Schachspieler bei den Partien rauchten wie Helmut Schmidt später als Hamburger Bürgermeister während der Flutkatastrophe. Manchmal kam auch Ritter, der 1.Vorsitzende des Schachvereins in die neue Sozialwohnung, um im Zimmer mit dem blauen Sofa mit Herbert Junior Schach zu spielen. Bei der Gelegenheit wurde dann Ritter auch schnell zu einem weiteren Familienmitglied, da er angebotenes Essen und Trinken, besonders Trinken, nicht ablehnte. Bei der Gelegenheit verkaufte er der Flüchtlingsfamilie auch gleich mehrere Versicherungen, da er ja hauptberuflich Versicherungsvertreter war. Das Leben wurde für alle Familienmitglieder wegen des Komforts der neuen Wohnung nun leichter. Badewanne, Wasserspülklo, elektrische Küche und Müllschlucker auf dem Flur brachten eine neue Lebensqualität mit sich. Nur nicht für Herbert Junior, der von Errungenschaften des sozialen, modernen Wohnungsbaus wenig hatte, da sich sein Krankheitsbild entgegen der Erwartungen der Eltern nicht verbesserte, sondern erheblich verschlechterte. So musste er wieder in mehrwöchige Kuraufenthalte an die See oder ins Hochgebirge verschickt werden, was dann auch wieder für Herbert Senior mit erheblichen Reisestrapazen und der Hergabe des gesamten Urlaubes verbunden war, was er aber klaglos hinnahm, da er tatsächlich alles für seinen kranken Sohn hergab. Die Zeit der Kuraufenthalte von Herbert Junior in den Bergen oder an den Küsten nutzten dann wie früher schon die Verwandten aus Sachsen, aus dem Ruhrgebiet und aus England, um das freie Zimmer von Herbert Junior als Besucher zu belegen. Alle waren sehr erstaunt über den modernen Standard des Sozialen Wohnungsbaues in Bremen. Besonders die englischen Tanten staunten nicht schlecht, so etwas hatten sie bis dahin im Vereinigten Königreich noch nicht gesehen: Eingebauter E-Herd, Zentralheizung, großer Balkon mit Blick ins Grüne, Fahrstuhl und Müllschlucker – „so etwas gibt es in Great Britten nich, obwohl wir den Krieg gewonnen haben“, so die eine Tante, die sich inzwischen absolut als Engländerin fühlte. Nur wenn es um die Erinnerungen an Ostpreußen ging, dann verfiel sie wieder in diesen unnachahmlichen ostpreußischen Sprachdialekt und dann wurden wieder diese altbekannten heimatverlustigen Sentimentalitäten und revanchistischen Sprüche heraus gekramt. Nach dem vierten Bärenfang wurde dann in vertrauter Flüchtlingsrunde gerne auch immer wieder das Ännchen von Tharau gesungen.
Herbert Junior verstarb mit 19 Jahren am 17.April 1963 im Krankenhaus St.Joseph-Stift. Die Ärzte erklärten den Eltern Hilda und Herbert Senior, dass er noch einen unbändigen Überlebenskampf geführt habe und noch kurz vor dem Einschlafen von Pilzen, Schach, Peddigrohr und seinen Ölgemälden gemurmelt habe, und dass ihn keiner besiegen könne.
Für alle in der Familie der Schneider brach eine Welt zusammen. Die Nachkriegskinder weinten jämmerlich um den Verlust des geliebten und manchmal nichtgeliebten Bruders. Für Hilda, die Mutter, die ihn im Kinderwagen mit übers eisige Kurische Haff bis nach Oyten gebracht hatte im Jahre 45, war die Nachricht vom Tode ihres ersten Sohnes gleichzeitig Schmerz und Befreiung. 19 Jahre lang hatte sie keine andere Aufgabe, als ein schwerkrankes Kind zu versorgen, und daneben auch noch drei weitere „Plagen“, der eine englisch krank und verhaltensgestört, die zweite leninistisch-sozialistisch, der dritte wollte den Kinderwagen nicht verlassen. Die Trauerfeier für Herbert Junior in der Großen Kapelle des Osterholzer Friedhofes war sehr ergreifend. Alle aus dem Dorf und alle aus dem Hochhaus waren gekommen, um ihm die letzte Ehre zu erweisen. Besonders betroffen zeigten sich die Blankes vom Blankehof, die Herbert Junior und seinen Eltern in den ersten Jahren nach dem Krieg Unterkunft und Versorgung gewährt hatten. Oma Blanke sprach tröstlich zu Herbert und Hilda: „ De leeve Gott is een Dübel. De Gooden nümmt he wech, de Dussels lett he loopen!“ Selbst die Herrschaften derer von und zu Herrlichmühlen und auch Kreidelutzschki ließen es sich nicht nehmen beim Abschied von Herbert Junior dabei zu sein. Albert, der Knecht, der am Eingang der Kapelle zusammen mit Stalin auf den Beginn der Trauerfeier wartete, sagte „ Er war ein guter Junge“. Während Stalin hinzufügte: „Nur schade, dass er nicht Fußballspielen konnte!“Unbemerkt vom Trauertrubel stahl sich Ipa beiseite und stieg in die Spitze eines dieser wunderbaren Eichbäume neben der Friedhoskapelle, von wo aus er in aller Ruhe ohne Selbstverletzungen und ohne Gedichteaufsagen die letzte Stunde und den letzten Weg seines verstorbenen Kriegsbruders beobachten konnte.
Herbert 15
VORLETZTE FAHRT MIT UNTERBRECHUNGEN
Der Abschied von seinem Kriegs- und Flüchtlingskind Herbert , das jetzt für mehrere Wochen im Seeheim Seeschwalbe in Utersum auf der Insel Föhr aus medizinischen Gründen verbleiben musste, fiel Herbert Senior, der das Kind seit Kriegsende ja schon zigmal in die Kur- und Heilanstalten in die Berge oder an die Küste hat verbringen müssen, dieses Mal besonders schwer, weil er irgendwie fühlte, dass es möglicherweise der letzte Abschied von seinem Kriegskind aus einer Kur- und Heilanstalt sein könnte. Die Luft, so sagte sich Herbert Senior, der sie ja selbst einige Tage hat einatmen dürfen, ist gut hier, aber bei der medizinischen Versorgung hier hinten an der Westküste der Insel habe er doch so einige Bedenken. Drei so genannte Kur-Ärzte für über zweihundertfünfzig junge Lungen-Heilpatienten, überwiegend wie Herbert Junior Kriegs- und Flüchtlingskinder , die Anfang der 40er Jahre geboren wurden in Ostpreußen, in Dresden, in Hamburg und in anderen leidgeprüften Orten und Provinzen des ehemaligen Deutschen Tausendjährigen Reiches – wie sollte das zum Heilerfolg führen? Der Schneidermeister aus Sachsen schwor seinem Flüchtlingskind, das ja inzwischen ein 16jähriger heranwachsender junger Mann war, obwohl das körperlich nicht zu vermuten gewesen wäre, ewige Sorge und Treue, und er hielt dabei die knochige schlanke langfingrige Hand seines Sohnes lange in seinen nadeldurchlöcherten und nikotindurchgelbten Schneidermeisterhänden. Der behandelnde diensthabende Arzt stand bei der Vater-Sohn-Abschied-Zeremonie derweil im Hintergrund und versprach, alles Erdenkliche dafür zu tun, dass der Patient durch die Meeresluft und durch die medizinische Intelligenz der behandelnden Lungenfachärzte gesundheitlich gestärkt nach Hause zurückkehren werde. Herbert Senior, der ja ohnehin bei jeder sentimentalen Gelegenheit den Tränen sehr nahe war, so wie sie, die Sachsen, es von ihrem sächsischen König und Herrscher, dem Schöngeist August dem Starken, übernommen hatten, konnte auch in dieser herzzerreißenden Situation den Sächsischen Tränenfluss nicht unterbinden und heulte in Anwesenheit des promovierten Lungenmediziners und seines kriegsbeschädigten Sohnes hemmungslos vor sich hin. Herbert Junior hingegen war es nicht mehr gewohnt zu weinen oder mitzuweinen. Zu häufig schon in seinen jugendlichen Jahren war er den Angriffen und Entscheidungen der Erwachsenen und der Kriegsgegner im Hinblick auf seine körperliche Unversehrtheit hilflos ausgesetzt, dass er schon gar nicht mehr bewusst wahrnahm, wer gerade in welcher Kriegs- oder Friedenssituation welche Entscheidung über ihn traf. Es war ihm mittlerweile egal, zumal er wohl auch spürte, dass sein Krieg gegen seine Krankheit und gegen seine Fremdbestimmer nun wohl langsam sich dem Ende zuneigen würde. Seinen Vater fragte er noch vor dessen Abreise aus Utersum: „ Papa, gehen wir wieder in die Pilze, wenn ich zu Hause bin, hier auf der Insel gibt es ja keine?“ „Nu, klar gehn mer in de Pilze, och spieln mer wieder Schach, diesmal werd ich wohl siechen“
Die Rückfahrt von Föhr nach Bremen verlief für Herbert Senior bis Hamburg-Altona reibungslos. Dann allerdings traten ungeahnte Reisekomplikationen auf, die eine zügige Weiterreise von Altona nach Bremen erschwerten. Dieses allerdings war geplant. Hatte er, Herbert Senior, doch bereits am dritten Tage seines Aufenthaltes auf der Insel Föhr vorausschauend an seine Ehefrau Hilda, die Herrenschneiderin aus Domnau in Ostpreußen, die ihm inzwischen 4 Kinder zur Welt gebracht hatte, wovon das eine ja gerade wieder einmal für mehrere Wochen in einer Lungenheilanstalt an der Nordsee abgeliefert wurde, eine Postkarte mit den Abbildungen von zwei niedlichen Deichschäfchen geschrieben. Wohlwissend, dass die Postkarte wahrscheinlich erst in drei bis fünf Tagen am Empfängerort ankommen würde, schrieb er: „Liebe Hilde, der Aufenthalt auf der Insel hier wird sich für mich verlängern wegen weiterer ärztlicher Besprechungen. Komme wohl erst in drei bis vier Tagen zurück. Herbertschen ist gut aufgenommen worden, er hustet weniger!“ Auch hatte er all die Tage auf der Insel das Tagegeld für die Kurverschickungsbegleitung des Versorgungsamtes, das ja in bar mitgegeben wurde, gespart und sich bis auf die einmalige üppige Fischmahlzeit in Wyk darüber hinaus nichts geleistet, da ja auch noch genügend mitgegebenes Reiseproviant aus der Heimat zur Verfügung stand und zu allem Überflusse ja auch noch die Verpflegung im Kurheim Seeschwalbe. So fanden sich auf der Rückfahrt von Niebüll nach Altona noch gut und gerne 130 Deutsche Mark des Versorgungsamtes im Portemonnaie von Herbert Senior wieder, deren Verwendung dem Amte, und das war ja die Versuchung, nicht nachgewiesen werden musste. So verdichtete sich der heimlich geschmiedete Plan des Schneidermeisters aus Sachsen, besonders auch unter diesen materiellen positiven Aspekten des Versorgungsamtsgeldes, einmal im Leben – wie sich später herausstellen sollte: zweimal – eine Nacht im Hamburger Hafen zu verbringen. Dabei gingen ihm im Zug die Schlager von Hans Albers von der Reeperbahn durch den Kopf und die Sonntagssendungen des Hafenkonzertes des Nordwestdeutschen Rundfunks, dessen Anhörung im Grünaugenradio zum allsonntäglichen Ritual gehörten, zumal er auch sonntags um spätestens 7 Uhr, egal wie kurz die Nacht bei Bischoff, Schulz oder Segelken war, auf dem Küchentisch saß, um die letzten Näh- und Bügelarbeiten an den Jagduniformen für Krohme oder an den Fracks für den 1.Violonisten der Bremer Philharmonie, Schmitz-Laubinger, der in Oyten wohnte, zu vollenden. So nahm dieser Sächsische unmoralische Plan immer mehr Gestalt an, und spätestens auf den letzten Bahnkilometern zwischen Itzehoe und Altona stand die Entscheidung des Schneidermeisters Herbert Senior fest, einen Teil seines Lebens, wenn auch nur einen kurzen, im Hamburger Hafenbereich zu verbringen. Vor der Zugankunft in Altona stärkte er sich noch einmal aus dem aus der Heimat mitgegebenen Reiseproviantkoffer und aß zwei Eier, die Hälfte der von Onkel Johann Jäger mitgegebenen Mettwurst; ein Kanten Brot stand noch zur Verfügung und die eingemachten Birnen und Zwetschgen. Herbert Senior erleichterte also seinen Proviantkoffer, mit dem er bei seinem bevorstehenden Aufenthalt in der Weltstadt Hamburg ja ohnehin hätte wenig anfangen können. Ballast abwerfen, so sagte er sich, bevor ich die große weite Welt betrete. Und zu allem Glücke für Herbert Senior fand sich in der Provianttasche, bevor sie dem ewigen Wellengang der Elbe in Richtung Cuxhaven hingegeben wurde, auch noch ein Fläschchen Hemelinger von Schulz und ein Flachmännchen der Marke Doornkaat.
Altona. Mit all’ dem Restgepäck, das dann doch noch nicht die Flussfahrt nach Cuxhaven angetreten hatte, und in dem sich dann doch noch Verpflegung für mindestens einen Tag befand, die sich neben noch unverbrauchter und bereits verbrauchter Wäsche frischhielt, und neben in Utersum während der langen Strandspaziergänge gesammeltem Strandgut wie Muscheln, Bernsteinchen, Möwenfedern und teerverschmierten Bananenschachtelchen mit der Herkunftsbezeichnung „Panama“, sowie neben kleinen Tauen und Knoten, die wohl auch einmal an die Nordfriesische Küste schwimmen wollten, fand sich Herbert Senior auf dem Bahnhof von Hamburg-Altona wieder, ohne zu wissen, wie das Leben nun die nächsten Tage weitergehen sollte. Er hoffte auf die Beibehaltung des Weltfriedens, obwohl sich die politische Lage im von den Besatzungsmächten besetzten Berlin immer weiter zuspitzte. Nun gut, so sagte er sich, soll’n se sich doch, ich bin in Altona, da kann nüscht passieren. Er hörte noch die Lautsprecherdurchsage des Altonaer Bahnhofansagers, der in völlig übersteuerter Weise in Hamburgisch-Altonaischer Mundart ins Bahnhofsmikrofon schrie: „An alle Ostzonenreisenden! Soeben haben wir erfahren, dass niemand in ihrer Besatzungszone die Absicht hat in Berlin eine Mauer zu errichten! Sie können nach Berlin und Dresden zurückreisen! “
Herbert Senior holte sich eine letzte Overstolz aus den von Herzfeld und Sonkowski mitgegebenen Fünferschachteln und stand mittenmang, wie der Hamburger sagt, zwischen seinem Reisegepäck, um erst einmal die Hamburger Luft einzuatmen, und um zu schauen, wie denn nun das Hamburger unmoralische Abenteuer seinen Anfang nehmen sollte. In dem Moment, in dem der Zug Niebüll-Köln den Bahnhof Altona wieder zu verlassen begann, und in dem Moment, in dem der filterlosrauchende Herbert sich einen Moment des Nachdenkens und der Kontemplation zugestand, stand urplötzlich eine Frau fortgeschrittenen Alters so zwischen 35 – 50 Jahren in Perlonstrümpfen mit Naht hinten und amerikanischen Hackenschuhen neben dem rauchenden Reisenden und sprach: „Na, min Jung, wo schall das denn hingehen?“ „Nu“, so Herbert –„ isch werd‘ wohl inde Heimat reisen.“ Perlonstrumpf mit Naht hinten fragte nach: „Na, min Jung, wann föhrt denn dein Zug in die Heimat?“ Herbert Senior, nach einer weiteren Overstolz, Juno oder Eckstein in seinem Gepäck kramend, sagte verlegen: „Nu, er wird wohl erst morgen fahren!“ „Aha, morgen“ so Perlonstrumpf, „und bis dahin bleibst du hier also aufn Bahnsteig steh’n?“ „Nu, was soll isch machen, ich lesch mich hier in die Bahnhofsmission!“ Perlonstrumpf mit Naht hinten lief noch rauchend dreimal den Bahnsteig hoch und runter, um beim vierten Male Herbert Senior, den Schneidermeister aus Sachsen, der gerade sein lungenkrankes Flüchtlingskind Herbert Junior zur wahrscheinlich letzten Kur nach Utersum auf der Insel Föhr begleitet hatte, und der inzwischen völlig übermüdet auf der Bahnhofswartebank dem Einschlafen nahe war, anzustupsen, um ihm das unmoralische Angebot zu machen: „Denn komm‘ man mit, ich hab` in der Großen Bergstraße, hier gleich um die Ecke, ein Sofa für dich, da kannst du dich ausruhen!“ Herbert Senior war sich unsicher, ob er das Sofaangebot der Hamburger Dame mit den Perlonstrümpfen mit der Nähten hinten und den amerikanischen Hackenschuhen annehmen sollte und sagte geschäftlich: „Nu, ich zahle ooch, ich hab‘ noch
gespoordes Versorgungsamtsgeld dabei, davon zahl‘ ich das Sofa, was soll’s denn kosten?“ Die Altonaer Frau bot nun Herbert Senior das „Du“ an und sagte mitleidig in einem Fließsatz: „Ich bin die Anneliese kann’s Du zu mir sagen komm‘ man erstmal mit wie heißt Du denn über Geld woll’n wir hier aufn Bahnhof doch nich‘ sprechen das gehört sich doch nich.“ „Nu, ich bin Schneidermeister, nun will ich hier in Hamburg eine kleine Pause machen. Herbert heiß‘ ich, der zweete Vorname ist Heinrich. Mein ältester Sohn heeßt och Herbert, ich hab’n grad nach Föhr gebracht, zur Kur, nu.“ Und so trippelte Herbert Senior mit seinem Restreisegepäck der Anneliese hinterher vom Bahnhof Altona hoch zur Großen Bergstraße Nr. 121, wo die Dame mit den Perlonstrümpfen und den Hackenschuhen eine kleine Wohnung hatte, wenn man gutwillig das schmale Appartement als solche bezeichnen möchte.
Hilda, die Schneiderin, nutzte die Tage der Abwesenheit von Herbert Senior und Herbert Junior in vollen Zügen für den Turnverein und für die Theatergruppe und für die Verwirklichung eines langgehegten Wunsches, nämlich einmal wieder zum Heimatabend der Landsmannschaft der Ostpreußen, Gau Landkreis Verden, der dieses Mal im Clubraum hinten bei Segelken stattfand, zu gehen. Die drei nichtkurverschickten „Kinderchen“ vertraute sie Sonja Sonkowski aus Ost-Berlin an, die ja unten zusammen mit ihrem Mann Fritz und 6 – 8 Kindern das Parterre in der Flüchtlingsnotunterkunft bewohnte. „Wenn se nich spuren, dann gibt’s ihnen“ – das waren die letzten Worte von Hilda der Schneiderin aus Domnau, bevor sie zum Landsmannschaftstreffen entschwand. Das ostpreußische Elchblatt prangte übergroß im Saal und eine mittelmäßige Klavierspielerin klimperte zur Heimateinstimmung auf einem ungestimmten Klavier im eichenholzfarbenen Saal von Segelken einen Melodienpottpouri bestehend aus Liedern der Deutschen Wehrmacht, sentimentalen Weisen mit viel Bernstein und viel Ostsee, sowie immer wieder durchschimmernd: Ännchen von Tharau. Ännchen von Tharau war dann auch das erste gemeinsam gesungene Lied der Versammlung, das der Gauleiter vor seiner 2stündigen revanchistischen Ansprache angestimmt hatte. Hilda, der Schneiderin flossen, wie immer bei Ännchen, die Tränen. Und wenn dann auch noch der Gauleiter in altbekannter Manier ans Pult trat ohne seine Arme zu bewegen, sondern noch kurz vor Beginn der Rede einen Bärenfang hinunterspülte, dann waren alle Schleusen, nicht nur bei Hilda der Schneiderin und Mutter von 4 Kindern, geöffnet. Und wenn dann auch noch, wie immer bei den Landsmannschaftstreffen, die Rede von der baldigen Rückkehr in die Heimat war, dann schmolz halb Ostpreußen dahin und besonders Hilda. Gerne hätte sie ihre beiden Englischen Schwestern bei dem Heimattreffen dabei gehabt. Die aber aus Englischen Gründen, die ja für die europäischen Festlandbewohner bis heute unergründlich sind, erst einen Tag später anreisen konnten, um die durch die Abwesenheit von Herbert Junior und Herbert Senior freigewordenen Schlafplätze in der Flüchtlingsnotunterkunft kurzfristig und temporär einzunehmen. Die Englischen Schwestern reisten ohne ihre walisischen und polnischen Männer an, die terminliche Verpflichtungen in Großbritannien hatten – der eine für den Walisisch-Keltischen Nationalclub in Cardiff, der andere für den Polnischen Geheimbund in London. Es hätte ja ohnehin nicht genügend Schlafplatz für die Polen und Waliser in der Flüchtlingsnotunterkunft zur Verfügung gestanden, es sei denn, sie hätten sich wieder mit Notquartieren in den bäuerlichen Anwesen in Bockhorst und bei den von und zu Herrlichmühlen zufriedengegeben. Und so hatten die drei Schwestern, nachdem sie sich ausführlich über den Heimatabend ausgetauscht hatten, gute Gelegenheit sich ohne Anwesenheit der sächsischen, polnischen und walisischen Männer zum ostpreußischen Kochen zu verabreden. Glücklicherweise passte es gut zusammen, dass während der Anwesenheit der Englischen Schwestern in der Flüchtlingsnotunterkunft auch Schlachtfest bei den von und zu Herrlichmühlen war. Es sollten geschlachtet werden: 1 Kälbchen, 1 Rind und zwei Schweine. Sie schlachteten 1x pro Jahr für den Fleischvorrat des gesamten Jahres, der dann im Gemeinschaftskühlhaus in der Dorfmittte in der Nähe der Volksschule und des Friedhofes gekühlt und eingefroren wurde. Hilda, die Schneiderin, und die Englischen Schwestern verabredeten mit der Gutserbin Tante Hanni und dem alten von und zu Herrlichmühlen, Kreidelutzschki hatte in Schlachtangelegenheiten nichts zu bestimmen, die Zubereitung von Königsberger Klopsen für alle auf dem Gut und in der Flüchtlingssiedlung, die einmal die ostpreußische Spezialität in der Originalfassung genießen wollten. Dabei schieden von vorneherein die Banater, die Schlesier, die Pommern und die Rumänen aus, die gleichlautend haben verkünden lassen: „Was der Flüchtling nicht kennt, das frisst er nicht!“ Nun gut, so blieben immerhin gut und gerne circa 25 Erwachsene und 20 – 30 Kinder übrig, die sich zum abschließenden Essen nach den Schlachtungen zum Verzehr von Königsberger Klopsen angemeldet hatten. So eine große Menge Essen für so viele Mitesser konnte selbstverständlich nicht in der beengten Flüchtlingsküche hergestellt werden, so dass die Oma der von und zu Herrlichmühlen zusammen mit Tante Hanni großzügig die bäuerliche große Küche zur Herstellung der ostpreußischen Speise zur Verfügung stellten, zumal ja auch die gesamte Hofmannschaft und die 2 Schlachter an dem Essen beteiligt werden sollten. Hilda sagte noch, dass es sehr schade sei, dass die beiden Herberts an dem Essen nicht teilnehmen könnten, da sie ja auf der Insel zu tun hätten, um dann mit Tante Hanni und dem Altbauern den Fleischbedarf für das Schlachtfestessen festzustellen. Na, so sprechen die drei ostpreußischen Schwestern, wir werden wohl benötigen für die etwa 32 Esser, na sagen wir: 2 kg Rinderhack, 2 kg Kalbshack, dazu 16 alte Brötchen von gestern, 16 Zwiebeln, 16 Anchovis, na dann noch Eier, Salz und Pfeffer, Gewürzkörner, Lorbeerblätter, Brühwürfel, Mehl, Saure Sahne , Weißwein wenn ihr habt, Kapern, Zitronen – na ja, und als Beilage natürlich jede Menge Kartoffeln, aber die habt ihr ja mehr als Kleingeld! Und so nahm das zweitägige Schlachtfest seinen Lauf. Am ersten Tag wurden die ausgewählten Tiere von zwei rustikalen Burschen, die die Ärmel ihrer weißen Hemden aufgekrempelt hatten und die weiße Gummischürzen trugen, vom Leben in den Tod befördert , in zwei Hälften gesägt und auf Leitern zum Ausbluten aufgehängt. Bei den Schlachtvorgängen floss nicht nur reichlich Blut, dass teilweise von Hilfskräften mit bloßen Armen in Eimern auch gerührt wurden, damit es am nächsten Tag zu Blutwurst verarbeitet werden konnte, nein – es floss auch reichlich Bier und Korn, wie es sich gehörte. Es kann davon ausgegangen werden, dass pro rustikalem Schlachter mindestens eine Flasche Korn hat daran glauben müssen, wenn nicht zwei, sowie mindestens 10 – 20 Flaschen Hemelinger. Natürlich tranken die Schlachter nicht alleine. Alle umstehenden erwachsenen Zeugen und Hilfskräfte beteiligten sich wie immer zu diesem Anlass gerne an der Vernichtung der Freigetränke. Der Malermeister Hannes Strotmann hatte für die Schlachttage extra allen Kunden abgesagt, Pastor Janßen blieb den ganzen Tag, um seinen Segen zu hinterlassen; Max Herzfeld war eifrig beim Blutrühren dabei, auch Pachmann und Schmolke hatten sich in der Volksschule abgemeldet und Dr.Spanner kam mit dem Fahrrad angeradelt, da er ja die Praxis am Schlachttag, einem Mittwoch, überwiegend geschlossen halten konnte. So standen gut 8 – 13 mittrinkende Zuschauer um die Schlachter herum, die mit zunehmendem Schlachtverlauf immer wackeliger auf den Beinen wurden. Am liebsten hätten sie sich wohl zum Schluss des ersten Tages selbst an die Leitern zum Ausruhen gebunden, wenn dieses nicht für die geschlachteten und aufgespaltenen Tierkadaver vorgesehen gewesen wäre. Auch wäre es für den Tierveterinär sicherlich nicht erfreulich gewesen, die Schlachter an den Leitern vorzufinden, zumal sein Auftrag die Unbedenklichkeitsprüfung des geschlachteten Fleisches war und nicht die Blutalkoholmessung bei den Schlachtern. Darüber hinaus konnte nicht übersehen werden, dass der Veterinär, der an dem Tag schon einige Fleischbeschauungen hinter sich hatte, wohl bei den vorhergegangenen Prüfungen auch hat das eine und andere Gläschen mittrinken müssen. Zum Abschluss seiner Fleischprüfvorgänge, inzwischen hatte ihm der alte von und zu Herrlichmühlen auch drei Alte Senatoren eingeschenkt, drückte der Doktor den geöffneten Tierlaiben, Kalb, Rind, Schwein, schöne blaue Stempel auf die Schinken und Rippchen.
Am zweiten Schlachttag war es dann soweit für die drei Schwestern aus Ostpreußen, wobei zwei extra aus dem Vereinigten Königreich angereist waren. Nicht etwa, um den Britannischen Besatzungskräften in Niedersachsen einen Besuch abzustatten und eine Ehrenformation der Royal Armee abzuschreiten. Nein, der Zweck der Kanalüberfahrt war einzig und allein die soziale Kontrolle der Schwester in der Flüchtlingsnotunterkunft und die geschwisterliche Beteiligung an der Herstellung eines Königsbergerklopsessens im Rahmen des Schlachtfestes auf dem Gelände der von und zu Herrlichmühlen, an dem etwa 30 bis 40 Personen beteiligt sein sollten. So wurde dann der Gutshof mit allen zur Verfügung stehenden Tischen und Stühlen ausgestattet, die Frauen und die Omas holten die besten gebügelten Tischtücher aus den Kommoden, Teller, Bestecke und Sonntagsservietten wurden von der Oma derer von zu Herrlichmühlen großzügigerweise aus dem Sonntagsstubenschrank zur Verfügung gestellt mit dem Hinweis oder der Bitte an die anwesenden Frauen der Königsbergerklopsgesellschaft: „Nau dat Eeten möht schi aubers mithölpen inne Köck bin Abwasch“. Währenddessen standen die Schlachter am zweiten Tage des Schlachtfestes vor den Bottichen und Kesseln der Waschküche, in denen sonst, meistens freitags, normalerweise die Kinder und die Wäsche gewaschen und gebadet wurden, um Mett, Knipp, Pinkel, Blutwurst und Leberwurst herzustellen. Die große Bratenstücke waren ja bereits abgeteilt worden und ins Kühlhaus gebracht worden. Aus den Pfoten, den Ohren, und den sonstigen Weichteilen der geschlachteten Tiere, unter anderem den Hoden, den Schwänzen und den Innereien, stellten sie in der Waschküche herrliche Sülzen und Eingemachtes in Weckgläsern her. Die Schinken wurden abgeteilt und sofort in den Rauchfang in der Diele gehängt, wo sie wohl die nächsten 10 Jahre nach der Aufhängung werden hängen geblieben bleiben sollen, wenn nicht irgendwelche Schinkendiebe sie vorzeitig aus dem Kuh- und Pferdemief und dem ewigen Buchenholzrauch der Diele befreien würden.
Die drei ostpreußischen Schwestern jedenfalls, wovon ja zwei extra aus Großbritannien angereist kamen, .sicherten sich bei den Schlachtern in der Waschküche die nötige Menge Kalbs- und Rinderhack, ca. 4 kg insgesamt, um mit der Zubereitung der Königsbergerklopsmahlzeit für die gesamte Siedlung, außer den Zugewanderten aus der „Walachei“, wie abfällig immer gesagt wurde von den Siedlungsbewohnern, die nicht aus der „Walachei“ waren, in der großherrschaftlichen Küche der Oma der von und zu Herrlichmühlen, die den drei Schwestern hilfreich zur Hand ging, zu beginnen. Derweil die Oma Herrlichmühlen sich bereiterklärte für 30 bis 40 Personen die Kartoffeln zu schälen, die als Beilage zu den Klopsen gereicht werden sollten, begannen die Ostpreußischen Schwestern, allen voran Hilda, die Schneiderin und Mutter von 4 Kindern, unter Assistenz der jüngsten und der ältesten ihrer Geschwister aus England – es gab ja noch weitere 5 in Westfalen, die leider aus Platzgründen an dem Fest und an dem Kochen der Klopse nicht haben teilnehmen können- mit der systematischen Zubereitung der Klopse, so wie sie im Buche steht: 16 alte Brötchen einweichen, ausdrücken, Zwiebeln schälen und hacken, Anchovis hacken, Zwiebeln in Butter dünsten, das Hackfleisch mischen mit den Brötchen, mit den Zwiebeln, den gehackten Anchovis und mit 8 Eiern vermischen , um aus der Masse etwa 160 kleine Königsberger Klöpschen zu formen, damit auch alle unten auf dem Hofe etwas abbekommen würden – wobei auch ins Kalkül gezogen wurde von den kochenden Schwestern, dass solche Vielfresser wie Ipa, das erste Nachkriegskind der Schneider, und Fredi, der Sohn des Spargeldiebes, mindestens 10 – 15 von den Ostpreußischen Bällchen verdrücken würden, während viele der Niedersächsische Einheimischen, die mit an der Tafel sitzen würden, wohl eher „eine Fresse ziehen werden“, wie Hilda immer zu sagen pflegte, weil ihnen in den Ostpreußischen Bällchen einerseits das fette Schweinemett fehlte, und weil sie andererseits mit der Größe der sonst ortsüblichen Frikadellen, die mindestens einen 4fachen Umfang gegenüber den Königsbergern hatten, nichts anfangen konnten. Nun gut, es war ja noch nicht fertig. Jetzt musste ein riesiger Topf, in dem gestern am ersten Schlachttag noch Blut gerührt wurde, mit 8 Litern Wassern auf die größte Platte des Torfofens gestellt werden, um es zusammen mit reichlich Gewürzkörner, Lorbeerblättern und Brühwürfeln zum Kochen zu bringen und um es dann etwa 10 bis 14 Minuten weiterköcheln zu lassen. Dann erst kam für Ostpreußen der entscheidende Moment: Über 150 Königsberger Klopse in diesem köchelnden Bad so zu versenken, dass alle ihre runde Konsistenz behielten und nicht wie bei einem Fliegerangriff der Roten Armee auf einen Flüchtlingstreck im Kurischen Haff auseinanderfielen. Der Topf der Oma Herrlichmühlen war groß genug un die Hitze der Brühe war ausreichend, um alle Ostpreußischen Bällchen aufzunehmen und 10 bis 15 Minuten vor sich hin köcheln zu lassen. Es wurde noch Torf nachgeworfen, und die Ofenplatte glühte.
Die Soße ging den Schwestern glatt von der Hand. Als hätten sie seit der Vertreibung 45 nichts anderes gemacht als die Herstellung der Könisbergerklopssoße, ließen sie Butter in einem weiteren großen Topf der Oma Herrlichmühlen schmelzen, um Mehl hinzuzufügen, um eine Mehlschwitze zuzubereiten, und um diese dann mit durchgesiebter Fleischbrühe, saurer Sahne und Weißwein – der von Schulz extra besorgt werden musste, es war Kröver Nachtarsch lieblich – aufzufüllen, aufzukochen und eindicken zu lassen. Vor Beendigung der Königsberger Kochvorgänge griff die Oma Herrlichmühlen in einen Geheimschrank, um eine Flasche selbsthergestellten Eierlikörs hervorzuzaubern, und um den drei ostpreußischen Köchinnen auf Hochdeutsch zu sagen:“Das habt ihr gut gemacht meine Damen, lasst uns anstoßen auf die Niedersächsisch-Ostpreußische Küchenfreundschaft.“ Dann wurden noch Kapern und Zitronensaft in die Soße eingerührt – und ganz zum Schluss wurde wie immer in Ostpreußen mit Wasser verquirltes Eigelb durch die Soße gezogen, damit alles so schön nach Bernstein aussah.
Die dampfenden mit feiner Petersilie bestreuten Kartoffel und die ebenso dampfenden Klopse in der herrlichen hellen Soße mit Eigelb und Kapern wurden in vornehmen Schüsseln aus dem Feiertagsbestand der Oma von und zu Herrlichmühlen auf die verschiedenen Tische gebracht, an denen die hungrigen Mäuler der Siedlung und des Landwirtschaftlichen Gutes Platz genommen hatten. Hilda und ihre Schwestern gingen herum und verteilten die Klopse mit der Soße gerecht auf alle Teller. Die beiden Schlachter, die aus der dampfenden Hitze der Waschküche, die in diesem Falle ja zur Wurstküche umgewidmet war, direkt an die Festtische schlurften, bekamen einen Extraschlag Klopse aufgelöffelt mit dem Hinweis von Hilda: „Esst die Klopse mit Genuss, das ist kein Knipp und auch kein Pinkel nich!“ Und so mampfte die gesamte Siedlung, außer denen aus der „Walachei“, das Ostpreußische Nationalessen in sich hinein. Es wurden die Kartoffeln solange in der Soße zermanscht und zerdrückt bis Brei entstand. Einige der Tischgäste, besonders taten sich hier die älteren Jungs hervor, steckten sich die Klöpschen in voller Größe in den Mund. Sie bekamen Maulsperre und dicke Backen und waren auch noch stolz darauf, den anderen Festgästen zeigen zu können, was für Königsberger Klopshelden sie doch sind. Die anderen, auch die Schlachter, die Handwerker und die Volksschullehrer aßen gesittet, sie zerteilten die Klöpschen in vier bis sechs kleine Stückchen, um sie mit der Kapernsoße zu beglücken und Petersilienkartoffel dazu zunehmen. Der alte von und zu Herrlichmühlen lobte den Geschmack der Bällchen, indem er ausrief:“Wunnerbor düsse Mischung ut Helga un Herta, dat smeckt mi good!“ „Na, wie meinst du das, Bauer?“ fragte die ältere der Englischen Schwestern zurück. Jetzt bemühte sich der Altbauer auf seine bekannte anzügliche, manchmal sogar total versaute chauvinistische und frauenverachtende Art, auf Hochdeutsch noch einen drauf zusetzen:“ Du weißt ja liebes englisches Frollein, wie sehr ich die Frauen liebe. Herta war meine geliebte alte Kuh und Helga war mein geliebtes süßes Kälbchen. Heute nun musste ich mich nun leider von beiden verabschieden, sie wollten lieber Königsberger Klopse sein!“ Alle auf dem Hof bogen sich vor Lachen, selbst die Balken und die Tischbeine bogen sich. So war es ein heiteres Gemeinschaftsessen, an dessen Ende der Vielfraß Ipa, das erste Nachkriegskind der Schneider Herbert und Hilda, und der der Englischen Krankheit ausgesetzt war und darüber hinaus auch noch verhaltensgestört und sprachbehindert war, sich rühmte , wohl die meisten Klopse verdrückt zu haben. Dabei geschah natürlich das , was bei Elf wohl nicht eingetreten wäre, nämlich dass die Zwölf nicht so recht über die Lippen von Ipa rollen wollten, weil hier ja im Gegensatz zur Elf bei der Zwölf gleich am Anfang des Wortes zwei Konsonanten aufeinanderprallten, das Z und das W, deren gemeinsame Aussprache selbst für Sprachbegabte schon eine hohe Leistung war. So beschränkte sich Ipa darauf, nach anfänglichen Versuchen mit der Zw, mit der Zw, mit der Zw, auf weitere mündliche Triumphvorträge zu verzichten, um stattdessen zum Erstaunen aller Festesser wieselflink in seine Kastanienbaumkrone zu klettern mit dem Ziel, von dort oben ein selbstgedichtetes kurzes Gedicht mit Hinweis auf die 12 Königsberger Klopse für alle unten vorzutragen. Und so deklamierte er gut betont und sprachtechnisch einwandfrei voller Stolz einen heimlich gereimten Reim zum Thema 12 hinunter zur versammelten Siedlungsgemeinschaft: „ Da sprach die Dönhoff zu dem Kant: waren einst der Königsberger Klopse ölf, kam einer noch hinzu, da waren’s zwölf!“ Sofort brandete von unten von der Klopsversammlung spontaner Beifall auf, wobei Hannes Strotmann nicht umhin kam zu fragen, wer denn die beiden in dem Gedicht erwähnten Dönhoff und Kant seien. Woraufhin Max Herzfeld nicht anders konnte als dem Malermeister zu erklären, dass Erich Kant aus Königsberg doch den kappagonischen Parativ, so eine Art Kopfmessgerät, erfunden habe, und dass doch die Gräfin Dönhoff direkt in einem Tagesritt auf einem Trakhener von Königsberg bis Hamburg geritten sei, um dort eine Zeitung zu gründen, die ein normaler und vernünftiger Mensch mit kurzen Armen in der Eisenbahn oder in der Bremer Straßenbahn nicht lesen könne. Ach zo, sagte Hannes Strotmann noch, er lese keine Zeitung, noch nicht einmal Kreisblatt. „Da steht ja sowieso nur was vonne Bauern und vonne Turnvereine drinne, interessiert mich nich. Und wenn ich mit mein‘ Motorrad mal in‘n Straßengraben lieg‘, dann schreib’n se was, aber sonst!“
Mausi saß während des Festessens zwischen ihren beiden Englischen Tanten, die darum gebeten hatten, ihre einzige Nichte aus der Flüchtlingssiedlung doch in ihre Mitte nehmen zu dürfen. Sie musste auch darauf verzichten in FDJ-Uniform an der Tafel zu erscheinen, da die Tanten ihr erklärten, dass im Vereinigten Königreich bei ähnlichen Anlässen ausschließlich die Königin selbst und der Prinz Philip, der Duke of Edinburgh, in militärischer oder paramilitärischer Kluft erscheinen dürfen, alle anderen müssten in ordentlicher ziviler englischer Kleidung erscheinen. Nun gut, sie hat sich der englisch-imperialistischen Kleiderordnung gefügt, rührte aber von dem Königsberger Essen nichts an, da sie sich eine kurze Ansprache, die sie bei Gelegenheit, wenn einmal Ruhe an der Tafel eintreten sollte, vorgenommen hatte. Und als nach dem abschließenden von Tante Hanni derer von und zu Herrlichmühlen eingeleiteten Dankesgebet ein Moment der Stille und der gesättigten Ruhe eintrat, ergriff Mausi die Gelegenheit, ihr Vorhaben zu verwirklichen. Ohne auf ein weiteres Halleluja der Betenden zu warten, trug sie in freier Rede vor: „Diese revanchistischen Kochrituale schaden der Völkerverständigung und dem Bemühen um eine deutsch-polnische und deutsch-sowjetische Verständigung. Es wäre mindestens zu erwarten gewesen, dass neben den Königsberger Klopsen auch wenigstens eine russische Borschtsch-Suppe und polnische Piroggen mit auf den Tisch gekommen wären – aber nein, ihr Westdeutschen, ihr Niedersachen und auch ihr Engländer, habt offensichtlich kein Interesse an einer Völkerverständigung, sondern nur daran, in imperialistischer Weise die kriegsbedingt verlorenen Ostgebiete zurückzuerobern. Aus diesem Grunde konnte ich an dem Verzehr der revanchistischen Klopse nicht teilnehmen und ich bitte euch mit euren blöden Bemerkungen über den Staatsratsvorsitzenden der Deutschen Demokratischen Republik, den verdienten Genossen und antifaschistischen spanischen Widerstandskämpfer Walter Ulbricht, endlich aufzuhören. Ich hab‘ genau beobachtet, wie ihr hier am Tisch euch lustig gemacht habt über Männer mit Spitzbärten und hohen sächsischen Stimmen. Ich kann euch nur sagen, dass selbst mein Vater Sachse ist, und dass niemand in der DDR die Absicht hat in Berlin eine Mauer zu errichten. Merkt euch das!“
Nach ihrer Rede wurde die Frage für alle in der Britischen Besatzungszone immer relevanter, ob es nicht sinnvoll sei, Mausi für immer in die Sowjetische Besatzungszone abzugeben, da sie ja ohnehin für die Demokratisierungsprozesse in den Westzonen der neuen Bundesrepublik von keinerlei Nutzen sei, da sie sich ja beispielsweise noch nicht einmal an einem Königsberger-Klopse-Essen bei einem Hoffest, zu dem extra Englische Tanten angereist waren, beteiligen wollte. Könne sie nicht wenigstens bis zur Mittleren Reife oder bis zur späteren Wiedervereinigung Deutschlands in der Ostzone bleiben, so wurde gefragt.
Nun gut, diese Frage konnte ebenso wenig ohne die Meinung des Vaters, des Schneidermeisters Herbert Senior, beantwortet werden, wie auch die Frage, ob es nicht langsam an der Zeit sei, den körperverbogenen und verhaltensgestörten so genannten Ipa, das 1.Nachkriegskind der Schneider Herbert und Hilda, logopädisch und psychotherapeutisch behandeln zu lassen in Ellen, der Nervenanstalt von Bremen.
Herbert Senior war in der Zwischenzeit, nachdem die Englischen Schwestern wieder abgereist waren ins Ruhrgebiet, wo sie noch die Mutter und die übrigen Verwandten vor ihrer Rückkehr in das Commonwealth besuchen wollten, aus Hamburg-Altona ins Flüchtlingsheim zurückgekehrt. Selbstverständlich wurde nicht über den Abstecher in die Große Bergstraße 121 in Hamburg-Altona gesprochen, so dass bis heute ungeklärt bleiben muss, was da in dem zweitägigen Wohnverhältnis in Altona alles passiert ist. Fest steht, dass Herbert Senior erklärte, dass er all‘ sein Versorgungsamtgeld auf der Insel Föhr habe hingeben müssen, da sich sein Aufenthalt dort ja wegen der schwerwiegenden gesundheitlichen Probleme seines Sohnes Herbert Junior und den notwendigen Gesprächen mit den behandelnden Kurärzten, die seiner Ansicht nach, wie er betonte, eher als Kurpfuscher als Kurärzte zu bezeichnen seien, habe verlängern müssen. So komme er mit leerem Geldbeutel zurück von der Inselfahrt und müsse sofort noch einmal los ins Dorf, um ausstehende Schulden für seine Schneiderarbeiten der vergangenen Monate einzutreiben. Nun gut, dass dieses Geldeintreibungsverfahren des Schneidermeisters letztendlich am Tresen von Bischoff, Schulz und Segelken enden würde, liegt ja auf der Hand – aber, dass er dabei auch erfolgreich, ohne weitere Striche auf dem Deckel anschreiben zu müssen, zu Geld kam, war eigentlich nicht zu erwarten. Hier nun jedoch gab es ein unerwartetes Treffen mit Krohme am Tresen bei Bischoff. Krohme war bester Stimmung und tönte wie ein blechernes verstimmtes Jagdhorn in die Gastwirtschaft, wie er heute in Bremen das Astoria beschissen habe mit kostbarem Wildschweinfleisch, von ihm selbst geschossen und zerlegt, das in Wirklichkeit aus seinem hauseigenen Schweinestall und seiner hauseigenen Schweineschlachtung stamme. „Die blöden Bremer glauben ja alles, und sie haben auch noch bar bezahlt, hier sind die Scheine. Hier Herbert, deine 120 Mark für den schönen Jägeranzug !“ So war nicht nur die Familienversorgung für die nächste Woche gesichert, sondern auf jeden Fall auch Herberts persönliche Versorgung mit filterlosen Zigaretten und den frisch gezapften kühlen Getränken an den Tresen von Bischoff, Schulz und Segelken. Auch lud Herbert Senior, der immer noch hinter dem Berg hielt, was in Hamburg-Altona in der Großen Bergstraße 121 passierte, am folgenden Sonntag nach der Schuldenbegleichung von Krohme seine restlichen Nachkriegskinder, die gerade einmal nicht in den Baumkronen saßen, und die gerade einmal nicht im Lager der Jungen Pioniere in der Ostzone weilten, und die gerade einmal nicht im Kinderwagen saßen und plärrten, auf sein Fahrrad, mit dem er am Montag wieder zur Schicht nach Sebaldsbrück radeln musste. So lud er, nachdem Badesachen und Picknickverpflegung von Hilda, der Mutter und Schneiderin, in eine alte Flüchtlingstrecktasche gepackt wurde, das Kinderwagenkind auf den Lenker vorne, die Junge Pionierin auf die Herrenradstange und den verhaltensgestörten Ipa hinten auf den Gepäckträger – damit er vorne keinen Mist bauen konnte – auf das Fahrrad zur Sonntagsbadefahrt an den Wermeistersee in der Nähe von Ottersberg, Wümmingen, circa 8 – 10 km vom Flüchtlingsheim entfernt. Die Flüchtlingstrecktasche musste Ipa hinten auf dem Gepäckträger zwischen dem Rad fahrenden Rücken des Vaters und seiner verbogenen, durch die Englische Krankheit verunzierten Brust halten, was über die lange Strecke sehr beschwerlich für ihn war, so dass die Hinfahrt 6x unterbrochen werden musste, da Ipa die Tasche nicht mehr halten konnte und alles samt ihm selbst vom Gepäckträger in den Straßengraben direkt neben dem Padweg rutschte Herbert Senior blieb bei allen Verunglückungen auf der Hinfahrt erstaunlich gelassen, zumal er ja auch die Gelegenheit hatte, die Fahrtunterbrechungen für das Rauchen seiner filterlosen Zigaretten zu nutzen.
Nach Ottersberg Bahnhof noch gut 1 km Richtung Posthausen, dann links ab über die Waldwege und die Wümmetalbrücken zum Wermeister See, so wie er hier von Einheimischen genannt wurde, in Wahrheit aber bis heute der so genannte Grundbergsee ist.
In Wahrheit auch ein einfaches Baggerloch, von Dünen und Kiefernwäldern umgeben, aus dem die Nationalsozialisten für den Bau der Autobahn 1 Sand herausgeholt hatten. Hier also, an diesem Nazisee, verbrachten die Einheimischen und auch die Zugewanderten gerne ihre Freizeit, um Schwimmen zu lernen, im Sand zu liegen, sich der Sonne hinzugeben und am Kiosk Süßigkeiten und Bockwürste abzuholen. Selbst betuchte Bremer steuerten dieses Freizeitparadies an, da es für sie ja in ihren Borgwards, Lloyds und VW-Käfern über die Autobahn 1 von Bremen aus gut zu erreichen war. Die Bremer allerdings, so muss es ehrlicherweise berichtet werden, mischten sich nicht gerne mit der einheimischen Landbevölkerung an den Stränden des Wermeistersees, so dass es zu der Nachkriegssituation kam, dass die Sanddünenstrände auf der einen Seite des Sees von den Bauern, Arbeitern und Flüchtlingen des Landkreises belegt waren, während die Plätze auf der anderen Seite des Sees eher von den Herrschaften aus Bremen eingenommen wurden und mit diesen speckähnlichen rot-weißen Bremer Fähnchen bestückt wurden. Herbert Senior kommentierte diesen Anblick immer, wenn er mit den Kindern wieder einmal hier war, mit sächsischem Sarkasmus: „Nu, gugge mal de Bremer, keen Pfennig uff de Kande, ooaber hier am Baggerloch den stooarken August machen, nu!“ Und dann wurde aus der Flüchtlingstrecktasche die dünne Wolldecke herausgeholt und die Badehosen, das Handtuch für alle und der von Hilda herrlich zubereitete Kartoffelsalat und die ebenso von Hilda zubereiteten kleinen Klopse aus Schweinefleisch. Auch hatte sie kleine Tellerchen beigepackt und kleine Gabeln, sowie Senf und Sonnencreme. „Reib die Kinderchen ein, bevor se ins Wasser jehen“, rief sie Herbert Senior noch nach, bevor er mit seiner Nachkriegskinderfuhre gen Ottersberg von dannen fuhr. Mausi bewegte sich in dem mulligen Wasser des Sees wie Rosa Luxemburg kurz vor ihrem Untergang im Landwehrkanal, immer den Kopf über Wasser haltend und nach Freiheit schnappend – so wie sie es im Lager der Jungen Pioniere am und im Scharmützelsee in den langen Jahren ihrer sozialistischen Sozialisation gelernt hatte. Während Ipa überhaupt kein Verhältnis zum Wasser des Sees fand und ständig angstbesessen zum Vater am Strand herüberrief: „Bbbblaue Lippen, bbbbblllaue Lllllippen“, - was so viel bedeuten sollte wie: Holt mich hier raus, ich will nicht schwimmen. Jedes Mal, wenn er keinen Grund mehr unter den Füßen im Wasser spürte, schrie er für alle am See lagernden Badegäste, auch für die Bremer, erbärmlich hörbar: „Hilfe, Hilfe, ich sauf‘ ab!“ Und schon war er wieder draußen aus dem Wasser, um noch einen Klops zu essen, und um im Dünengebiet herumzutollen, um auf die Bäume zu steigen, und um aus der Distanz zu beobachten wie die feinen Bremer Damen auf der anderen Seite des Sees sich der Sonne hingaben und wie sie hin und wieder mit den Füßen wie Jesus und Maria das Wasser berührten. Auch sah er junge Bremer Männer mit Bill-Halley-Frisuren, die mit freien Oberkörpern vor den Damen am Bremer Strand hin und her posierten!
So hatten alle vier mit dem Fahrrad angereisten Badegäste aus der Flüchtlingssiedlung irgendwie ihr Vergnügen am Wehrmeistersee, später Grundbergsee genannt. Herbert Senior lag entspannt im Dünensand auf der kleinen Decke, die Hilda mitgegeben hatte, und rauchte filterlos eine Juno nach der anderen Eckstein, um dabei sein 3. Nachkriegskind, das inzwischen dem Kinderwagen entsprungen war und nunmehr am Ufer des Badesees mit Schaufel und Förmchen kleine Sandburgen zu bauen, zu beobachten und zu reglementieren. Wenn das 3.Nachkriegskind zu weit ins Wasser5 lief, dann erschallte es, zumindest für den Nichtbremer Badebereich, sächsisch laut über den gesamten Strandbereich: „ Kleener, isch hab’s dir gesooagt, du säufst mir noch ab, nu! Komm‘ raus zum Vooater und mach‘ keen Quatsch, nu!“ Währenddessen Ipa sich aus den Baumspitzen der Kiefern und Tannen den Beobachtungen der Bremer Damen in ihren eleganten Badeanzügen auf der Bremer Seite des Sees hingab, wurde Mausi, das 2.Nachkriegskind der Schneider Herbert und Hilda, das seine frühkindliche Sozialisation ja überwiegend in der Sowjetischen Besatzungszone, auch Ostzone genannt, und später DDR, absolviert hatte, von einem größeren blonden Mädchen am Strand des Wehrmeistersees angesprochen, ob sie sich nicht vom Scharmützelsee in der Deutschen Demokratischen Republik her kennen würden, und ob sie nicht gemeinsam in einer paramilitärischen Gruppe zur Bekämpfung des westlichen Imperialismus eingesetzt sind. „Bist du etwa auch 2.Widerstandsbataillon, Hauptmann Donner?“ „Ja, klar, in welchem Haus bist du denn? “ “14!“ „Ach, Mist, ich bin 3!“ „Wie heißt du denn?“ „Mausi!“ „Nein. So heiß‘ ich auch, Mausi Spielka“! Und so fanden sich am Strand des Autobahnsees an der A1, die noch von den Nationalsozialisten unter der Hinnahme von vielen Opfern gebaut wurde, zwei junge Pionierinnen des aufstrebenden Sozialismus zusammen, um sich zu verabreden, in Kürze in Bremen und in Westdeutschland eine Schwesterpartei der Deutschen Sozialistischen Einheitspartei zu gründen, damit der Weltfriede auch endlich am Wehrmeistersee ankommen würde. Ipa, das 1. Nachkriegskind, rutschte inzwischen die Bäume herunter und mehrmals wieder hinauf und herunter, um sich nicht nur einmal den herrlichen Gefühlen des Reibens an den äußeren Geschlechtsmerkmalen hinzugeben. So endete der Badeaufenthalt am Wehrmeistersee für alle Flüchtlinge äußerst befriedigend, und nun ging es zurück auf die circa 8 – 10 km lange Fahrradstrecke, die allerdings, wie nicht anders zu erwarten, nach dem Erklimmen des Ottersberger Berges hoch nach Brillkamp und Egypten endete, weil einerseits ein Reifen geplatzt war, und weil andererseits die Gelegenheit günstig war, da der Reifenunfall sich direkt vor der Gaststätte Barning abspielte. Herbert Senior schickte seine drei Nachkriegskinder schon einmal zu Fuß los mit dem Hinweis: „ Lauft nisch auf de Straße und sagt der Mutter, dass ich bald komme!“ So vergingen wieder zwei Tage, nachdem die Kinder nach 2stündigem Fußmarsch im Flüchtlingsheim ankamen, bis Herbert Senior ohne das defekte Fahrrad aus Brillkamp unten in der Siedlung ankam. Dabei hatte er natürlich noch unüberwindliche Hindernisse wie Segelken, Schulz und Bischoff zu überwinden!
Nach tagelangem bangen Warten kam dann endlich der erdsehnte erste Brief von der medizinischen Leitung der Kuranstalt Seeschwalbe, der unverblümt für die Eltern zum Ausdruck brachte, dass das Flüchtlingskind Herbert Junior so schwer an der Lunge erkrankt sei, so dass weitere Luftkurmaßnahmen erforderlich seien, um den Zustand wenigstens zu lindern, wenn auch keine dauerhafte Heilung in Aussicht gestellt werden könne. Ja, diese Texte kannten Herbert Senior und Hilda, seine Frau, bereits aus früheren Schreiben der Anstalten in Rotenburg, in Bad Reichenhall, in Radevormwald, in Borkum, in Westerland, in Berchtesgaden und in St.Moritz. Und, so hieß es dann im Schreiben von der Insel Föhr weiter, wo Herbert Senior ja sein letztes Versorgungsamtgeld auf den Kopf gehauen hatte, es seien mindestens 10 weitere Wochen Kuraufenthalt für Herbert Junior im Seeheim Seeschwalbe notwendig, um ihn einigermaßen wieder zu stabilisieren.
Noch vor dem Bau der Berliner Mauer am 13.August 1961 überschlugen sich die Ereignisse in der Niedersächsischen Bauern- und Flüchtlingsprovinz in der Britischen Besatzungszone
Während Herbert Junior sich in Utersum auf der Insel Föhr seinen vorerst letzten gesundheitlichen Rehabilitationsversuchen hingeben musste durch stundenlanges Liegen im blau-weiß-gestreiften Liegestuhl bei auflaufendem Wasser direkt an der Brandungskante, und durch ebenso stundenlanges Inhalieren von Ozon und Sauerstoff in der Inhalierhalle des Klinikums und durch die mehrmals am Tag stattfindende Einnahme von giftigen Cortisonpräparaten, wurde seine Couch im Flüchtlingsheim mehrfach wechselnd von verwandtschaftlichen Besuchern und Besucherinnen sowohl mütterlicherseits als auch väterlicherseits belegt. Das Tante Hildchen, die Schwester des Schneidermeisters, kam für einige Tage, um festzustellen, dass das Warenangebot in den Kaufhäusern Bremens seit ihrem letzten Besuch nicht besser geworden ist, und dass alles in den Konsumgeschäften in Radebeul und Dresden viel günstiger zu haben sei, „och wenn mer lange Warteschlangen hooaben…selbst Banooaanen hatten mer letztens, aus unserem sozialistischen Bruderland Kongo“ Auch lag es ihr sehr am sozialistischen Herzen immer wieder zu betonen, es war Anfang Juni 1961, dass in der Sozialistischen Deutschen Demokratischen Republik der Faschismus besiegt sei , und dass wohl bald ein Anschluss Westdeutschlands an die DDR erfolgen würde, „wenn de Amerikooaaner und de Engländer abziehn“. Nur gut, dass es niemals in den ganzen Jahren der Nachkriegs- und Besatzungszeit zu einem Zusammentreffen der Sächsischen, der Westfälischen und der Englischen Verwandtschaft kam – was hätte das doch für ein Massaker ergeben! Auch die Westfalen nutzten die Gelegenheit, nachdem die Sächsische Tante mit dem Interzonenzug über Marienborn wieder in die Sozialistische Heimat zurückgekehrt war, zu einem kompakten Wochenendbesuch, bei dem dieses Mal auch die Bielefelder dabei waren. Zu siebt rückten sie an, wobei für Onkel Willy aus Bielefeld eine Sonderbehandlung organisiert werden musste, da er ja im Krieg ein Bein verloren hatte und seit dem auf Krücken angewiesen war. So wurden die restlichen drei Nachkriegskinder, die das Glück hatten, nicht in Utersum in den weiß-blau-gestreiften Liegestühlen direkt an der Meereskante liegen zu müssen, auf die Nachbarschaft verteilt, um Schlafplätze für die Westfalen und Ostwestfalen frei zu machen. Nur gut, dass die Engländerinnen nicht auch noch mit anreisten, das hätte die Aufnahmekapazität der Flüchtlingswohnung dann doch erheblich überstrapaziert. Herbert Senior verzichtete freiwillig auf Schlaf, da er in der Zeit des Westfälischen Besuches ohnehin nicht zur Ruhe hätte kommen können, da noch ein Opernanzug für Krohme und ein frischer Anzug für Schmolke, der zum Landrat nach Verden musste wegen Unregelmäßigkeiten in der Volksschule, fertigzustellen waren. So schlief er drei Tage lang seine kurzen einstündigen Schneiderruhepausen in Interwallen direkt im Schneidersitz auf dem Schneidertisch, der ja gleichzeitig auch Küchentisch war, manchmal noch mit einem Juno- oder Ecksteinstummel im Mundwinkel, um nach dem schreckhaften Erwachen dann sofort wieder die handwerklichen Nähtätigkeiten aufzunehmen. Dem westfälischen und ostwestfälischen Besuch konnte er dann allerdings nicht viel Aufmerksamkeit widmen, was aber nicht besonders tragisch war, da die verwandtschaftliche Kommunikation zwischen den Sachsen und den Westfalen ohnehin nicht besonders fruchtbar war. „Hömma“, so hieß es von den Westfalen, „wat will der arme Schneider ausse Russenzone denn, er hat ja nix auffe Naht!“
Und so zog die Ostpreußische Verwandtenkolonne - Hilda, die Schneiderin und die drei verbliebenen Kinder in die Mitte nehmend und den Schneidermeister auf seinem Arbeitstisch zurücklassend – nostalgisch noch einmal an die Orte der ersten Ankunft nach der Flucht aus der Heimat nach Bockhorst und Oytermühle. Bei schönen Torten und bei Butterkuchen, bei frischem Bohnenkaffe aus den besten Kannen der Sonntagsvitrine und bei kühl eingeschenktem Doppelkorn wurden die schönen Zeiten von damals, die Zeiten nach dem 8.Mai 1945, noch einmal in Fotos und anderen Erinnerungsstücken, wie beispielsweise amerikanischen Baseballmützen und englischen Militärteetassen, aufgeblättert. „Ach war dat allet schön, hömma, ohne den Kriech wärn wer doch alle nich so schön zusammengekommen.“
Im Jahr 1960 trat bei den Olympischen Spielen in Rom noch einmal eine Gesamtdeutsche Mannschaft auf. Sie war mit 12 Goldmedaillen, 19 Silbermedaillen und 11 Bronzemedaillen die 4.erfolgreichste Mannschaft der Spiele. Was überwiegend den Ostzonenathleten zuzuschreiben war, die ja, wie sich Jahre später herausstellte, in der Vorbereitung auf die Spiele von Wilhelm Pieck, Walter Ulbricht und Karl-Eduard von Schnitzler persönlich in den Trainingslagern aufgesucht wurden, um die Verabreichung der von ihnen mitgebrachten leistungsfördernden Präparate aus der Sowjet-Union persönlich zu überwachen. Von Schnitzler behauptete zwar später im Schwarzen Kanal des DDR-Fernsehens, dass die Trainingslagerbesuche der Sozialistischen Troika ausschließlich der Aufmunterung und der Sozialistischen Festigung der jungen Ostzonenathleten dienten, und dass im Gegensatz dazu die Funktionäre des Westdeutschen Sportbundes ihre Athleten mit illegalen Drogen wie Hasch und Marihuana versorgt hätten. Wie anders, so von Schnitzler im Schwarzen Kanal, sei denn zu erklären, dass dieser Armin Hary aus dem Westen die Goldmedaille im 100m-Lauf geholt habe, und dieses in der für unmöglich gehaltenen Zeit von 10,2. Hier stimme doch etwas nicht, so von Schnitzler, hier kann nur manipuliert worden seien. Später lief Hary in Zürich 10,0 – was Karl-Eduard von Schnitzler zu dem skandalösen Ausruf motivierte: „Dem Mann haben die westlichen Imperialisten und Kriegstreiber doch ‚ne Mondrakete in den Arsch gesteckt, wie anders kann ein normaler Mensch nur 10,0 laufen?“
Im Jahre 1961 war dann ohnehin Schluss mit Gesamtdeutsch und mit Lustig. Im August wurde in Berlin die Mauer errichtet entgegen allen Unschuldsbekundungen der Staatsführung der DDR. Fast wäre es wegen des Mauerbaues zu einer kriegerischen Auseinandersetzung zwischen den sowjetischen und den westlichen Besatzungstruppen in Berlin gekommen. Die Truppen der Nato und des Warschauer Paktes waren in Alarmbereitschaft, wäre da nicht dieser Engel von Berlin gewesen, der ja später filmisch von Bruno Ganz verkörpert wurde, der über dem neuerbauten Mauerbauwerk schwebte und die kampfbereiten Besatzungsmächte beruhigte mit dem Hinweis: „Macht doch nicht so einen Alarm wegen dieser Scheißmauer, im Jahre 1989 wird sie wieder abgerissen! Bis dahin reißt euch bitte zusammen und kümmert euch lieber um die Mondfahrt und um die Atomenergie! Mit Krieg in Europa ist jetzt aber endgültig mal Schluss!“ Und so passierte eigentlich auch weiter nichts. Nun gut, Mausi versuchte noch, der versammelten Flüchtlingssiedlungsgemeinschaft klar zu machen, weshalb es nun doch notwendig geworden war, das Mauerwerk in Berlin zu errichten. Sie wurde bei dem Versuch der Mauerlegitimation aber dieses Mal heftig von Fritz Sonkowski, der ja selbst mit seiner Familie von Ostberlin in den Westen rübergemacht hatte, zusammengestaucht. Sie habe doch überhaupt keine Ahnung, was in Berlin los sei, und unter welchen erbärmlichen Wohnverhältnisssen im Plattenbau die Arbeiter dort hausen müssten, schlimmer als in der Walachei. Mausis Einwand, dass der Plattenbau ja wohl zum Wohle des Sozialistischen Volkes errichtet worden sei, damit jeder eine Wohnung habe, und dass der Plattenbau in Berlin ja wohl hundertmal besser sei als „diese Nachkriegshütten hier“, hier beim gutsherrschaftlichen Junker des Kapitals von und zu Herrlichmühlen, da rissen sowohl bei Sonkowski als auch bei Faber, dem Spargeldieb, und bei Tante Hanni von und zu Herrlichmühlen, die einmal wieder auf der Eingangsterrasse des herrschaftlichen Hauses stand und alles auf dem Hof Geschehende belauschte, alle Geduldsfäden und schrien Mausi fast im Chor zu: „Ja, denn geh‘ doch rüber zu den Russen. Hau ab. Zieh‘ Leine. Grüß‘ den Spitzbart!“ Während Tante Hanni noch um herrschaftliche Contenance bemüht war, steigerten sich Sonkowski und Faber in eine regelrechte hasserfüllte Tyrannei und drohten dem minderjährigen Mitglied der Freien Deutschen Jugend mit Prügel. Hätte nicht Herbert Senior sein 2.Nachkriegskind schützend zu sich gezogen, dann hätte sich das verhinderte Blutbad an der Berliner Mauer höchstwahrscheinlich in der Flüchtlingssiedlung auf dem Gutshof der von und zu Herrlichmühlen abgespielt. Dabei konnte Herbert Senior nicht umhin, den Anwesenden zu erklären, dass er mit seiner Familie die Flüchtlingsnotunterkunft nun bald verlassen werde und auch in so eine Art Plattenbau nach Bremen, in die Neue Vahr, ziehen werde. Er habe gestern von der „Neuen Heimat“ und von den Ämtern eine moderne 4-Zimmer-Wohnung mit fließendem Wasser und Küche und WC – was immer das sein möge, dieses WC – zugewiesen bekommen. Wenn die Wohnungen fertiggestellt sind, was noch 2 – 3 Monate dauern könnte, dann stünde ein Umzug nach Bremen an. Woraufhin Mausi sofort wieder anfing zu schluchzen und zu agitieren, indem sie ausrief: „Diese revisionistische, sozialdemokratische, westlich-gewerkschaftlich-kapitalistische, korrupte Wohnung werde ich nicht betreten, lieber bleibe ich hier bei den Junkern und Bauern!“ Ipa, das 1.Nachkriegskind, verzog sich sofort in seinen Baum, um mehrere Stunden dort oben Rotz und Tränen zu heulen, und um mehrmals in Gedichtform sprachtechnisch einwandfrei herunterzurufen: „ Ach Heimat, liebe Heimat, ich will nicht von dir gehen. Lieber will ich tot sein, als in der Fremde zu ertragen Not und Pein.“ Den Autor des Gedichtes nannte er dabei nicht; wahrscheinlich war es ein selbstgedichtetes spontanes Eigengedicht, das ihm da oben in dem Wipfel des Kastanienbaumes zuflog oder vom Engel von Berlin rübergeschickt wurde.
Auch konnte er mit seinem Heimatgedicht aus der Krone des Kastanienbaumes gut kaschieren, dass er kurz vor dem Rauswurf aus der Mittelschule Achim stand. Nicht etwa, weil er bei Glockmann im Werkunterricht geraucht hatte, und auch nicht, weil er in einem Rugby-Spiel Mittelschule Achim gegen Wales einem walisischen Gegenspieler nicht aus Niedertracht, sondern aus sprachtechnischen und gesichtsmuskulären Gründen ins Gesicht spuckte hatte. Er wollte dem Waliser etwas auf Englisch aus seinem begrenzten Englischrepertoire zurufen, was aber nicht gelang, da die englisch-walisischen Worte ihm in dieser Kampfsituation vor lauter Aufregung wieder einmal im Halse stecken blieben, so dass stattdessen Körperflüssigkeit bei den Sprachversuchen entwich und bei dem walisischen Gegenspieler direkt auf dem großbritannischen Auge landete. Nein, kaschiert werden musste von Ipa die Tatsache, dass nunmehr auch Physik und Chemie an der mittleren Lehranstalt gelehrt wurde, und dass er von Anfang an im Physik- und Chemieraum der Achimer Schule sich völlig verloren sah und nicht wusste, wie er diese Lehreinheiten überstehen sollte. So fing er während der Vorlesungen und während der Experimente von Töbelmann, dem Chemie- und Physiklehrer, der sich im sechsjährigen faschistischen Krieg als Sprengstoffexperte hervortat, Gedichte von Benn, Borchert, Lenz und Grass leise vor sich hin zu sprechen, was Töbelmann als persönlichen Angriff aufnahm und mitteilte, dass er bei der Schulleitung einen Antrag auf Entfernung des Ipa von der Schule gestellt habe.
Auch Claus Köhler, der Gedichtepapst der Mittelschule Achim und der persönliche Gedichteaufsagemanager von Ipa konnte bei Töbelmann nichts bewirken. Er beharrte auf seinem Standpunkt, dass die Schüler sich mit der realen Welt des technischen Fortschrittes zu beschäftigen hätten, und sich nicht den surrealen Welten von Gedichten und Geschichten zu beschäftigen hätten. So gab es statt des totalen Rausschmisses aus der Mittelschule erst einmal einen Blauen Brief an die Eltern, was einen kräftigen Arschvoll mit dem breiten Ledergürtel aus Krohmes Hose, die gerade einmal wieder wegen Gewichtszunahme geändert werden musste. Während der väterlichen Gürtelfolter klopfte noch einmal Reinhardt mit heruntergezogenem Hut an die Tür der Flüchtlingswohnung, die nun wohl bald verlassen werden sollte, um sich nach dem Wohl der „Kinderschen“ zu erkundigen – er sei gerade einmal wieder von der Hannovermesse auf dem Weg nach Hause und wollte nicht vermeiden, seine westlichen Verwandten zu besuchen, nu! Herbert Senior bat wie immer seinen Verwandten aus der Ostzone um Eintritt in die Wohnung, was dieser jedoch, wie immer seit 1948, dankend ablehnte mit Begründungen: er müsse noch weiter zu Stalin, er habe noch einen Termin in der Hauptstadt der DDR und: er müsse zurück zur Mutter, sie schwächelt. „Nu, warum habt ihr die Mauer gebaut?“ fragte Herbert Senior seinen Verwandten. Der darauf nur antworten konnte: „Nu, mir hoaben keene Mauer gebaut, mir hoaben eenen Schutzwall gebaut geschen die Feinde des Sozialismus, nu!“Ob die Mausi sich gut mache in Berlin, wurde aus der Hutkrempe heraus gefragt, und ob die kapitalistischen Verhaltensstörungen des 1. Nachkriegskindes nun langsam legen würden, und ob das 3.Nachkriegskind nun langsam aus dem Kinderwagen herausgewachsen sei und selbständig laufen könne, und ob die wirtschaftliche Lage und Versorgung gewährleistet sei. Sie, in der DDR, so der Agent weiter, befinde sich im wirtschaftlichen Aufwind und würden wohl das westliche Wirtschaftssystem bald überholen. Nu, und wie’s der Hilda gehe, ob se immer noch zu den revanchistischen Heimattreffen gehe. Woher er das wisse, so Herbert Senior? Nu, so der Agent, wir wissen eben alles, alles spricht sich herum! Nach Herbert Junior von dem Ostzonenagenten Reinhardt keine Frage. Herbert Seniors Hinweis, dass sein Kriegskind nunmehr wieder seit fast 10 Wochen zur Kur auf der Insel Föhr sei, ignorierte Reinhardt mit dem lapidaren Hinweis, dass der Kommunismus und der Sozialismus das Wohl aller Menschen auf der Welt im Programm habe, wobei nicht auszuschließen sei, dass es dabei auch zu Opfern kommen könne. Dann zog er seinen Hut noch weiter über die Augen, um seinem Onkel zuzuflüstern, dass die Gräber der Verwandtschaft auf dem Friedhof in Radebeul sehr gut gepflegt seien, und dass besonders das Grab der verstorbenen Großeltern und das Grab des verstorbenen Vaters, also des Schwagers, der ja auf einer Rückreise aus dem Westen nahe bei Marienborn im Zug starb, äußerst gepflegt sei und ständig mit den Blumen der Saison bestückt seinen, dafür sorge schon seine Herta, die ja früher in der VEB-Blumenpracht Elbtal tätig war.
Nach einer dieses Mal nur zweitägigen Reise hin und zurück holte Herbert Senior sein Kriegs- und Flüchtlingskind Herbert Junior von der Insel Föhr zurück nach Hause. Der Junge, der inzwischen 17 Jahre alt geworden war, hatte eine schöne braune Gesichtsfarbe an der Nordsee angenommen, auch atmete er verhältnismäßig ruhig und regelmäßig ohne zu husten, dafür schien er aber wieder an Körpergewicht verloren zu haben und sah ziemlich dünn und kurgeschädigt aus. Mit Stolz berichtete er seinem Vater, dass er nunmehr auch ausgebildet sei im Krabbenpulen und bei der Jugendmeisterschaft im Krabbenpulen in Utersum vor einigen Tagen den zweiten Platz belegt habe. „Hätteste nüsch gewinnen können? Woran lag’s?“ „Ich hab‘ wohl zwischendurch zu viele von den Biestern selbst genascht, weil ich sie so gerne mag. In Schnelligkeit im Puhlen macht mir keiner was vor!“ Die Nachricht seines Vaters von dem bevorstehenden Auszug aus der Flüchtlingsnotunterkunft und den Umzug in eine moderne Wohnung in der Stadt nahm Herbert Junior mit himmelhochjauchzender Freude auf, indem er ausrief: „ Endlich, darauf habe ich seit 1944 gewartet, ein eigenes Zimmer, in dem ich machen kann, was ich will, ohne dass diese Nachkriegsgeschwister reinkommen und Krach machen und heulen!“Der Gesundheitszustand des Herbert Junior war nach der Rückkehr von der 10wöchigen Kur besorgniserregend, so dass vor dem Umzug nach Bremen wieder weitere medizinische Konsultationen von Dr. Spinner und den Fachärzten für Lungenheilkunde in Achim und in Sebaldsbrück notwendig wurden.
In Hoppes Friseurstube , dem Dorf-Friseur an der Ecke von Bischoffs Saal und der B 75, in die schon mehrere Male seit Ende des Krieges englische Besatzungsjeeps und landwirtschaftliche Fahrzeuge hineinfuhren, weil sie die Kurve nicht kriegten, wurde das Ende des Flüchtlingsdaseins und der Umzug der Schneiderfamilie Herbert und Hilda mit ihren 4 Kindern nach Bremen vorbereitet. Zufällig saßen in der Friseurwarteschleife bei Hoppe, der sich hervortat durch seinen radikal rasierten Pottschnittschädel, einen weißen Kittel, der ihn als Arzt oder Apotheker auswies, sowie durch einen ständig glimmenden Zigarrenstumpen in seinem Mundwinkel links, die wichtigsten Entscheidungsträger der Britischen Besatzungszone , der Gemeinde und des Landkreises , sowie Herbert, der Schneidermeister aus Sachsen, zusammen, um sich einen ordentlichen Wochenendschnitt von Hoppe verpassen zu lassen. Es galt in der Gemeinde das Ordnungsprinzip, dass der Haarschnitt der Männer genau so zu gestalten sei, wie die Pflege der Vorgärten und der Höfe. Auf dem Stuhl bei Hoppe saß gerade der alte Spargel-Pichmann, der einmal die Woche kam, um das gesamte Programm der Kopf- und Bartpflege bei Hoppe zu absolvieren: 2x Kopfwäsche, gründliche Nassrasur, penible Ohren- und Nasenhaarpflege, Augenbrauen, Nagel-Pediküre, Fußpflege und last but not least: Hautpflege vorne und hinten. Dabei sollte erwähnt werden, dass Zahnbehandlungen und gesichtschirurgische Maßnahmen bei Hoppe seit 1906 nicht mehr angeboten wurden. , In dieser Warteschleife bei Friseur Hoppe also, die gut und gerne 90 Minuten dauerte, entstand der Plan zu einer Umzugsprozession vom Flüchtlingsheim in die Neue Vahr.
Und so sollte es dann auch kommen. Bereits früh morgens um sieben Uhr am Freitag, dem 1.September 1961, wurde die linke Fahrbahnseite Richtung Bremen der B75 zwischen Ortseingang Bassen und Ortsausgang Schaphusen für den Durchgangsverkehr gesperrt. Der Verkehr auf der rechten Seite der Straße wurde durch zwei mobile Ampeln geregelt. Auf der linken Fahrbahnseite wurde ein Trecker-Anhänger-Konvoi zusammengestellt, der die Familie des Schneidermeisters Herbert aus Sachsen und seiner Frau Hilda aus Ostpreußen, die ja ebenfalls Schneiderin war, in die neue Wohnung nach Bremen-Neue Vahr Nord transportieren und begleiten sollte. Der Gutsherr von und zu Herrlichmühlen stellte die größere seiner zwei Zugmaschinen der Marke Fendt und seine beiden größten Anhänger für den Transport der Möbel der Schneiderfamilie zur Verfügung. Dieses Gespann stand natürlich direkt vor dem Flüchtlingsheim und Herbert Senior sowie Hannes Strotmann, Max Herzfeld und Faber sowie die Kinder der Siedlung trugen die Habseligkeiten der Familie, die mitgenommen werden sollten in die neue Wohnung nach Bremen, auf die offenen Anhänger. Die Kohle- und Torföfen mussten gottseidank nicht runter geschleppt werden, da die Flüchtlingsfamilie in der neuen Wohnung modernste Zentralheizung erwartete. Auch die Küchenschränke und der Küchentisch hätten eigentlich zurückbleiben können, da alle Neubau-Wohnungen der „Neuen Heimat“ mit modernsten Küchen inklusive Elektroherd ausgestattet waren. Aber Herbert Senior bestand darauf, alles aus der Küche mit aufzuladen. Besonders auf den Küchentisch wollte er nicht verzichten: „Es iss ja schließlich meen Oarbeitsplatz, den geb‘sch nüsch her!“ Auch Herbert Junior, der wegen der vielen Umzugsaufregung viel husten musste an dem Tag, hatte all‘ seinen „Krempel“ an Peddigrohrarbeiten und Peddigrohrarbeitsmaterialien, die diversen DC-Fix-Rollen, die Spanplatten, die Handwerkszeuge, seinen großes selbsthergestelltes Schachbrett mit den ebenso von ihm selbstgeschnitzten Schachfiguren, und besonders seine Zeichenblöcke, Leinwände, Malstifte, Pinsel und diese farbenfrohe Sammlung von Ölfarbentübchen, die extra immer von Zimmermann am Wall gegen teures Geld mitgebracht werden mussten, sorgsam zusammengestellt. Und er achtete sorgsam darauf, dass auch alles zusammen auf dem Umzugswagen Platz fand, während die drei Nachkriegskinder eigentlich uninteressiert das Geschehen beobachteten und ungeduldig darauf warteten, dass der Konvoi sich in Bewegung setzte. Ipa sicherte sich auf dem Fendt-Trecker den Beifahrersitz neben Albert, dem Knecht, der fahren würde. Die beiden anderen, jüngeren Nachkriegskinder sollten im Schulbus von Badenhoop mitfahren, der gleich hinter den Umzugstrecker postiert wurde, und in dem auch die anderen Siedlungskinder die Prozession mit machen würden. Herbert Junior bekam als Kriegskind und Lungenpatient einen Sonderjeep der Britischen Besatzungskräfte zugeordnet. Auch Herbert Senior und Hilda bekamen einen Englischen Jeep zugeordnet und würden zusammen mit 3 weiteren Fahrzeugen der Großbritannischen Militärkräfte die Spitze des Konvois bilden. Auch das Ende des Konvois bildete ein Fahrzeug der Königlichen Truppen, bestückt mit einer blauen Fahne, was so viel bedeutete wie: Vorsicht, nicht überholen, Militärtransport oder so ähnlich. Nach Badenhoops Schulbus waren dann noch aufgestellt: der schön geschmückte Wagen der Turnvereinsfrauen, ein von Bischoff, Schulz und Segelken gemeinsam aufgestellter Wagen mit reichlich trinkbarem Proviant an Bord, dahinter der in einem Sonderschulprojekt gestaltete Wagen der Volksschule mit Schmolke, Pachmann, Frollein Koch und einigen ausgewählten Bauernkindern an Deck, selbst der Ortsverein der Sozialdemokraten ließ es sich nicht nehmen die Schneider mit einem eigenen Wagen zu begleiten und zu verabschieden, wobei natürlich nicht übersehen werden darf, dass einige Tage nach dem Konvoi Bundestagswahl war. Dem entsprechend groß waren dann auch die Aufschriften und die Fahnen auf dem SPD-Wagen. Und dann noch der Wagen des Kyffhäuserbundes, auf dem es sich die größeren Bauern des Ortes in Uniform bequem machten mit eigener Getränkeversorgung, dahinter der englische Besatzungswagen mit der blauen Fahne. Dann kam überraschender Weise und ungeplant noch ein Wagen mit Musik angerollt. Der Trompeter Jonny von unten aus der Siedlung hatte spontan sein Schützen- und Erntefestorchester zusammengetrommelt, um in dem Konvoi mitzufahren. Sie wurden zwischen den englischen Jeeps am Anfang des Konvois und dem großen Fendt-Schlepper mit den Möbelwagen platziert. So war der Konvoi auf gut und gerne 300m angewachsen, und alle warteten gespannt darauf, dass es bald los gehen würde gen Bremen.
Herbert Senior gab, nachdem alles, was in der neuen Wohnung gebraucht würde, von der Flüchtlingsnotunterkunft auf die beiden Anhänger des Umzugkonvois umgeladen war und alle Mitfahrenden ihre Plätze in den und auf den zugewiesenen Plätzen der Konvoigefährte eingenommen hatten, das Zeichen zum Abmarsch an die Kreispolizei, die ja am Anfang und am Ende des Konvois den Verkehrsfluss auf der B75 regeln mussten. So dauerte es noch mindestens eine halbe Stunde, bis die mobilen Ampeln abgebaut waren und die Kreispolizisten sich davon überzeugen konnten, dass alle Fahrzeuge und Anhänger auch den verkehrspolizeilichen Vorschriften des Landkreises und der Britischen Besatzungskräfte entsprachen. In dieser Wartezeit vor dem Abmarsch erkundigte sich Fritz Sonkowski, der nicht mitfahren wollte nach Bremen, noch bei Herbert Senior, ob er die nichtgebrauchten zurückgelassenen Gegenstände in der verlassenen Wohnung übernehmen könne. „Nu, klar Fritze, nimm dir was de brauchst, den Scheißeimer kannste ja wegschmeißen, nu. Wir hoaben jetzt ja Wasserspülung und anständisches Bapier!“ „Kickste denn noch mal wieder rinn?“ so der noch vor dem 13.August 1961 rüber gemachte Ost-Berliner „…war ja trotz allet ne janz schöne Zeit …!“ „Nu, freilich, ich hab ja noch Rechnungen offen bei den Bauern, nu!“
Dann die Zeichen zum Abmarsch des Konvois an die Englischen Besatzungskräfte hinten und vorne, an die dörfliche Blasmusik des Trompeters Jonny aus der Siedlung unten, an den von Albert dem Knecht gesteuerten Möbelwagen und die folgenden Konvoigefährte. Mit allseits bekannten Stücken aus den Festzelten der Ernte und Schützenfeste, gespielt von Jonny und seinen Kameraden, setzte sich der Umzugskonvoi nun in Bewegung. Zuerst musste natürlich von der linken Seite gen Bremen auf die rechte Seite gewechselt werden, da ja auf der B75 nicht auf der linken Seite entsprechend der StVO gefahren werden durfte, was vielen Engländern, die mit im Konvoi waren, sicherlich besser gefallen hätte. Jonny und seine Kameraden spielten unter anderem: vor der Kaserne, es hängt ein Pferdehalfter an der Wand, wenn bei Capri die rote Sonne, oh Annelise, oh Annelise, mehrere Walzers und Polkas und anderes aus dem Liederbuch der Blasmusik von 1937.Und als der gesamte Konvoi die rechte Seite gen Bremen auf der B 75 eingenommen hatte, und als von hinten vom letzten Wagen der Engländer mit der Blauen Fahne ein „alles o.k.“ signalisiert wurde, und als vom schottischen Führungsoffizier vorne im Konvoi mit der Grünen Fahne das „let’s go“ signalisiert wurde, da setzte sich dieser einmalige Umzugskonvoi aus dem Landkreis Verden nach Bremen in die „Neue Heimat“ mit 15 Stundenkilometern in Bewegung. Die englischen Führungsjeeps vorne achteten auf die Einhaltung des verabredeten Tempos von 15, die Musik von Jonny spielte unentwegt deutschnationales aus den früheren Jahren, deutschschnulziges aus den 50er Jahren und internationale amerikanische und englische Weisen. Albert, der Knecht, und Ipa sein Beifahrer, saßen stolz auf dem größten Gefährt des gesamten Zuges, dem Fendt 1004, und grinsten bäuerlich geprägt den am Straßenrande stehenden Bockhorstern und Oytenern erhaben zu. In Oyten an der Kreuzung war sogar die junge Margret Lueßen zu entdecken, die extra aus Sagehorn an die Hauptstraße geradelt war, um Hilda, der Schneiderin aus Ostpreußen zuzurufen: „Hilda, in 40 Jahren sehen wir uns in Sagehorn wieder. Mach’s gut bis dahin!“ Dabei muss man wissen, dass Margret Lueßen die Erbin der Privataltenpension in der Sagehorner Dorfstraße war und ist, in dem dann tatsächlich Ende der 90er Jahre Hilda zurückkehren sollte in ihre niedersächsische 2.Heimat. Auch alle vom Blankehof standen mit weißen Taschentüchern in der Hand am Straßenrand, um dem Prozessionszug nach Bremen einen letzten Gruß mitzugeben. Oma Blanke trat an den englischen Jeep, in dem Herbert Senior und Hilda saßen, heran und übergab den beiden eine selbstgebackene frische Stachelbeertorte mit den niederdeutschen Worten:“De iss för schie beide und för de Kinners, wenn schie ankaumt inne Stadt. Passt man god up den kranken Herbert up, dat he nich to wenig uppe Rippen kriecht!“……………
FORTSETZUNG 16 UND SCHLUSS FOLGT
Herbert 14………………………………………………………………………………………………………25.03.2013
Von Mordversuchen, von vollstreckten Morden und anderen Kriminalfällen. Von den schrecklichen Landgewittern und dem Feuerinferno sowie dem anschließenden Fußballspiel auf dem abgebrannten Bartel’schen Hof. Vom anschließenden Feuerwehrball mit den katastrophalen Folgen bei Bischoff. Von den Untaten und dem Verschwinden von Haberland und Dohrmann aus Bockhorst bei Ventimiglia an der italienisch-französischen Grenze und von der Reise des totkranken Herbert Junior in Begleitung seines Vaters Herbert Senior in die Kinder- und Jugendklinik „Seeheim Seeschwalbe“ nach Utersum am Westende der Insel Föhr in Nordfriesland…
Werner Brunkhorst, der alteingesessene Dorfschneidermeister, klopfte eines Tages am Anfang der 60er Jahre an die Eingangstür des Flüchtlingsheimes, um nach Herbert Senior, dem Schneidermeister aus Sachsen, zu fragen. Das war seit 1946, dem Ankunftsjahr der Flüchtlinge, das erste Mal, dass er sich in die Gefilde seines Handwerkskonkurrenten begab. Also war von einer besonderen bedrohlichen Situation auszugehen, die Hilda, die ja ebenfalls Herrenschneiderin war, sofort erkannte, als sie dem Brunkhorst die Tür öffnete. Brunkhorst stand mit so einer riesigen Schneiderschere in der rechten Hand vor der Notwohnung und sagte mit zittriger niedersächsischer Stimme: „Er soll rauskommen, wenn nicht, dann endet das böse!“ Woraufhin Hilda geistesgegenwärtig mit Blick auf dieses Ungetüm von Schere dem Brunkhorst auf Ostpreußisch entgegnete: „ Na Wernerchen, was willst du mit der Schere. Du wirst doch wohl nich‘ etwa die Hecken hinten bei den Schweinen schneiden wollen?“ „Ich geb‘ dir gleich die Hecken schneiden, ich will Herbert, diesen verfluchten Hund, sprechen!“ entgegnete Brunkhorst, der sich inzwischen eine Overstolz angesteckt hatte. „Nei Wernerchen, er iss nich da, er wird wohl bald kommen, vielleicht kommt er ja auch nich, man weiß es nich!“ Hilda schränkte die Arme zusammen und zeigte somit dem Dorfschneidermeister seine Grenzen in der Eingangstür zur Flüchtlingsnotunterkunft auf. Bis hier hin und nicht weiter, während Herbert Senior hinten in der Stube auf dem zweiten kurzen Sofa seine völlige Überarbeitung und die vergeudeten Stunden bei Bischoff, Schulz und Segelken ausschlief. Brunkhorst kollabierte und stieß noch speichelnd hervor: „Ihr Flüchtlingspack seid doch alle gleich: verlottert und russisch. warum geht ihr nicht zurück nach Sibirien?“ „Na, was willst du mit der Schere Wernerchen, willst du etwa den Herbert, meinen Mann, der mir vier Kinderchen gemacht hat, eins davon krank wegen der Flucht, die drei anderen so einigermaßen bis auf den 1. nach dem Krieg, der wohl bald nach Ellen in die Erziehungsanstalt wird eingeliefert werden müssen, …willst du Herbert etwa abnöcheln?“ In diesem Moment stürmte Max Herzfeld das Flüchtlingsgebäude mit der obligatorischen Axt in der Hand, um seinen obligatorischen Ausruf im Treppenhaus erschallen zu lassen: „ Hilda, -damit war seine eigene Ehefrau gemeint und nicht die Schneiderin Hilda aus Ostpreußen-, du deutsche Hure, einst kommt der Tag der Rache, lass‘ mich rein, sonst kommt der Führer persönlich!“ Hilda, die Schneiderin, ließ sich an diesem Tage weder von Brunkhorst, dem Dorfschneider, noch von Herzfeld, dem Rächer des Deutschen Reiches, irritieren und schloss die Eingangstür zur Flüchtlingsnotwohnung, in der hinten sowohl Herbert Senior als auch Herbert Junior die schwefelhaltige Luft des Kohleofens einatmeten, einfach ab, ohne noch vorher den Herren im Treppenhaus zuzurufen:“ Ich war Gruppenführerin im BDM, mich könnt ihr Paljucken doch so schnell nich…“ Und Herbert Junior, der durch den Lärm im Treppenhaus inzwischen dazugestossen war, ergänzte nach Luft ringend und hustend: „Was wollt ihr denn, wollt ihr Schachspielen? Mich besiegt ihr nicht! Ihr Paljucken!“
Aus der Vernichtung des Schneiderkonkurrenten mittels der brunkhorst’schen überdimensionalen Schneiderschere wurde also nichts, so dass auf das nächste Tötungsdelikt im Dorfe noch ein wenig gewartet werden musste. Es sollte, so weiß man heute, bis zum Jahre 1971 dauern. In dem Jahr nämlich, das weisen die Polizeiakten des Landkreises aus - die Britischen Besatzungsmächte hatten sich da schon längst aus der Polizeiaufsicht zurückgezogen - , in dem Jahr 71 also nämlich fand man in Breitenmoor unten in den Wümmeniederungen Richtung Fischerhude über das Geländer der 2. Schleuse gehängt die Marsch- und Torfbauersleute Hella und Friedrich Sudbrink tot auf. Man sprach anfangs im Jahre 71 von Doppelselbstmord, was sich aber später nach gründlichen Ermittlungen der Verdener Kriminalpolizei als Doppelmord, begangen von einem Fischerhuder Möchtegernkünstler aus der Bredenau, der am Hungertuch nagte, herausstellte. Er soll, so wurde später im gesamten Landkreis kolportiert, den Bauersleuten nach einem üppigen Knippessen mit Salzkartoffeln und Salzgurken in der Bauernküche mit reichlich Bier und Korn erst das gesamte im Haus versteckte Barvermögen in D-Mark, Pfund Sterling und Dollars abgeschwatzt haben mit dem Versprechen, dafür minderwertige Kunstgemälde im Fischerhuder Kunsthandel aufzukaufen, um sie dann profitabel an Bremer und Hamburger „Kunstkenner“ weiterzuverkaufen, die von Tuten und Blasen – so angeblich der Täter – keine Ahnung hätten. Dann, so ist den Archiven zu entnehmen, soll der Künstler , derweil der Bauer wegen des fetten Knipps längere Zeit auf dem Donnerbalken hinten bei den Viechern verbrachte, die Bäuerin noch schnell beglückt haben, um dann beide zu bitten, ihn doch bei Nacht bis zur 2. Schleuse zu begleiten, von wo aus es dann ja nicht mehr weit wäre bis zur Bredenau. So soll es gewesen sein. Und dann soll es auch so gewesen sein im Jahre 71, so wurde noch später selbst in Bremen gemunkelt, dass der Möchtegernkünstler die Bauersleute zwang, unter Androhung körperlicher Folter, lebendige Wollhandkrabben, die sich von den Mauern der Wümmeschleuse einfach so abgreifen ließen, zu schlucken. So sollen die Bauersleute sich über die Brüstung der Schleuse gekrümmt haben, um das üble flauschige Getier wieder loszuwerden, was aber letztendlich bei beiden zum schnellen Tod geführt haben soll, da die geschluckten Tierchen ihnen sowohl die Speiseröhre als auch die Luftröhre verschlossen, was dann unwiederbringlich zum Ersticken führte. So sollen sie, Hella und Fiddi Sudbrink, mehrere Tage über dem Schleusengeländer gehangen haben, ohne dass jemand sie entdeckt hätte, da ja zu der Tatzeit weder Heuzeit, noch Badezeit und schon gar nicht Angelzeit war. Der Täter jedenfalls, wie sich später herausstellte, ein entfernter Nachfahre der berühmten Beckersohnfamilie, bekam die Lebenslängliche Zuchthausstrafe mit anschließender Sicherungsverwahrung. Beide Strafen, so hört man, soll er heute noch absitzen in Hamburg-Fuhlsbüttel, Santa Fu. Dort soll er auch, wie man hört, den wöchentlichen anstaltsinternen Malkurs leiten zusammen mit der Anstaltspsychologin, die die gemalten Werke nach Fertigstellung dann analysiert und mit den „freischaffenden“ Künstlern bespricht. Moderner Strafvollzug!
Na ja, was kümmern wir uns um Kriminalfälle der späteren Wirtschaftswunderjahre, in denen es dann auch unerheblich war, so weiß man heute, ob die Tötungsopfer an Wollhandkrabben in der Luftröhre oder an zu fettem Essen im Magen-Darmtrakt starben. In der Flüchtlingsnotunterkunft jedenfalls konnte am Ende der 50er Jahre, Anfang der 60er Jahre an ein Wirtschaftswunder noch nicht gedacht werden, zumal die Folgen des Krieges und der Flucht in der Familie der Schneider Herbert und Hilda immer noch nicht überwunden waren. Nun gut, andere Aussiedler aus anderen ehemaligen deutschen Gebieten, die sich in der Siedlung niederließen, waren da pfiffiger und schlitzohriger. Sie klauten nicht nur Kohlen von den Kohlezügen aus dem Ruhrgebiet am Bahnhof von Sagehorn, und sie tauschten nicht nur illegal amerikanische und britische Zigaretten gegen Zucker und Mehl ein, nein - sie klauten Baumaterialien in den kriegszerstörten Stadtteilen Bremens und bauten sich damit Eigenheime in der Siedlung. Dabei muss natürlich berücksichtigt werden, dass diese Zuwanderer aus der Walachei, aus Bessarabien und dem Banat in der Regel keine lungenkranken, verhaltensauffälligen, entwicklungsgestörten und stalinistisch beeinflussten 4 Kinder großzuziehen hatten. Sie hielten sich ihre Karnickel und Belgischen Riesen hinten im Stall, schlachteten hin und wieder eines von diesen Langohrviechern, legten sie 5 Tage in Buttermilch ein und fraßen sie dann in einem Sonntagsbratenrausch weg. Auch bauten sie hinten hinter ihren Baustellen alles mögliche Gemüse zur Selbstversorgung der Tiere und der Familienmitglieder an. Wurzeln, Kohlrabi, Kartoffeln, Grünkohl und Porree kamen ständig auf den Tisch der Häuslebauer, die ja in der Tat geschichtlich gesehen alle irgendwie eine schwäbische Vergangenheit hatten. Dass sie keinen Trollinger anbauen konnten und auch keinen Besenwein wegen der ungünstigen klimatischen Verhältnisse hier oben im Nordniedersächsischen , das ärgerte sie so sehr, dass sie, ob sie wollten oder nicht, darauf zurückgreifen mussten, mit Zustimmung der Gutsbesitzer aus dem Fallobst der herrschaftlichen Streuobstwiesen Sauren Most herzustellen. Als Hilda, die Schneiderin aus Ostpreußen, einmal von dem Sauren bei Flaig unten in der postschwäbischen Karnickelsiedlung probieren durfte, hört man sie bis heute angewidert ausrufen: „Pfui Deifel, wer will das trinken, da kannste dir die Mauken drin waschen, das kannste doch nicht saufen!“ Woraufhin der Banater Siedler Wilhelm erwiderte: „Immer noch besser als eure Königsberger Klopse, die ihr doch aus den verreckten Fluchtpferden herstellt.“ „Sei ruhich du Schlawinski, unsere Trakhener waren unsere besten Freunde, da werden wir doch keine Klopse draus nich machen! Der Russe hat se mit den Flugzeugen abjeschossen“.
Am Ende der 50er Jahre waren die Landgewitter über dem Niedersächsischen Bauernland besonders heftig. In den Sommermonaten und auch im Herbst türmten sich gewaltige dunkle Wolken über dem Roggen-,Kartoffel- und Rübenland auf, um mit unglaublicher himmlischer Macht in Form von nie gesehenen Blitzkombinationen und nie gehörtem Donnerhall besonders auf die Flüchtlingssiedlungen im Landkreis herunterzuprasseln. Der Alte von und zu Herrlichmühlen sprach dann von Stalins Rache, Onkel Johann Jäger schrieb alles dem Herrgott zu, während Hannes Strotmann, der es meistens vor Einschlagen der ersten Blitzungeheuer gerade noch schaffte mit seiner Horex samt Beiwagen die Hofeinfahrt ohne Schrammen zu erreichen, lapidar von sich gab: „Ich fahr‘ seit Hitler Motorrad auch bei Gewitter, da passiert nix!“ Derweil saßen die anderen Bewohner des Flüchtlingsheimes vollständig angezogen, die Gewitterungeheuer zogen in der Regel von Westen, also von Bremen, heran, in warmer Fluchtkleidung und mit gepackten Koffern, in denen der gesamte spärliche Hausstand verstaut war, auf der Treppe des Heimes. Selbst Max Herzfeld und seine Frau Hilda, die von ihm ja regelmäßig „Deutsche Hure“ gerufen wurde, saßen einträchtig auf der obersten Sprosse der Treppe nebeneinander – wobei zu bemerken wäre, dass aus dem Innenrevers des Mantels von Max die obligatorische Axt hervor linste. Sie wussten alle, unten die Sonkowskis aus Ost-Berlin, hinten die Familie des Spargeldiebes, die schon immer hier wohnte, vorne die Familie des Hannes Strotmann mit seiner Lilo, die bei Gewitter ja meistens gar nicht zu Hause war, sowie die oberen Familien der Schneider Herbert und Hilda mit den vier Kindern und dann noch Max, der deutsche Rächer mit seiner angebeteten Hilda, zuzüglich einer Oma und einer Tochter. So saßen sie dann alle fröhlich, die Kinder natürlich auch ängstlich, vereint in dieser Armutshütte, die noch 1945 Schweinestall war, bei Gewitter auf der Treppe, um bei einem Blitzeinschlag möglichst schnell ins Freie zu gelangen, denn es gab weder Blitzableiter auf dem Flüchtlingshaus noch Feuerlöscher oder sonst irgendetwas, was bei Feuergefahr hätte retten können. Gut, es wurden vom Gutsbesitzer und seiner gesetzlichen Erbin einige Melkeimer mit Wasser gefüllt hingestellt, die an den Blitzeinschlagstellen zum Einsatz hätten kommen sollen, wenn es soweit gewesen wäre – aber wer von den gewitterängstlichen Treppenhausflüchtlingen wäre schon in der Lage gewesen im Ernstfall zum Melkeimer zu greifen? Die Flüchtlingskinder und ebenso die Nachkriegskinder jedoch empfanden die Gewittergeschehnisse immer als sehr spannend und lehrreich. Sie rannten wie verrückt zum Leidwesen der Eltern die Treppen hoch und runter und spielten Kriegen. Besonders schön war für sie der physikalische Anschauungsunterricht bei Gewitter. Sie standen, obwohl von den Eltern und vom Gutsbesitzer verboten, an der offenen Eingangstür, die ja eigentlich wegen der gefährliche Kugelblitze hätte geschlossen bleiben sollen, und zählten den Sekundenabstand zwischen Blitz und Donner. Eine Sekunde, so wurde den Kindern beigebracht, entspräche einem Kilometer. Daran könne man erkennen, so die Lehre der Eltern weiter, wie weit das Gewitter noch von der Flüchtlingsnotunterkunft entfernt sei. Und wenn dann die Zählzahl zwischen Blitz und Donner sich immer weiter vergrößern würde, dann könne man sicher sein, dass das Gewitter abzieht. Und genau in dem Moment, in dem Herbert Junior, Mausi, Günter, Erika, Fredi und Ipa – das dritte Nachkriegskind der Schneider Herbert und Hilda konnte noch nicht mitzählen – nach dem letzten ungeheuerlichen sichtbaren Blitz kollektiv eins, zwei, drei, vier, fünf zählten, gab es einen ohrenbetäubenden Knall irgendwo in der Nachbarschaft der Flüchtlingssiedlung. Nach weiteren furchtbaren Blitzen und weiterem Donnerhall, nicht in 7 Kilometer Entfernung, wie die Kinder gezählt haben wollen, sondern direkt über dem nordniedersächsischen Flüchtlingsgelände, sahen alle auch schon die lodernden Flammen, die in der unmittelbaren Nachbarschaft Bartel’s Hoff mit seinem Reetdach binnen kurzer Zeit in ein flammendes Inferno verwandelten. Schon heulten die Sirenen, die die Mitglieder der Freiwilligen Feuerwehr zusammenrufen sollten, und schon waren die ersten Rufe nach der Befreiung der Pferde, der Rinder, der Schweine und der Hühner auf Bartel’s brennendem Hof zu hören. Albert, der Knecht der von und zu Herrlichmühlen, rief den erwachsenen Flüchtlingsheimbewohnern panisch zu: „Kummt rutt, wie möht no de Peer und nau de Kai kieken, de möht do rutt!“ Und schon rannten alle Erwachsenen los zu Bartel’s brennendem Hof. Die Nachkriegskinder rannten hinterher, während Herbert Junior lieber bei Hilda, seiner Mutter blieb, die posttraumatisch wegen der Fluchterlebnisse Mitte der 40er Jahre und den vielen Kriegsfeuererlebnissen sich nicht in der Lage sah, bei den Rettungsarbeiten auf dem Gelände des Großbauern Bartel behilflich zu sein. Herbert Junior war in solchen Situationen wieder ganz Flüchtlingskind und schmiegte sich, im Gegensatz zu seinem sonstigen Flüchtlinsgkindverhalten, ganz eng an seine ostpreußische Mutter.
Bartel’s Hoff brannte wie Zunder, während weitere furchtbare Blitze herunterknallten und anschließender Prasselregen das gesamte dörfliche Gelände in der Nähe der Flüchtlingsunterkünfte in ein filmreifes Szenario aus Feuer, Wasser und herumirrenden Freiwilligen Feuerwehrleuten, Kreispolizisten und neugierigen Dorfbewohnern, Bauern, Flüchtlingen, Schneidern und Kindern, verwandelte. Inferno, so kann man sagen, wäre die richtige Beurteilung der Lage gewesen, wäre die Situation nicht dadurch noch verschlimmert worden, dass brennende und schreiende Pferde, Rinder, Schweine, Hühner und sonstiges Geflügel in lodernder Panik davonrannten, um irgendwo an der Autobahn, an der B 75 oder im Ueserdicker Wald, hinten in der Nähe von Christa Borstelmanns elterlichem Hof, elendig zu verrecken. Susanne B. übrigens, die Jahre später eine Filmdokumentation über die A 1 herstellte, berichtete noch in den ersten Jahren des 21.Jahrhunderts davon, wie bei Grabungen bei Lindheim in der unmittelbaren Nähe der Autobahn größere Knochenskelette von Pferden und Rindern, die wohl von der Feuerbrunst auf Bartel‘ Hoff stammten, ans Tageslicht traten. Weshalb sie gegraben haben, und ob Susanne B. selbst mit gegraben hat, und was das alles mit dem Autobahnfilm zu hat – all‘ diese Fragen müssen unbeantwortet bleiben, da die journalistische Verschwiegenheitspflicht den Schutz brennender Tiere vor den Anspruch der Öffentlichkeit auf umfassende Aufklärung stellt. Spätere Grabungen hin, spätere Grabungen her: Die Feuersbrünste bei Gewitter, die das Dorf und einige ausgewählte reetdachgedeckte Niedersächsische Bauernhäuser, die gekrönt waren am Eingangsgiebel durch diese niedersächsischen gekreuzten, herumgedrehten Holzpferdeköpfe und nicht durch Blitzableiter, regelmäßig erreichten, waren schon für alle im Dorf die große Attraktion. So standen sie dann auch alle, Stunden nach dem Blitzeinschlag bei Bartels und den erfolglosen Löschversuchen der Freiwilligen Feuerwehren des Landkreises, immer noch auf dem Brandgelände und waren glücklich, dass alle aus der Bartelsfamilie sich haben rechtzeitig in Sicherheit bringen können – selbst Oma und Opa, die aus dem oberen Altenteil von schnell herbeieilenden Nachbarn heruntergetragen wurden und direkt mit Buttermilch getröstet wurden.
Es war nichts zu retten. Das Bartel’sche Bauerngelände war bis auf die Grasnarbe heruntergebrannt. Die Tiere waren verschmort oder in die umliegenden
Wälder geflüchtet. Alles Geerntete, alles Eingemachte, alles Geräucherte von den letzten Schlachtungen, alles aus den Speisekammern, alles in den Scheunen und Speichern war restlos verbraten und
verkocht und auch bei bestem Willen nicht mehr genießbar, worauf einige der Flüchtlings- und Nachkriegskinder, die ja kein Abendessen bekommen hatten wegen ihres Einsatzes bei Bartels, noch
gehofft hatten. Nicht einmal Bratkartoffeln waren noch zu holen, und schon gar nicht dieses wunderbare fette Knipp, mit dem die Kinder während der Britischen Besatzungszeit
ernährungsphysiologisch großgezogen wurden, wenn sie nicht gerade von den Briten, Engländern, Walisern oder Schotten mit diesen dreieckigen Weißbroten gefüttert wurden, die damals in der
Zentralküche der Britischen Besatzungskräfte in Fallingbostel, was später in Bad Fallingbostel umbenannt wurde wegen einer angeblichen Gesundheitsquelle im Böhmetal, hergestellt wurden, um
dann bei Nacht und Nebel an die einzelnen britischen Truppenteile im Niedersächsischen und Westfälischen verteilt zu werden.
Es war also nichts mehr zu holen auf dem Bartel’schen Brandgelände. Auch die landkreisbekannten Plünderer, die bei jedem Brand im Landkreis sofort auftauchten, gingen hier bei Bartels völlig leer
aus, da ja alles dem Erdboden gleichgemacht war. Hätten sie bei einem normalen Gewitterbrand noch Schinken und Mettwürste, eingemachte Bohnen und Birnen, bäuerliches Tafelbesteck und
handbestickte Tischdecken und ländliche Bettwäsche aus dem Brandherd herausgeholt, so schauten auch sie hier bei Bartels voll in die Röhre, da ja durch die furchtbaren Blitzeinschläge alles dem
Erdboden gleichgemacht war. So zogen sie mit ihren Quicklis samt Anhänger ohne Beute ab zurück in ihre ländlichen Herkunftsorte nach Giers-Schanzendorf, nach Holtum-Geest oder nach Uphusen. Als
die Brandschätzer abgezogen waren vergnügte sich die Dorfjugend beider Seiten der B75, von Bremen aus gesehen, an einem improvisierten Fußballspiel, bei dem eine alte, feuerwehrwasser- und
gewitterregendurchtränkte alte Lederpille, die jahrzehntelang bei Bartels hinten in der Waschküche zwischen den Blecheimern gelegen hatte, als Ball diente. Auch wenn es den Dorfkindern und den
Dorfjugendlichen schwerfiel, den wasserdurchtränkten Ball überhaupt nach vorne auf das gegnerische Tor zu bewegen, so wurde aus der sportlichen Begegnung der ansonsten verfeindeten Seiten der B75
ein faires und lustiges Nachgewitterspiel. Besonders lustig wurde es, wenn der so genannte Ball in den riesigen Pfützen, bestehend aus Feuerwehrwasser, Stalljauche, Gewitterwasser und den Resten
aus der Badewanne des Bauern Bartels, der noch kurz vor den vernichtenden Blitzeinschlägen noch schnell die nach Kuhstall, Misthaufen und Rübenacker riechenden am Körper haftenden Schichten
einseifen und entfernen wollte, steckenblieb . Dann schmissen sich alle dem so genannten Ball hinterher, um ihn von dort wieder zu befreien, wobei das Hineinglitschen der Spieler beider
B75-Seiten in das Gemisch aus bäuerlichem Reinigungsabwassser, den Stallabwässern, den Spritzwassern der Freiwilligen Feuerwehren des Landkreises Verden, die unterstützt wurden bei ihren
vergeblichen Löschversuchen von der Freiwilligen Feuerwehr aus Sottrum, Landkreis Rotenburg, sowie von der Berufsfeuerwehr Bremen, die auch völlig hilflos vor dem Bartel’schen Inferno stand, dann
eher einem Englischen Rugbyspiel nach der Methode Glockmann glich, als einem gepflegten Fußballspiel nach Art des Lehrers Pachmann, dem Präsidenten des TSV, der sein kriegsbedingtes Holzbein
mindestens immer 30 cm nachziehen musste. Selbstverständlich hatte Stutzke von der linken Seite der B75, von Bremen aus gesehen, der ja auch gleichzeitig der Spielführer der Jugendmannschaft beim
TSV war, wieder einmal bei diesem Gewittternachspiel die größte Schnauze. Er befehligte nicht nur die eigenen Mitspieler der linken Seite, von Bremen aus gesehen, sondern mischte sich auch in die
taktischen Planungen der rechten Seite ein, in dem er zum Beispiel Diekmann aufforderte mehr über links zu kommen. Und selbstverständlich schmiss er sich nicht mit hinein in die Jauche, in der
der so genannte Ball steckenblieb, sondern schickte seine Kameraden aus Breitenmoor und Schaphusen vor, weil er sich ja nicht gerne dreckig machte. Die Spieler der rechten Seite der B75, von
Bremen aus gesehen, waren indessen in kürzester Zeit nass und dreckig von oben bis unten. Und nicht nur, dass sie dreckig und nass waren, sondern sie stanken auch erbärmlich nach Schwefel und
Kohle. Die Schwärze, die sich überall ausbreitete, war anfänglich gar nicht wahrzunehmen, bis sie sich später in allen Ritzen der Kinder, der Jugendlichen, der freiwilligen Feuerwehrleute, sowie
auch der Berufsfeuerwehrleute aus Bremen-Sebaldsbrück und der gesamten Dorfbewohnerschaft, die sich das Bartel’sche Inferno angeschaut hatten, in den Gesichtern und auf der Haut des gesamten
sonstigen Körpers erkennbar zeigte. Noch Tage später nach dem Inferno waren in der Volksschule als auch in der Mittelschule die Brandgerüche zu vernehmen und die Hautschwärzungen in den
Gesichtern der Schüler und Schülerinnen zu erkennen, da ja erst wieder am Freitag Badetag war.
Während sich die Dorfjugend in den Brandwasserpfützen auf dem ehemaligen Bartel’schen Bauerngelände vergnügte, trafen sich die Rettungsmannschaften der Feuerwehren und die erwachsenen Zuschauer der vergeblichen Rettungstaten der Rettungsmannschaften bei Bischoff – Schulz hatte bereits geschlossen und Segelken hatte einen Trauerfall -, um den Gewittervorgang und die Folgen zu evaluieren. Dabei wurde natürlich wie immer nicht gespart mit dem Löschen der durstigen Kehlen, die hier wieder einmal nicht nur durstig waren, sondern eher ausgetrocknet, schwefelerstickt und biergierig. Bischoff musste, was selten vorkam in seiner Gaststätte, an diesem Gewitterabend zweimal Bierfässer nachladen und bei Schulz, der ja auch anwesend war bei diesem Feuerwehrball, noch Doornkaat ausleihen. Es war eine öffentliche Feuerwehrübung mit Zuschauern, die in die Annalen der Dorfarchive eingehen sollte. Waren noch bei dem Gewitterinferno auf dem Bartel’schen Gelände keine Verluste an Menschenleben zu registrieren, sondern nur Nutztierverluste, so endete der Feuerwehrball nach dem Bartel’schen Inferno bei Bischoff menschlich gesehen mit einem Toten, vier Schwerverletzten, fünfzehn Leichtverletzen und zwei Vermissten, die bis heute noch nicht wieder aufgetaucht sind. Im Einzelnen sind dabei zu beklagen und zu beweinen: Der Freiwillige Feuerwehrgefreite Willy Faltermann aus Posthausen starb nach dem siebzehnten Bier und Korn an Herzversagen im 32.Lebensalter, die Berufsfeuerwehrleute Beckmann, Pilawa, Kerner und Lanz von der Bremer Feuerwehr überquerten in besoffenem Zustand die B 75 und landeten orientierungslos auf dem Dreckmann’schen Gelände auf der anderen Seite, wie auch immer sie dahin gekommen sein mochten, wo sie ungewollt von den Öffnungen der Erdhöhle angezogen wurden, die noch nicht geschlossen wurde, und in die vor Kurzem noch die Dreckmann’schen Schweine stürzten. Die Berufsfeuerwehrleute brachen sich alle Gräten bei dem Sturz in etwa 7 Meter Tiefe, es mögen auch nur 1,50 gewesen sein. Kein Knöchel blieb verschont, kein Halswirbel, kein Arm- und Beinknochen, sogar die Hüftknochen waren in Mitleidenschaft gezogen sowie auch die Genitalbereiche, was besonders schmerzte. So soll einer der Schwerverletzen noch gerufen haben aus der Tiefe der Schweinehöhle, bevor er von den Achimer Sanitätsrettungskräften hochgehievt und abtransportiert wurde: „Edda, es war immer schön mit dir…“ – was auch immer er damit gemeint haben mag? Die fünfzehn Leichtverletzten sollten hier nicht besonders erwähnt werden, da es sich um alltägliche Verletzungen im Rahmen kleiner Rangeleien und Gewalttätigkeiten in der Niedersächsischen Gastronomie der 50er- und 60er Jahre handelte: Unter anderem schlug der Dorfschneider Brunkhorst dem zugezogenen Schneider Herbert Senior aus Sachsen nach dem achten Bier und dem achten Korn die Gold-Dollar aus der Schnauze. Unter anderem schlug Stalin den Kopf seines Mannschaftskameraden Ruck-Zuck mehrfach durch Griffe in dessen gebriskes, fettiges schwarzes Haar auf den Tresen mit der Warnung: …“wenn du dich noch einmal an Lilo ranmachst, dann geb‘ ich dir dein Stalingrad, die will mich…!“ Unter anderem soll ein Feuerwehrmann aus Oyten einem anderem Feuerwehrmann aus Fischerhude nach dem 11. Bier und Korn auf den Kopf zugesagt haben, dass dieser (der aus Fischerhude) für mindestens 3 ungeklärte Brände in Quelkhorn, Rautendorf und Bülstedt als Brandstifter verantwortlich sei. Woraufhin der Fischerhuder Beschuldigte dem Oytener Ankläger den halben Rest seines Hemelingers vom Fass und den vollen Inhalt seines ungetrunkenen 12. Doppelkorns direkt in die Augen schüttete, was zur kurzfristigen Blindheit des Oyteners geführt haben soll. Daneben gab es wohl noch weitere kleinere unbedeutende, alltägliche Verletzungen der Nasenbeine, der Augen, der männlichen Genitalien und der inneren Eingeweide durch den übermäßigen Genuss alkoholischer Getränke und durch den Genuss von rohfleischigen so genannten Hackepeterbrötchen, die noch am Abend des Bartel’schen Gewittterbrandes noch direkt von Schlachter Cyriacks geliefert wurden.
Allerdings sollten die wegen gemeinschaftlicher mehrfacher Einbrüche Vorbestraften und unter Bewährung stehen Benno Haberland und Willem Dohrmann nicht in den Genuss der Cyriacks’schen
Hackepeterbrötchen mit einer dicken Schicht Zwiebeln obendrauf kommen, da beide die Gelegenheit des Infernos nutzten, um sich für immer aus dem Staub zu machen. Waren sie noch bei den
Rettungsarbeiten auf Bartels Hoff als aktive, soziale Helfer aktiv, und tranken sie später bei Bischoff noch die eine und die andere Runde mit, ohne selbst etwas auszugeben, so waren sie dann
kurz vor der Lieferung der Hackepeterbrötchen plötzlich verschwunden. Und sie sollten dann die nächsten dreiunddreißig Jahre nicht wiedergesehen worden sein. Erst kurz nach der deutschen
Wiedervereinigung wurden zufällig in einem Waldstück bei Ventimiglia an der italienisch-französischen Grenze menschliche Knochenreste gefunden, die sich nach langwierigen, fast vierjährigen
italienisch-französisch-deutschen DNA—Analysen als die Knochen von Haberland und Dohrmann entpuppten. Im italienisch-französischen Grenzgebiet erzählte man sich nach dem Fund der Knochen, dass in
den 60er und 70er Jahren dort zwei Tedesci, die weder italienisch, noch französisch und schon gar nicht englisch sprachen und auch nicht deutsch, sondern so eine Sprache, die man dort am
Mittelmeer bis dahin noch nie gehört hatte, als Auto- und Drogenschieber tätig gewesen sein sollen. Auch war es nicht venezianisch oder toskanisch, wie die beiden Fremden sprachen, auch nicht
römisch oder griechisch, so erzählten die Grenzbewohner auf beiden Seiten, es war eine so sonderbare Sprache, so dass sie von allen nur „indiano“ genannt wurden. Nun gut, später, nach vielen
Erforschungen im Niedersächsischen, wobei das Kriminologische Institut Hannover unter der Leitung von Herrn Prof.Dr.Pf. (mit drei f) sich besonders hervortat, stellte sich lapidar heraus, dass
Haberland und Dohrmann ganz einfach die Sprache gesprochen haben, die sie in ihrem Herkunftsort Bockhorst von gemeinsamer, nachbarschaftlicher Kindheit an gesprochen haben, nämlich Oytener
Plattdeutsch. Kein Wunder also, dass weder die Italiener noch die Franzosen sie verstehen konnten, wenn man bedenkt, dass selbst die Britischen Besatzungskräfte und die hochdeutsch sprechenden
pikfeinen Schwachhauser und Oberneuländer diese Mundart nicht verstehen konnten, die übrigens auch in den Bremer bäuerlichen und proletarischen Vorstädten Osterholz, Sebaldsbrück, Hemelingen,
Mahndorf und Arbergen so ähnlich gesprochen wurde. Von Sagehorn einmal ganz abgesehen, dort wurden am Bahnhof ja selbst die Fahrkarten auf Oytener Platt ausgeschrieben, Ottersbarg – hen un tröch.
So also wurden Jahre später nach dem Bartel’schen Inferno auch die beiden letzten Opfer noch identifiziert. Die sterblichen Überreste wurden auf dem Oytener Friedhof bei der Kirche in einem
Gemeinschaftsgrab beigesetzt. Den Grabstein, den die Gemeinde finanzierte, ziert bis heute die Aufschrift: „Hier ruhen Benno Haberland und Willem Dohrmann, die sich in Italien und in Frankreich
um die Verbreitung der Niederdeutschen Sprache verdient gemacht haben“
Herbert Junior betrachtete das Bartel’sche Inferno zusammen mit seiner Mutter Hilda aus sicherer Distanz vom obersten Fenster der Flüchtlingswohnung aus. In gut 700 Meter Entfernung sahen sie wie das Bartel’sche Anwesen dem Erdboden gleichgemacht wurde, sie sahen das brennende Vieh und die hilflosen Rettungskräfte, die sich anschließend bei Bischoff versammelten. Auch sahen sie das Fußballspiel der Kinder und der Jugendlichen, und sie wunderten sich aus der Entfernung darüber, wie selbstverständlich die schweren Blitzeinschläge und die damit verbundenen Schicksalsschläge der Bauern von den Kindern und Jugendlichen hingenommen wurden. Als sei nichts geschehen, gingen sie zum alltäglichen Dorfalltag über und spielten inmitten der spärlichen Überreste eines der schwersten Gewitterbrände in Niedersachsen seit den Bombenangriffen der Alliierten auf Hannover, Bremen und Verden Fußball. Wie das nur angehen könnte wunderte sich das Flüchtlingskind, das ja nunmehr auch nicht mehr als Kind bezeichnet werden konnte, obwohl seine körperliche Hülle die eines 10jährigen Kindes entsprach. Hilda, die Schneiderin aus Domnau, die zusammen mit Herbert Junior das Gewitter- und Brandgeschehen vom Flüchtlingsheimfenster aus beobachtete, sagte beruhigend zu ihrem Flüchtlingssohn: „ Sei froh, dass du nicht mitmachen musstest beim Löschen, da hättest du nur gehustet. Na, und Fußballspielen kannste ja sowieso nich“. „Dafür bin ich aber besser als alle anderen in Schach und Peddigrohr!“ entgegnete Herbert Junior, worauf Hilda, die Mutter, nur noch sagen konnte:“Ja, das bist du, und auch in den Pilzen bist du gut, besser als alle anderen.“
Sie schlossen die Fenster des Flüchtlingsheimes, weil schwefeliger stinkender Geruch vom abgebrannten Bartelshof herüber kroch in die gesamte Umgebung und besonders für die Lungenkranken gefährlich war. Die Nachkriegskinder Ipa und Mausi kamen nach Stunden völlig verdreckt und verräuchert vom Brandherd und dem Fussballspielfeld zurück, um noch je vier Sirupbrote zu verdrücken und sich dabei die Mäuler zu verkleben, und um dann total übermüdet und total überdreht in die gerade freien Bettstellen der Flüchtlingswohnung zu fallen. Wobei Ipa vor lauter Aufregung und vor lauter Verarbeitung des Gewittererlebnisses kein Wort hervorbrachte, trotz einiger Versuche. Er blieb bei den Anfangskonsunanten der geplanten Wörter stecken und gab auf, als die Folgevokale nicht folgen wollten. Ein Gedicht aufzusagen fiel ihm in dieser schwierigen Situation auch nicht ein, so dass er den Tag sprachlos und ungesäubert beendete. Auch sollte er dann schlaflos bleiben, weil seine psychopathischen Störungen besonders in der Nacht auf seinen Körper und auf seine Seele wirkten. So schrie und weinte er regelmäßig in der Nacht, weil seine Gehirnwindungen durch die besagten Störungen völlig außer Kontrolle waren und sich wie auf einem schnelllaufenden Karussell drehten und verdrehten und fürchterliche Ängste bei ihm erzeugten. Mausi hingegen, die genauso wie Ipa ungesäubert blieb, betonte vor ihrem Bettgang noch gegenüber ihrer Mutter Hilda und ihren Brüdern Herbert Junior und Ipa, dass solche Naturkatastrophen wie Blitzeinschlag im real existierenden Sozialismus der DDR kein Problem mehr sei, da die sozialistischen Naturwissenschaften ja einfach verantwortungsvoller und humaner mit den Menschen umgehe und auf allen Öffentlichen Gebäuden und auf allen Parteigebäuden moderne Blitzableiter installiert habe. Die Gebäude im Bildungslager der Freien Deutschen Jugend am Scharmützelsee jedenfalls, so sie vehement, seien völlig sicher und würden jedem Blitz und jedem sonstigen imperialistischen Angriff durch die kapitalistischen Westmächte standhalten. Das dritte Nachkriegskind, das jetzt langsam lernte, aus dem Kinderwagen der Vorkriegszeit selbständig aufzustehen und zur Mutter zu krabbeln, rief, oder besser gesagt: schrie lauthals:“ Pisspottpisspottrunnerbring“ – was immer er damit gemeint haben mag. Herbert Senior jedenfalls war an diesem Abend nach dem Brand auf Bartels Hoff nicht nach Hause zurückgekehrt. Er soll noch, wie man später erzählte, mit Schulz persönlich und einem weiteren Herrn sowie drei dorfbekannten Damen, die sich ebenfalls bei der Löschfeier bei Bischoff eingefunden hatten, hinten in Schulz‘ „Büro“ versammelt haben, um weitere Löschversuche zu unternehmen. Genaues, so das Getuschel später im Dorf und in der Flüchtlingssiedlung, was da im Büro von Schulz noch gewesen ist, weiß man bis heute nicht; „und keiner will es auch nicht wissen“, wie Hilda, die Schneiderin aus Ostpreußen, später lakonisch zu der Angelegenheit sagte.
Nun, und wie sollte das nun alles weitergehen? Besonders mit dem totkranken Herbert Junior. Konnte es unter ärztlichen und gesundheitlichen Aspekten
weiterhin verantwortet werden, dass Herbert Junior in dieser schrecklichen Flüchtlingswohnung verblieb, die zur ständigen Verschlechterung seines Gesundheitszustandes beitrug, oder musste eine
Verschickung für immer und ewig in eine der Lungenanstalten an der See oder im Hochgebirge vorgenommen werden? Die Entscheidung der behandelnden Ärzte, voran Dr. Spanner, ließ nicht lange auf
sich warten. Auch die Vertrauensärzte des Versorgungsamtes und der Rentenversicherungsanstalt waren gemeinsam mit Dr.Spanner der Auffassung, dass nunmehr bei Herbert Junior „Nägel mit Köpfen“
gemacht werden müssten. Herbert Junior, so die offiziellen Verlautbarungen der versammelten Ärzteschaft, müsse nunmehr langfristig aus seinem häuslichen Milieu herausgenommen werden, um weitere
Lungenschäden zu vermeiden. Und so entschieden sich die Lungenexperten für eine erneute, langfristige Verschickung des todkranken Flüchtlingskindes auf eine Nordseeinsel, auf der der Ozongehalt
der Luft besonders hoch sei wegen der ungewöhnlich hohen Meeresbrandung. So entschied sich die versammelte lungenmedizinische Kompetenz unter Einbeziehung der verzweifelten Eltern, die beide ja
mehr oder weniger Schneider waren, das Kriegs- und Flüchtlingskind Herbert Junior, das ja inzwischen zu einem jungen Nachkriegsjugendlichen herangereift war, ohne dass das körperlich zu erkennen
war, weil die körperliche Statur dem Wachstum des Verstandes und der Intelligenz des kranken Jungen nicht folgen wollte, … das Kriegs- und Flüchtlingskind Herbert Junior also erneut zu einem
längeren Aufenthalt an die Nordfriesische Küste zu verbannen!.
Also eine erneute Verschickungsreise von Herbert Junior, der ja als Schwerbehinderter auf allen Strecken und Linien freie Fahrt hatte, begleitet von seinem Sächsischen Vater Herbert Senior, der einen grünen Ausweis des Versorgungsamtes für die Berechtigung zur freien Fahrt als Schwerbehindertenbegleiter immer bei sich trug und auch dann einsetzte , wenn die Schwester aus Sachsen oder das Gefichel aus dem Ruhrgebiet oder aus England die öffentlichen Verkehrsmittel nutzten. Dann fuhren nämlich alle umsonst auf Kosten des Versorgungsamtes. „Nu, sin mer nüsch alle ürschendwo beschissen wordn – also fohrn mer alle auf men Ausweis, nu !“
Der Abschied von Herbert Junior war für alle in der Flüchtlingsfamilie nicht einfach. Irgendwie spürten alle fünf, die nicht an die Nordsee mussten, bis auf Herbert Senior, der ihn ja begleiten würde, dass er nun wohl sehr lange wegbleiben würde. Andererseits kam heimliche Freude wegen der Herbert’schen Abwesenheit auf, da ja die Stube, in der Herbert Junior sein Bett hatte, dann frei zugänglich würde, und da ja auch dann mit weiteren Herbertattacken im Hinblick auf Schach, Peddigrohr, Pilze und Kunstmalen nicht zu rechnen sei. Die bevorstehende erneute Abreise von Herbert Junior mit seinem Vater Herbert Senior in die Heilklinik Seeschwalbe in Wyk auf der Insel Föhr sprach sich schnell herum in der Flüchtlingssiedlung und auch bei den Bauern und Gutsbesitzern und im gesamten Dorf. So kamen einige vor der Abreise noch einmal vorbei im Flüchtlingsheim, um Herbert Junior alles Gute zu wünschen und um ein wenig Reiseproviant für Vater und Sohn vorbeizubringen. Schulz persönlich brachte Reiseschokolade und kleine Schnapsfläschchen, Tante Mimmi aus Bockhorst brachte zwei Gläser eingemachte Birnen und frischen Butterkuchen, Lehrer Schmolke überreichte bildungsbeflissen diesen kleinen Band „Irisches Tagebuch“ von Heinrich Böll als Reiselektüre; Fredi, der älteste Sohn des Spargeldiebes, gab abgelesene und abgegriffene schmale Akimhefte mit; Onkel Johann Jäger von gegenüber auf der anderen Seite der B75 überreichte eine dicke Mettwurst von der letzten Hausschlachtung mit dem Hinweis: „De könnt schi inne Isenbaun äeten oder oppn Schipp, Seeluft macht hungrig!“ Sonkowski kam zusammen mit Max Herzfeld hoch, um dem jungen Herbert Junior zu wünschen, dass seine Lunge nun endlich besser werde, und um Herbert Senior je eine 10er-Packung Juno, Overstolz, Gold-Dollar und Eckstein zuzuschieben mit dem Hinweis, dass er sich ja nicht in der Seeluft das Rauchen abgewöhnen solle. Die adventistische Tante Hanni, die Tochter und Erbin der von und zu Herrlichmühlen, kam in Begleitung ihres adventistischen Erbschleichers Kreidelutzschki und der lutherisch-christlichen Oma der von und zu Herrlichmühlen, die ja diese wunderbaren Bratkartoffeln zubereiten konnte, herüber in den Flur der Flüchtlingsnotunterkunft, um den beiden Reisenden in spe Gottes Segen zu überbringen, und zu ermahnen, zukünftig in Ehrfurcht und Liebe dem Schöpfer gegenüberzustehen – dann werde es auch mit der Heilung der Lungenkrankheit an der See sicherlich alles klappen. Als Reiseproviant für die beiden Reisenden brachten die religiösen Menschen mit: 2 Äpfel, 1 Glas eingemachte Zwetschgen, 4 hartgekochte Eier, 1 Kanten Brot und ein Glas fette eingekochte Leberwurst. Tante Hanni gab den beiden Reisenden mit ihrer unverwechselbaren amerikanisch-plattdeutsch-hochdeutschen Sprache noch mit auf den Weg: „ We all hebbt use Schicksal sülms inne Hand. Wi sülms möht das Beste dorut mauken. De leve Gott kuckt sich das von oben an, and he will stop the illnes oft he world und the illnes oft the Flüchtlingschildrin, wenn he will do it.“ Großzügig fügte sie noch hinzu, dass die Miete für die Flüchtlingswohnung trotz der Abwesenheit der beiden Herberts weiterhin fällig sei, es könnte ja in der Zwischenzeit die Verwandten aus England, Sachsen oder aus dem Ruhrgebiet die freien Betten belegen, wobei sie dann auf die zusätzliche Bettenmiete pro Besuchsperson verzichten würde. Hilda, die Schneiderin aus Ostpreußen, weinte bei so viel Großzügigkeit und fragte die Oma, ob sie dann manchmal in der Küche helfen könnte, da sie dann ja mehr Zeit habe, weil sie sich ja nicht um Herbert Junior kümmern müsste – die anderen drei Packaluten, so Hilda, könne sie ja auch aus der Küche der Herrlichmühlen im Auge behalten, zumal sie ja sowieso nicht wüsste, wo die „Bester“ sich den ganzen Tag rumtreiben würden.. Flaig von unten aus der Bessarabierneubausiedlung brachte noch Hasenfleischsülze; Frau Hoppe aus Schlesien, die ja damals kurz nach dem Krieg den Sittlichkeitsskandal mit dem Sexualschwein Horst aus Hamburg-Moorfleet ausgelöst hatte, brachte Schlesische Dauerwurst; und Tante Anna, die Frau des Maurermeisters Diddi, aus Oytermühle, brachte, großzügig wie sie immer war, Geldscheine, - es waren wohl US-Dollar, woher sie immer die erworben haben mag - , für die Reisenden mit dem Hinweis: „Wenn ihr in Altona schon Hunger von der langen Reise habt, dann geht hin und holt euch ein Hamburger Aalbrötchen, das schmeckt!“
Hilda, die Mutter, die nicht mitreisen würde, und die drei anderen „Bester“ betrachteten die Abschiedszeremonien der Nachbarn mit Wohlwollen, aber auch mit einer gewissen Angst und it einem gewissen Neid. So ließ sich Mausi, die ja eine frühkindliche außerfamiliäre Erziehung im Sozialistischen Lager genießen durfte, im Angesicht der Reisegeschenke für den Bruder und den Vater zu der gemeinen Äußerung hinreißen: „ Wenn du was vom Adel, von den Herren, von den Bauern und Junkern haben willst, dann musst du husten und spucken!“ Ipa, das 1.Nachkriegskind der Schneider Herbert aus Sachsen und Hilda aus Domnau / Ostpreußen, der das Verabschiedungsritual des Bruders und des Vaters wieder einmal aus der höchsten Spitze des Kastanienbaumes beobachtete und sich seinen Selbstverletzungsritualen hingab, rief hinunter auf den Hof des Gutsbesitzers und auf den Vorgarten zum Flüchtlingsheim - oder sagen wir besser und wahrheitsgetreuer: er versuchte herunterzurufen, ließ aber davon ab und sagte stattdessen, so laut er konnte, damit es alle unten hören konnten, fehlerlos und ohne sprechtechnische Störungen ein Gedicht von Gottfried Benn auf, das er bei Claus Köhler in der Mittelschule in Achim gelernt und vor ihm und der gesamten Klasse fehlerfrei aufgesagt hatte :
„D-Zug,
Braun wie Kognak. Braun wie Laub. Rotbraun. Malaiengelb. D-Zug Berlin-Trelleborg und die Ostseebäder. Fleisch, das nackt ging. Bis in den Mund gebräunt vom Meer. Reif gesenkt, zu griechischem Glück. In Sichel-Sehnsucht: wie weit der Sommer ist! Vorletzter Tag des neunten Monats schon! Stoppel und letzte Mandel lechzt in uns. Entfaltungen, das Blut, die Müdigkeiten, die Georginennähe macht uns wirr. Männerbraun stürzt sich auf Frauenbraun: Eine Frau ist etwas für eine Nacht. Und wenn es schön war, noch für die nächste! Oh! Und dann wieder dies Bei-sich-selbst-Sein! Diese Stummheiten! Dies Getriebenwerden! Eine Frau ist etwas mit Geruch. Unsägliches! Stirb hin! Resede. Darin ist Süden, Hirt und Meer. An jedem Abhang lehnt ein Glück. Frauenhellbraun taumelt an Männerdunkelbraun: Halte mich! Du, ich falle! Ich bin im Nacken so müde. Oh, dieser fiebernde süße letzte Geruch aus den Gärten.“
Alle, die unten unter der Kastanie das Gedicht von Benn, aufgesagt von Ipa, sich angehört hatten, erstarrten fassungslos für mindestens 2 Minuten und ließen voller Scham die Köpfe nach unten sinken. Mausi reagierte danach als Erste und schrie hoch in die Spitze des Kastanienbaumes: „Dekadent! Amerikanisch! Konterrevolutionär! Bürgerlich!“. Tante Hanni rief dem Gedichtaufsager oben im Baum zu: „ Solche Schweinereien lernt ihr also inne Middelschool, ji Pottfarken!“ Während Max Herzfeld, dem man eigentlich einen Kommentar zur Deutschen Nachkriegslyrik überhaupt nicht zugetraut hätte, zu aller Erstaunen einwarf: „Sagt mal, dieser Benn, ist das nicht dieser bekloppte Nervenarzt aus Berlin, der selbst mit de‘ Nerven fertig war? Soll’ er nich‘ auch aus seinem Arztschrank sich selbst sein Morphium jespritzt haben, so sagt man! “ Tante Anna aus Oytermühle, die immer auf Harmonie und Eintracht bedacht war, wiegelte ab und rief dazu auf, sich doch zu vertragen:„Hat tscha kein‘ Zweck sich wegen so’n Berliner Dichter inne Haare zu kriegen, er wird ja wohl wissen, was er schreibt.“ Ipa, der oben in der Kastanienkrone sehr stolz war, dieses lyrische Meisterwerk, wie Claus Köhler es ja nannte, einwandfrei und auch mit der richtigen Betonung vorgetragen zu haben, verstand die Diskussionen und die Aufregungen unten auf dem Hof wegen des Gedichtes nicht, und er fragte sich wieder einmal auf sich selbst bezogen, ob es um ihn ginge oder um Claus Köhler. Wie sollte er nur morgen im Deutschunterricht dem Köhler erklären, welche Aufregung um sein Gedicht entstanden war. So beschloss er den Baum nicht zu verlassen und noch ein Weilchen, vielleicht ein bis zwei Tage, oben in der Krone zu bleiben, um dem Deutschunterricht in der Mittelschule bei Köhler zu entgehen. In späteren Nachkriegszeiten, spätestens aber nach dem Abzug der Engländer und der Einführung einer modernen Pädagogik in den Schulen der Westzonen und nach der Gründung so genannter Hochschulen für Pädagogik und Frauenfachschulen für Soziale Arbeit, nannten sie Ipas Baumfluchtverhalten: Schulverweigerung.
Tante Hanni von und zu Herrlichmühlen hatte sich bereiterklärt, Herbert Junior und seinen Begleiter Herbert Senior am Tag des erneuten Heilkurantrittes in ihrem großen amerikanischen Auto der Marke Buick, das Ende der 50er Jahre mit einem Hapag-Lloyd-Schiff von Portland in Amerika nach Bremerhaven transportiert wurde, zum Hauptbahnhof nach Bremen zu transportieren. Um 5 Uhr in der Früh war Abfahrt. Und wer geglaubt hatte, dass nur Herbert Senior und Herbert Junior sich zur Abfahrt einfanden, der sah sich getäuscht, denn sowohl Hilda, die Mutter des kranken Flüchtlingskindes, als auch die drei anderen Nachkriegskinder fanden sich ein, um den kranken Herbert auf dem Bremer Bahnhof zu verabschieden. Nun gut, so quetschten sich alle, 7 Personen, hinein in dieses amerikanische Autoschiff, das ja immerhin mindestens doppelt so groß war wie diese VW-Käfer, die jetzt überall die Bundestraßen und die Autobahnen bevölkerten. Selbstverständlich saß Herbert Senior vorne auf dem Beifahrersitz neben Tante Hanni und rauchte eine filterlose Zigarette aus dem von Herzfeld und Sonkowski geschenkten Reisevorrat nach der anderen, mal eine Juno, mal eine Eckstein, während sich die anderen Fünf auf der breiten Bank des Hintersitzes des Autoschiffes die Plätze teilen mussten. Dabei mussten die Nachkriegskinder 1,2, und 3 ganz links fast auf dem Bodenblech des Autoschiffes verschwinden, so wie es Herbert Junior bestimmte, damit er und seine Mutter Hilda, die ja seit langer Zeit zum ersten Male wieder in die Stadt fuhr, genügend Platz hatten, um die Fahrt und die Ansichten links und rechts der Fahrt in Ruhe zu genießen. Und bei jedem Anblick aus dem amerikanischen Auto heraus, der sie in gewisser Weise an die letzten Jahre nach der Flucht aus Ostpreußen erinnerte, rief sie verzückt zum Beispiel: oh kuck mal Krohmes Pferde, oh kuck mal Blankes Hof, oh kuck mal: da wohnen Anna und Diddi, oh kuck mal Appmanns Backsteinhaus, oh kuck mal hier wohnt der Bürgermeister von Oyten, oh kuck mal Fesenfeld und Höper,…und so ging es weiter über Zöllner, Oyterdamm, Tenever bis Depot, wo die Straßenbahnen endeten. Ab Depot jedoch verstummte sie, da sie in all den Jahren seit der Ankunft in den Westzonen selten Gelegenheit hatte, über den Zenit Depot hinauszukommen, da sie gebunden war an die Sorge um die „Kinderschen“, und hier besonders um das „Herbertschen“ und an das unwürdige Leben in der Flüchtlingsnotunterkunft ohne fließend Wasser.
Ab Sebaldsbrücker Depot ging es nun, diesmal nicht in den Straßenbahnen der Linien 2 und 10 mit den Lederbandsignalen, die man ziehen musste, wenn man aussteigen wollte, und mit den Herrschaftshochsitzen der Schaffner am hinteren Eingang, sondern in einem der modernsten amerikanischen Limousinen , das jemals in die die Stadt Bremen eingefahren war, weiter bis Bremen Hauptbahnhof. Sebaldsbrücker Heerstraße, vorbei an Zeppelinstraße und Eisenbahnunterführung Föhrenstraße, weiter über Hastedter Heerstraße, dann einmündend in die Stresemannstraße und weiter in die Bismarckstraße. Während das Flüchtlingskind Herbert, das ja hier im Mittelpunkt der Fahrt zum Bahnhof stand, und auch die 3 Nachkriegskinder, keinen Blick hatten für die städtischen Ansichten der ehemals zerstörten Stadt, die sich inzwischen ja im Wiederaufbau befand, saß Herbert Senior wie der Herr von und zu persönlich vorne und blies den Rauch seiner inzwischen vierten Eckstein ohne Filter durch das offene rechte Beifahrerfenster hinaus in die Bremer Nachkriegsluft. Hilda hingegen, die aufmerksam und interessiert den weiteren Wegeverlauf ab Sebaldsbrücker Depot registrierte, fragte nach dem Passieren der Stresemannstraße und kurz vor dem Ende der Bismarckstraße, ob nun wohl in Kürze auch noch die Hindenburgstraße und die Hitlerstraße kommen würde. Herbert Senior von vorne vom Beifahrersitz drehte sich kurz um und regulierte seine Frau Hilda, die ja eben so wie er Schneiderin war: „Nu, warum sollte er hier in Bremen eene Straße bekommen, er war ja nie hier.“ Mausi mischte sich ein und behauptete: „Na klar, bald werden wir hier in den imperialistischen Zonen auch wieder Hitlerstraßen haben. Aber das werden die sozialistischen Brüdervölker, die sich ja gerade zum Warschauer Pakt zusammengeschlossen haben, schon zu verhindern wissen durch die höhere menschliche Intelligenz und durch die höhere militärische Bereitschaft zur Herstellung des Weltfriedens.“ Herbert Junior, der hinten im Fonds des riesigen amerikanischen Wagens angeschmiegt an seine Flüchtlingsmutter und nicht nur ein wenig atmungstechnisch beeinträchtigt war durch Eckstein und Juno, forderte alle im Buick Sitzenden auf, doch nun endlich aufzuhören mit Hitler und den Russen, es habe ja sowieso keinen Zweck mehr. Und weiter referierte er, dass er, wenn er gesund und geheilt von Föhr zurückkäme in einigen Wochen, wohl einen Schachverein gründen wolle und eine kleine Peddigrohr-Fabrik. Ipa hatte es sich unten unter dem Hintersitz an den Fußenden der Hinten sitzenden bequem gemacht. Er sah deshalb nichts von der Fahrt, weder links noch rechts, und war so auch entlastet, irgendetwas zu den Gesprächen und Fragen oben im Wagen beitragen zu müssen. Was ihm außerordentlich angenehm war, da er ja ohnehin in der Anwesenheit der Eltern und in der Anwesenheit von Tante Hanni, die ja das amerikanische Luxusgefährt steuerte, keinen vollständigen Satz herausgebracht hätte. Es sei denn, sie hätten ihn aufgefordert, das Gedicht von Theodor Storm von der grauen Stadt am grauen Meer aufzusagen, was ja gepasst hätte, da die bevorstehende Reise des Bruders und des Vaters nunmehr hoch nach Nordfriesland gehen sollte – wo auch immer das sein mag.
Es hieß nun Abschied nehmen von Herbert Junior für mindestens 10 Wochen. Herbert Senior würde ja nach 4–5 Tagen zurückkehren, vorausgesetzt, dass er alle Busse, Schiffe und Eisenbahnen für die Rückfahrt dann erreichen wird. Abschied oben am Bahnsteig 12, außerhalb des überdachten Bahnhofes. Angekommen gerade so eben 5 Minuten vor Ankunft und Abfahrt des Zuges mit vier großen Gepäckstücken und drei Fahrtverpflegungstaschen , am Hamburger Bahnsteig, erkannten jetzt zum ersten Male alle die, die beiden reisenden Herberts auf den Bahnsteig begleiteten – Tante Hanni war unten in ihrem amerikanischen Wagen verblieben und wartete – die reale erneute Abschiedssituation von dem kranken Flüchtlingskind und dem Bruder. Hilda fragte noch:“Na, wo sind denn hier die Züge, es dampft ja gar nicht?“ Nirgendwo auf den Bahnsteigen waren, wie vor dem Krieg und nach dem Krieg, diese bekannten schwarzen schnaubenden Ungeheuer mehr zu sehen, da die Bahn inzwischen modernisiert wurde, was Hilda ja nicht wissen konnte, da sie ja schon mehrere Jahre keinen Bahnhof mehr betreten hatte. Zuletzt im Jahre 56 anlässlich einer Fahrt ins Ruhrgebiet zu ihrer Mutter und zu ihren Geschwistern, die alle dort unten bei Recklinghausen gelandet waren – bis auf die beiden besagten Schwestern aus England, die aber ursprünglich gleich nach der Flucht auch dort unten bei den Bergleuten und Taubenzüchtern gelandet waren.
Pünktlich um 5 Uhr 55 rollte dann auf leisen Sohlen der Schnellzug, aus dem Ruhrgebiet kommend und von einer modernen Diesellok gezogen, auf Gleis 12 ein. Herbert Junior rief froh: „Kuckt mal, eine neue Lok, endlich kein Qualm mehr im Abteil!“ Was Herbert Senior natürlich abmildern musste: „Nu, a bisserl Qualm wird wohl bleibm, mir hobn ja Rocherabdeil!“ Schnell fanden Herbert Senior und Herbert Junior ihren Raucherwaggon der 2.Klasse, hievten die 7 Gepäckstücke erst einmal in den Gang und nahmen ihre reservierten Schwerbehindertenplätze ein. Das Gepäck wurde jetzt Stück für Stück nachgeholt an die Plätze und teilweise oben in der Gepäckablage verstaut, dann wurde das Abteilfenster herunter geschoben und beide standen nun am offenen Fenster zur Abreise bereit, während unten auf dem Bahnsteig Hilda mit den drei restlichen Nachkriegskindern mit weißen, frischgebügelten Taschentüchern bereitstanden, um das bekannte Klischee des Abschieds von Reisenden am Bahnsteig zu bedienen. Hilda rief ihnen noch zu: „Fahrt vorsichtig und lasst euch beim Umsteigen helfen von der Inneren Mission!“ Mausi konnte nicht umhin noch ihrem Bruder zuzurufen:“ Sammel bitte Nordseemuscheln für mich, ich will se mitnehmen ins Lager. Die haben ja nur Ostsee.“ Während das 3.Nachkriegskind im Kinderwagen eingeschlafen war, stand Ipa, das 1.Nachkriegskind, sprachlos unter der riesigen Bahnhofsuhr und passte auf, ob auch pünktlich zur Abfahrt gepfiffen wurde von dem Bahnsteigbeamten mit der riesigen roten Schärpe und der riesigen roten Mütze und dieser riesigen roten Kelle. Und siehe da: Pünktlich um 5 Uhr 55, der große Zeiger wanderte langsam auf die 12, ertönte der Pfiff zur Abfahrt des Zuges. Die weißen Tücher kamen jetzt wie wild zum Einsatz. Mausi rannte noch ein Stück mit mit dem anfahrenden Zug, Hilda flossen die Tränen in Bächen herunter, das 3.Nachkkriegskind plärrte im Kinderwagen und Ipa stand gedankenverloren immer noch nahe der großen Bahnhofsuhr und sprach leise für sich ein Gedicht von Adalbert von Hanstein, das er in der Mittelschule Achim bereits mehrmals mit großem Erfolg vor dem gesamten Kollegium und ausgewählten lyrikinteressierten Mitschülern und Mitschülerinnen vorgetragen hatte, vor sich hin:
Auf dem Bahnhof, Funkensprühender Schienenlauf, Schimmert im Achterstrahle, Mächtig weitet die Halle sich auf, Wölbt den steinernen Bogen hinauf, Über dem
dunkeln Portale. Schweigend flutet die Nacht herein, Schwarz und märchengewaltig. Buntfrohe Achter brennen darein, Werfen zu Boden in zuckendem Schein Schatten tausendgestaltig. Flammenzuckender
Schienenstrang, Eisengewordener Wille, Hoffender Seele sehnender Drang, Schickt dir die hastenden Wünsche entlang In die verglühende Stille. Tauchen mit dir in die sprühende Pracht, Blitzen und
tanzen und glimmen, Strecken sich hin mit unendlicher Macht, Um in der feierlich schweigenden Nacht
Spurlos wie du zu verschwimmen!
Nach gut 7stündiger mühseliger Reise mit Umsteigen in Hamburg-Altona in den Zug nach Niebüll, einem weiteren Umsteigen in Niebüll in den Zug nach Dagebüll, dort in kurzer Umsteigezeit auf das Schiff nach Wyk auf Föhr gehastet, mit einer folgenden 1stündigen Schifffahrt rüber nach Wyk auf Föhr Hafen, um von dort mit einem Klinik-Kleinbus weiter transportiert zu werden in die Kinder- und Jugendklinik „Seeheim Seeschwalbe“ nach Utersum am Westende der Insel Föhr. Herbert Junior kam außerordentlich erschöpft an, er musste sofort in ärztliche Betreuung und in ein Klinikbett, während Herbert Senior ein Gästezimmer beziehen durfte, um sich dort erst einmal ein weiteres von diesen kleinen Fläschchen, die Schulz als Reiseproviant mitgegeben hatte, zu gönnen und sich am weit geöffneten Fenster, in das sehr frische Seeluft hineinströmte, eine weitere Juno anzustecken. Dabei hatte Herbert Senior wohl am Eingang der Klinik das große Verbotsschild „Rauchen auf dem gesamten Klinikgelände nicht erlaubt“ übersehen, was ihn sicherlich aber auch nicht, hätte er es zur Kenntnis genommen, davon abgehalten hätte zu rauchen. Während Herbert Junior in den ersten Tagen die Klinik nicht verlassen durfte, weil er ja wieder einmal gründlich medizinisch durchgecheckt werden musste, nutzte Herbert Senior seine Zeit auf der Insel für eine persönliche Erholung und Entspannung. Lange Spaziergänge durch die Wiesen des Westerlandes und des Osterlandes der Insel bis in das Dorf Wyk und zurück genoss er. Im Dorf Wyk aß er einmal in einer Fischbratküche herrlichen panierten Kabeljau mit Kartoffelsalat und trank dazu ein bis fünf kühle Biere und ein bis vier Küstenkümmel. Ansonsten wurde er als Begleitperson ja mit in der Klinik versorgt, und darüber hinaus hatte er ja auch noch genügend Reiseproviant in der Reisetasche. Auch saß er oben am Deich in Utersum auf so einer Schäferbank und schaute einfach hinaus ins Meer und ins Watt und ins Seevögelschutzgebiet und dachte still darüber nach, wie nun alles weitergehen solle. Dabei fragte er sich ebenso still und den würzigen Geschmack der Eckstein in sich hinein saugend,, ob es denn überhaupt noch Sinne mache zurückzukehren aufs Festland in diese anstrengende und sinnlose Nachkriegsrealität. Was soll denn, so fragte er sich auf der Schäferbank, sich dabei noch eine weitere Juno oder Eckstein und eines dieser kleinen Fläschchen aus dem Reiseproviant von Schulz hervorholend, alles werden, wenn Herbert Junior nicht mehr sei, und wenn Ipa ins Erziehungsheim nach Ellen gesteckt würde, und wenn Mausi endgültig ins Sozialistische Lager abwandern würde. Dann bliebe ihm ja nur noch, so grübelte er im Anblick der untergehenden Nordsonne über dem Meer, sein 3.Nachkriegskind, das ja nun erst gerade selbständig laufen lernen würde.
Herbert
13
11.Februar 2013
Landleben! Landidylle? Neue Heimat?
Neue Kalte Heimat? Kalte Neue Heimat?
Hurra, wir leben noch! Das galt nicht nur für die Erdhöhlenbande. Das galt ebenso für alle anderen Nachkriegsdorfbewohner, die es fast gar nicht bemerkt hätten, dass ihre Kinder, Geschwister, Enkel und sonstigen Abkömmlinge und Verwandten fast dem elenden Erstickungstod durch das Eindringen der Schweine in die Tiefe der Erdhöhle hingegeben worden wären. So waren alle froh ihre Lieben wieder in die Arme schließen zu können, um ihnen im zweiten Atemzuge kräftig den Arsch zu versohlen wegen des unermesslichen Leichtsinnes dieses Bergbaus. Der alte Dreckmann jedenfalls, der zusammen mit seiner Frau Else Dreckmann, die eigentlich Elisabeth hieß und gar nicht seine angeheiratete Frau war, sondern nur seine Haushälterin und Begleiterin bei den Dreschmaschinenarbeiten im Landkreis, und der, so erzählte man sich bei Bischoff, Schulz und Segelken, höherer Unteroffizier bei der Waffen-SS gewesen sein soll, verbot ab sofort jegliches Betreten seines Geländes, seien es Kinder, seien es Jugendliche und auch Erwachsene. Er erklärte es in seiner Mischmundart aus niedersächsischem Platt und dem von den Britischen Besatzungskräften verordneten Norddeutschen Hochdeutsch: „ Da iss jetzt Schluss mit mit düsse Schweinereien auf mein‘ Gelänne düsse Flüchtlinge wüll ick up min Hoff nich mehr sehn de könn tröch nau Breslau un Sibirien“.
Und er nagelte ein Warnschild mit der handgemalten Aufschrift „ Kein Zutritt für Juden, Flüchtlinge und Kinder“ an seine Eingangspforte, an der vor kurzem noch Herbert Junior, das lungenkranke Flüchtlingskind, von Stalin, dem Mittelstürmer, der unter Bewährung stand, überrumpelt wurde, was letztendlich zur Katastrophe auf dem Dreckmann’schen Spiel- und Kampfgelände führte. Horst Dreckmann jedenfalls, der Sohn des Dreschmaschinenbesitzers, und der von Frollein Koch, wie wir ja bereits wissen, nur „Dreschmann“ gerufen wurde, musste später die 7.Klasse wegen des Höhlenvorfalls erneut wiederholen, was seine Schullaufbahn dann vorzeitig beendete, da er mit der 8.Klasse die Schule verlassen musste ohne Reifezeugnis, was dann letztendlich Jahre später dazu führte, dass er der erfolgreichste Agrardienstleister im gesamten Landkreis wurde mit 5 Mähdreschern, 15 Melkanlagen, 7 Großscherenpflügen und 3 Unimogs. Auch den Kohlenhandel baute er aus, um dann noch später in den profitablen, von Amerika und England gesteuerten, Heizölhandel einzusteigen.
Stutzke, der Anführer der Mühlengrabenbande, und seine Bandenmitglieder taten so, als hätten sie mit den gesamten Vorfällen auf dem Dreckmann’schen Gelände nichts zu tun. Sie stolzierten wie die Hähne am Fussballkasten bei Bischoff vorbei, um zu schauen, ob
Stutzke auch wieder als Mannschaftsführer und Mittelstürmer der B-Jugend aufgestellt war. Dabei frohlockten sie noch hämisch, als die Mannschaftsaufstellung auswies, dass Ipa, Diekmann, Faber, Sonkowski, Dreckmann, Fiddi Mahlstedt und all‘ die anderen Spieler von der rechten Seite der B75 – von Bremen aus gesehen – nicht aufgestellt waren. Mausi, die bei dem Schauspiel zufällig auf der anderen Straßenseite von Bischoff in ihrer Uniform anwesend war, weil sie bei Schulz für Herbert Senior 10 Eckstein
holen musste und auch noch 3 Hemelinger und eine halbe Flasche Korn, da er die Nacht wegen eines Anzuges für Krohme durcharbeiten musste, um dann am Nachmittag um 14 Uhr wieder zur Spätschicht bei Lloyd-Dynamo zu erscheinen, und was alles angeschrieben werden sollte, rief der Mühlengrabenbande über die Straße mit erhobener Faust zu: „ Hoch, hoch, hoch, es lebe die internationale Solidarität. Proletarier aller B-75-Seiten vereinigt euch!“ Schulz persönlich, der das Lamento an der Straßenkreuzung mitbekommen hatte, kam aus seinem Laden heraus und rief der agitatorisch deklamierenden Jungen Pionierin zu: „ Na wirst du mal nach Hause, dafür hab‘ ich nich anjeschrieben, dass du hier an der Kurve die Jungs kuschunierts!“
Nach Ende des Kalten Krieges zwischen der Mühlengrabenbande und der Erdhöhlenbande trat wieder Normalität in der Britischen Besatzungszone ein. Die letzten Deutschen Kriegsgefangenen kehrten aus den Lagern in England, Amerika und Sibirien zurück auf ihre Bauernhöfe in Niedersachsen und erkannten ihre Anvertrauten nicht wieder, da diese inzwischen, nach Ausstellung der Todesurkunden durch den Suchdienst des Deutschen Roten Kreuzes, neue ländliche Verbindungen eingegangen waren, zum Teil auch mit Besuchern der Niedersächsischen Provinz, die sich im Hinblick auf die Hautfarbe, auf die Sprache und auf die Zugehörigkeit zu einer Besatzungsarmee von den Mitgliedern der Deutschen Wehrmacht erheblich unterschieden. So endete so manche Spätheimkehrergeschichte auch nicht ganz untragisch, manchmal sogar nicht ganz unblutig. Im gesamten Landkreis, so war später im Kreisblatt zu lesen, waren seit Ende des Krieges und seit Beginn der Britischen Besatzungszeit 23 Selbstmorde von spätheimkehrenden Wehrmachtsangehörigen zu vermelden, die erfahren mussten, dass ihre Frauen sich in ihrer kriegsbedingten Abwesenheit in der Gefangenschaft der Siegermächte feindlichen Besatzungssoldaten oder anderen Burschen aus den Dörfern des Landkreises zugewandt hatten und mit diesen uneheliche Nachkriegskinder gezeugt hatten, die sich dann später ganz selbstverständlich unter die anderen Nachkriegskinder mischten und mit denen zusammen Banden und Horden bildeten. Auch gab es, so das Kreisblatt weiter, 17 Tötungsdelikte unterschiedlicher Opferqualität. 12 x, so die Statistik des Kreisblattes, mussten untreue Soldatenfrauen dran glauben, 5 x jedoch soll es auch anders herum gewesen sein. In einigen dieser Kriminalfälle standen englische und auch amerikanische Besatzungssoldaten unter Verdacht. Diese konnten der Ermittlungsarbeit der Kreispolizei und der Strafverfolgung durch die Justizbehörden jedoch durch die frühzeitige Heimkehr in ihre Siegerheimatländer entgehen.
Für die Flüchtlings- und Nachkriegskinder, die sich ja im Laufe der Besatzungsjahre und der Aufbaujahre der neuen bundesrepublikanischen Demokratie inzwischen zu jungen Jugendlichen und Heranwachsenden gemausert hatten, war ohnehin alles normal, was um sie herum passierte. Gut, es gab Ausnahmen: das 2.Nachkriegskind der Schneider Herbert und Hilda z.B., das ja von allen im Landkreis, wenn nicht sogar in der gesamten Britischen Besatzungszone, nur Mausi gerufen wurde, hatte natürlich einen anderen Blick für die ländliche, westliche Nachkriegsrealität, da sie ja schon frühzeitig in die Geheimnisse des Leninismus / Marxismus eingeweiht wurde bei den Schulungsmaßnahmen am Scharmützelsee in der Nähe von Berlin, der Hauptstadt der DDR. So forderte sie bei ihren Belehrungen und Vorträgen, bei denen sie in der Mitte des Hofes derer von und zu Herrlichmühlen auf einer Kartoffelkiste stand, die Zwangskollektivierung der Landwirtschaft auch in den Westzonen verbunden mit der Enteignung des Adels, der Gutsherren, der Junker, der Bauern und ihrer kriegstreibenden Knechte. Auch forderte sie die sofortige Entmilitarisierung der Bundesrepublik und der westlichen Besatzungszonen mit der Begründung, dass die anwesenden Alliierten Besatzungstruppen und die sich im Aufbau befindliche Bundeswehr nur ein einziges Ziel verfolgen würden: nämlich die Bildung einer neuen aggressiven imperialistischen, kapitalistischen Kampfgemeinschaft unter dem Namen NATO, die nichts anderes zum Ziel hätte als den Angriff auf die Sozialistische Brüdergemeinschaft. Tante Hanni von und zu Herrlichmühlen, die Hoferbin, die ja den Namen von Fritz Kreidelutzschki, ihrem angetrauten adventistischen aus Amerika zurückgekehrten Ehemann angenommen hatte, die dem Vortrag von Mausi aus dem herrschaftlichen Eingangsbereich des Anwesens verfolgte, rief noch zu Mausi auf plattdeutsch-amerikanisch hinüber: „You never will overcome, runner von min Hoff, se to dat du naun Bett henkummst!“ Während Max Herzfeld noch kurz dazwischenrief: „Einst kommt der Tag der Rache“ und Hannes Strotmann noch gerade eben mit Müh und Not die Hofeinfahrt mit seinem Motorrad und dem Beiwagen, der einmal wieder völlig überfüllt war mit Lackdosen und Farbeimern, traf, um hinten seine Werkstatt anzufahren, saß Ipa wie immer bei solchen Agitpropveranstaltungen seiner Schwester wie der Baron in den Bäumen in der obersten Spitze des Kastanienbaumes, um still vor sich hin die auswendig gelernten Gedichte von Josef Weinheber, von Eduard Mörike, von Rainer Maria Rilke, Goethe, Italo Calvino und Gottfried Benn aufzusagen. Dabei gab er sich selbstvergessen seinem persönlichen, körperlichen Liebesempfindungsritual hin: der blutigen und schmerzhaften Kürzung und Verletzung der Fingernägel. Die Fingerkuppen schmerzten ihm danach so stark, so dass er manchmal kaum in der Lage war herabzusteigen, weil er nichts anfassen konnte. Das wiederum führte zu der Situation, dass er manchmal so lange in den oberen Bereichen der Kastanie verweilte – drei bis vier Tage – bis die Schmerzen abgeklungen waren. Hierüber freuten sich dann die anderen Bettbenutzer in der Flüchtlingsnotunterkunft, weil ein wenig mehr Platz war. Manchmal wurde an solchen Tagen auch kurzfristig das „Gefichel“ angerufen – es gab ja inzwischen auch wieder Telefon in der Nachbarschaft – ob sie nicht für ein bis zwei Tage eben einmal kurz von England, aus Sachsen oder aus dem Ruhrgebiet kommen wollten , da ja ein Platz im Bett frei sei, solange Ipa auf dem Baum sitze. Wie wurde Ipa mit Essen versorgt?? Das Essen wurde ihm hochgeseilt: Sirupbrote, Schmalzbrote, Zuckerbrote, Leberwurstbrote und auch Bergmanns-Henkelmänner, die von der Ruhrgebietsverwandtschaft bei ihren Besuchen im Flüchtlingsheim hinterlassen wurden, gefüllt mit Plum und Klütschen oder mit Milchreis mit einheimischen Früchten und Zimt und Zucker. Wenn die Engländer, die Sachsen und die Westfalen das Flüchtlingsgelände nach etwa 4 – 7 Tagen wieder verlassen hatten, stieg Ipa, ohne etwas zu sprechen und ohne etwas mit den Fingerkuppen, die sich ja noch im Rehabilitationsprozess befanden, zu berühren, von der Kastanienbaumspitze herunter, um sich erst einmal den tagelang angesammelten Darminhalten auf dem Hofklo direkt neben der Jauchegrube in der Nähe der Schweineställe und der Kuhställe unter großem Druck zu entledigen. Dabei konnte es vorkommen, dass kein kleingeschnittenes Zeitungspapier des Achimer Kreisblattes zur Verfügung stand, so dass er durch das offene Herz in der Donnerbalkentür rufen musste, so wie er es und die anderen Nutzer des bäuerlichen Abortes im Laufe der Nachkriegsjahre gelernt hatten: „Scheißpapier, Scheißpapier“. Und meistens geschah dann ein Wunder in der Form, dass Fredi, der älteste Sohn des Spargeldiebes, und der direkt neben dem Abort sein Zuhause hatte, und der bei Frollein Koch weder Schreiben noch Lesen begriffen hatte, die gesamte tagesaktuelle Ausgabe des Kreisblattes durch das Herzchen in der Klosetttür reichte mit der für ihn typischen legasthenischen Bemerkung: „Kleinreißen musst du das selbst, ich weiß ja nicht wie viel du gekackt hast!“
Während die großen Städte in der Britischen Besatzungszone , nehmen wir einmal Hannover, Osnabrück, Lüneburg, Fallingbostel, Walsrode und Verden als Beispiel, weitestgehend durch den Krieg zerstört waren, blieben die kleineren Bauerndörfer und etwas größeren Gemeindeflecken weitestgehend unbombadiert, weil die alliierten Kräfte ja antizipieren konnten, dass ohne Kartoffeln, dass ohne Grünkohl, dass ohne Weizen und Roggen, und dass ohne Bier und Korn bei Bischoff, Schulz und Segelken keine Besatzungszeit durchzustehen sei. So legten die Britischen Besatzungskräfte großen Wert darauf – natürlich in der fortgeschrittenen Zeit der „Demokratieentwicklung“ in der BRD in Kooperation mit den einheimischen Kommunal- und Landespolitikern – dass die Eigenversorgung mit den einheimischen bäuerlichen Produkten wieder einen größeren Stellenwert in der Gesundheits- und Ernährungspflege der einheimischen Besatzungsbevölkerung bekommen sollte. Dieses umso mehr, so der damalige britische Besatzungs-Gouverneur in einem Telegramm aus Mönchengladbach, um durch die Zufuhr von Mineralien und Vitaminen durch Gemüse und Obst das weitere Ausbreiten der so genannten „Englischen Krankheit“ zu stoppen.
Und so entstanden auf Befehl der Engländer überall in den Britischen Besatzungsdörfern wunderhübsche Bauerngärten. Alles, was vor diesem unheilvollen faschistisch angezettelten Krieg wuchs und wucherte, kam jetzt wieder ans Tageslicht: Bohnen, Erbsen, Kartoffeln, Sonnenblumen, Kürbisse, Grünkohl, Äpfel, Birnen, Karotten; Spargel, Johannisbeeren, Stachelbeeren, Rhabarber, Pflaumen, Zwetschgen, Erdbeeren, Wirsing, Spitzkohl und Petersilienwurzel und anderes Gesundheitsgewächs, unter anderem Beifuß, Rosmarin, Dill, Hagebutte (Juckpulver) und Maggikraut (Liebstöckel) waren jetzt wieder im Nachkriegsgarten zu finden, und vieles andere Gewächse und Gekraute . Auf die Frage des Britisch, Königlichen Garteninspektors aus Windsor, wo denn die Minze sei, antwortete Oma Blanke vom Blankehof, die ein wahres Bauerngartenparadies hinten beim Backofen angelegt hatte, auf plattdeutsch-englisch: „Minze? Hebt wi nich! Wat de Buur nich kennt, da fritt he nich!“ Und wenn dann der Engländer auch noch wissen wollte, weshalb hier in der Britischen Besatzungsprovinz bei Bockhorst und Umgebung kein „Fish and Chips“ angebaut würde, konterte Oma Blanke, so wie es ihre Art war, mit dem umwerfenden Spruch: „ Pisch an‘n Schlips, wat büst‘ du doch för‘n Pottfarken!“
Mit der Zeit entwickelten sich überall in den Dörfern und in den Neuen Flüchtlingssiedlungen wahre weitere Paradise der Gartenkunst. Neben dem Gemüse- und Obstanbau verbrachten die Bauernfrauen und die Flüchtlingsfrauen viel Zeit mit dem Anlegen herrlicher Blumengärten, die besonders im Frühling und im Sommer sich zu ihrer wahren Pracht entwickelten. Auch der Blumenherbst war von besonderen Reizen, glänzten doch die Astern und die Dahlien durch besondere Farbenpracht und durch eine Überbevölkerung mit Ohrenkneifern, die von den Bauernkindern und von den Flüchtlingskindern, die ja inzwischen zu jungen Jugendlichen und Heranwachsenden herangereift waren, aus den Blumen herausgeschüttelt wurden, um sie ähnlich dem Juckpulver der Hagebuttenfrüchte den mitschüttelnden Kameraden hinten durch den Hemdkragen auf den Rücken zu reiben, damit die Biester beißen und stechen. So gab es herrliche Frühlinge und Sommer, in denen die weibliche und die junge Dorfbevölkerung in den aus Findlingen von den Männern angelegten schattigen Steingrotten die Nachmittage und die Abende verbrachten, wenn nicht gerade Ernteeinsatz beim Heu, beim Korn und bei den Kartoffeln und bei den Rüben war. Ländliche Idylle entstand, es gab Butterkuchen und es wurden die alten Lieder von früher, vom BDM, vom Landfrauenverband, von der Seefahrt und von den Fahrten gen Engeland gesungen. So lernte auch die nachwachsende dörfliche Jugend in den von Wicken, Malven, Sonnenblumen und Zinnien umgebenen Steingärten den Gebrauch des Norddeutschen Liedgutes. Manchmal, wenn der Hunger sie nach Hause trieb, kamen die Männer des Dorfes in die Gartenidyllen der Frauen und Kinder hineingestolpert, um den restlichen Butterkuchen aufzufressen und die Hausfrauen in die Küchen zu schicken, um Bratkartoffeln mit Knipp und Sauren Gurken vorzubereiten. Die Kinder und Jugendlichen wurden dann noch einmal losgeschickt, um bei Schulz Zigaretten und Bier und Korn anschreiben zu lassen. Wenn alles geregelt war in der dörflichen Hof- und Siedlungsidylle, dann spielten die Kinder und Jugendlichen wieder auf den Weiden und Wiesen Völkerball oder Fußball, je nachdem, ob die Mädchen dabei waren oder nicht. Waren die Mädchen dabei, dann wurde gerne Völkerball gespielt, weil die Mädchen gut abzuwerfen waren. Das einzige Mädchen, das der Dominanz der Jungs etwas entgegenzusetzen hatte, war natürlich Mausi, die im Erziehungslager am Scharmützelsee in der Nähe von Berlin, der Hauptstadt der damaligen DDR, bereits in frühen Jahren in den Genuss einer Ausbildung zur Heldin des Sportes gekommen war. Diese polysportliche Ausbildung in allen Disziplinen sollte Jahrzehnte später dazu führen, dass Mausi sowohl in Frauenfußball, in Tennis, in Unisport, in Meditation und in Mediation, in Coaching und in Biosynergetik, in Gesundheitsförderung und nicht zuletzt in Golf und Paragliding heldenhaft immer an der Spitze der Tabellen und Rankings stand, was, um das hier außerhalb des Autorenkonzeptes schon einmal erwähnen zu dürfen, zum Verdienstkreuz am Bande führte. Diese Verleihung des Verdienstkreuzes sollte dann später leider auch dazu führen, dass sie in so einer Art narzisstischer Selbstüberschätzung alle Aktivitäten und Projekte anderer diskreditierte und mit Bemerkungen wie: „hat leider keinerlei Kompetenz und trägt leider keinerlei Verantwortung“ belegte. Ob diese spätere narzisstische Charakterschwäche der Mausi, dem 2. Nachkriegskind der Schneider Herbert und Hilda, mit den ganzen Wirren der Nachkriegszeit und mit den Phänomenen der Britischen Besatzungszeit korrespondiert, muss unbewiesen bleiben. Objektiv erkennbar war auf jeden Fall schon damals in den bäuerlichen Steingrotten, dass sie wohl zu viel mit diesen ostzonalen Broilern gefüttert wurde, die, wie sich später wissenschaftlich herausstellte, massenweise bakteriell verseucht, aus den zwangskollektivierten Geflügelzuchtanstalten Mecklenburg-Vorpommerns, Polens und Bulgariens lebensmitteltechnisch bedenklich an die Konsumenten in der DDR verkauft oder verschenkt wurden für 1,39 Ostmark.
Über solche „Broilerfragen“ mussten sich die Bewohner des Anwesens und der Siedlung überhaupt keine Gedanken machen, denn wenn es einen Bedarf an Sonntagshühnern oder an Suppenhühnern gab, dann wurde einfach eines von diesen Geflügeltieren vom Hühnerhof oder aus dem Hühnerstall von der Oma der von und zu Herrlichmühlen persönlich herausgeholt, von ihr an den Läufen und an den Flügeln festgehalten, um sie auf den Hühnerbock zu legen und um sie mit der Axt ihres Kopfes zu entledigen. Nun gut, sie liefen dann noch einige Zeit kopflos über das Gutsgelände, was ja viele der dortigen menschlichen Bewohner schon ihr Leben lang taten. Letztendlich landeten sie aber wieder in den Fängen der Landfrauen, von denen sie dann auch noch bis auf die Knochen gerupft wurden und mit kochendheißem Wasser abgebrüht wurden, um schließlich in den Hühnersupppentöpfen oder in den Backöfen hinten beim Bauerngarten zu sieden und zu brutzeln. Manchmal war der Backofen der Oma von und zu Herrlichmühlen gleichzeitig gefüllt mit zwei dicken Brathühnern, drei Butterkuchen, vier Roggenvollkornbrotlaiben und einem halben Spanferkel, das am Sonntag auf den Tisch kommen sollte. Kein Wunder also, dass bei dieser Art des bäuerlichen Backofenbetriebes die Backprodukte in ihren Geschmacksvarianten kaum zu unterscheiden waren, aber immerhin sehr schöne und interessante Geschmackskreationen zu Tage brachten. Wer wäre denn sonst jemals in den Genuss von Butterkuchen mit Schweinefettgeschmack, Brathuhn mit Brotgeschmack, Spanferkel als Hühnerfrikassee und Roggenbrot mit Schweineschwartengeschmack gekommen, hätte nicht die Oma derer von und zu rational und energiesparsam gedacht: „Hauptsache heiß und gar, nach’n Geschmack frägt der Bauer tscha nich‘, er will tscha nur satt werden, weil er so schwer arbeiten muss!“. Für Albert, den unermüdlichen und fleißigen Knecht, warf sie als Zugabe zu der gleichzeitigen Hühner-, Schweine-, Brot- und Kuchenbraterei im steinernen Backofen hinten auf der Falllobstwiese auch noch Schweinefüße und Schweineohren, Hühnerkrallen und die Pürzel mit in den Ofen, weil er sie so liebte und später, wenn sie fertig geschmort waren, stundenlang in seiner Knechtkammer saß, um sie genussvoll auszulutschen und auszuknatschen bis auf die Gründe der Hornteile, wobei die Schwarten und die Knorpelteile sich durchaus auch dem Alfred’schen Verzehr nicht entziehen konnten. So waren die Abende nach der mühseligen Landarbeit und der Viehversorgung auch für den Knecht gerettet. Manchmal, wenn die adventistischen Gutserben, die ja den Sabbat als arbeitsfreien Tag heilighielten, nicht gerade zur Sonntagsarbeit aufriefen, dann gönnte sich Albert am Sonntagnachmittag um 15 Uhr den Besuch einer Jugendfilmvorführung im Odeon oder im Corso in Achim. Ipa, der genau wusste, wann Albert wieder nach Achim ins Kino fahren würde, weil Albert es ihm immer brühwarm erzählte, bettelte dann stundenlang am Sonntagvormittag bei seinen Eltern, den Schneidern Herbert Senior und Hilda, um die 50 Pfenning Eintritt für das Corso oder für das Odeon, da er ja bei Albert hinten auf dem Moped mitfahren durfte nach Achim. „Fürs Kino haben wir keen Geld, Krohme hat noch nicht bezoohlt.“ so Herbert Senior, „…und was zeigen’se da überhaupt für een amerikanischen Mist, wenn’s denn wenigstens der Karl May aus meiner Heimat wäre, aber do hobn se wohl noch keene Filme, nu, nö, da gebn‘ mer keen Geld für aus, für diesen amerikanischen Mist!“ Ipa war sprachlos, versuchte trotzdem fragmentarisch unter sprachtechnischen Verzögerungen den Schneidern gegenüber zu begründen, weshalb es Sinn machen würde, die heutige Sonntagsnachmittagsjugendvervorstellung im Corso oder im Odeon in Achim zu besuchen: „ Au, Au, Audy MMMMMurphy spielt mit.“ Hilda: „Kennen wir nich den Bängel!“ Ipa: „…der schschschie...ie…ießt alle ab!“ Herbert Senior: „Der Kriech ist vorbei wir schießen nüsch mehr…“ Ipa: „50 PfPfPfennig, bbbbbitte, AAAlbert nnnnnimmt mmmmmmich mmmmit“ Und so verließ Ipa weinend das Flüchtlingsheim, um sich im hohen Gras an der Straßenböschung zur B 75 zwischen Schaphusen und Bassenergrund unter einer Birke, die vollbesetzt war mit Maikäfern, zu verstecken mit dem Ziel, die Aufmerksamkeit der Schneider auf sich zu lenken, damit ihnen klar würde, wie pädagogisch falsch sie sich verhalten hatten, und dass es nun langsam an der Zeit sei, die 50 Pfenning für das Jugendkino in Achim frei zu geben. Albert jedenfalls, der der Szene an der B 75 mit seinem Moped beisteuerte, sagte dem Schneider Herbert Senior: „He kann bi mi achtern mitföhrn, giv‘ emm man die 50 Pfenning Herbert, ick pass‘ op emm up!“ Woraufhin Herbert Senior noch überflüssigerweise, weil es ja längst Vergangenheit war, einwenden musste; „Du hast ihn doch schone Mal fast zum Tode gebracht mit deeen Ackerwagen, zum Glück bist du ihm nüsch über’n Kopp gerollt …“
Wie auch immer, Ackerwagen, Frühtod, Kino, Moped, Audy Murphy, Alan Ladd, Karl May, Corso, Odeon – letztendlich wurden die 50 Pfenning aus allen Ecken und Ritzen, aus allen Dosen und Behältern , aus allen Hosentaschen und Flüchtlingsrucksäcken zusammengekratzt, um dem bockigen Ipa, der sich an seinem Rückzugsort im hohen Gras an der B 75 unter der maikäferbesetzten Birke wieder einmal, kurz nach dem Skandal in der Spitze der Hofkastanie, die Finger selbst verletzte und aus den Fingerkuppen blutete, den Besuch des Hollywooodfilmes mit Audy Murphy, Alan Ladd, John Wayne und Mauren O’Hara „ Sioux bluten an der Biegung des Flusses“ doch noch zu ermöglichen. Überglücklich nahm dann in solchen Situationen, die ja nicht einmalig waren, Ipa hinten auf dem Rücksitz des Mopeds Platz, um mit Albert, dem Knecht, der ausgestattet war mit seinen Arbeitsschuhen voller Mist und Dreck sowie mit der obligatorischen niedersächsischen Bauernmütze, für die nächsten Sonntagnachmittagstunden in den Wilden Westen nach Achim zu entschwinden. Herbert Junior rief ihnen dann wie immer noch die von Herbert Senior aufgeschnappte pädagogische Warnung hinterher: „ Amerikanische Filme sind doch Mist, sie sind jugendgefährdend und versauen unsere Kinder!“ Woraufhin sich Ipa auf dem Rücksitz des Mopeds noch einmal umdrehte und keck in Anspielung auf den körperlichen Zustand des Bruders zurückrief, da er ja nicht befürchten musste, von Herbert Junior dafür geschlagen zu werden: „ Storch im Salat, Storch im Salat…“
So gingen die Tage auf dem Landgut und in der Flüchtlingssiedlung friedlich und idyllisch dahin zwischen fettem Knipp und klietschigen Sahnetorten. Alles schien geordnet und vorbestimmt. Die Landwirtschaft expandierte, die Pferde waren auf dem Rückzug. Dafür standen jetzt immer größere Trecker und Landmaschinen auf den Höfen, auch die Privatlimousinen derer von und zu’s waren jetzt immer schicker und geschmeidiger. So standen jetzt große Isabellas, elegante Daimlers und bayerische BMW-Kutschen in den neugebauten Garagen, da wo vormals die Pferdeboxen waren. An eine Sanierung oder gar an eine Neugestaltung der Flüchtlingsunterkünfte konnte dabei nicht gedacht werden, da ja die Expansion der Landwirtschaft und der Ausbau der persönlichen Lebensverhältnisse im Mittelpunkt der bäuerlichen Handlungsweisen standen. So wurde 15 Jahre nach Kriegsende von den Bauern in keiner Weise darüber nachgedacht, etwa die Flüchtlingswohnungen mit fließendem Wasser zu versorgen und Badezimmer und Toiletten einzubauen. Oder: was wäre mit einer zentralen Heizungsanlage gewesen, ähnlich so, wie sie im bäuerlichen Privatanwesen eingebaut wurde? So musste weiterhin noch jahrelang mit diesen Eierkohlen und mit diesen Briketts, die halbzentnerweise mit dem Handwagen von Dreckmann abgeholt werden mussten, wenn Geld zur Verfügung stand, oder wenn Dreckmann bereit war anzuschreiben. Und so blieb es noch viele Jahre bei der Situation, dass manchmal auch in kalten Jahreszeiten die Öfen der Flüchtlingsfamilien und der zugewanderten Familien kalt blieben, was besonders hilfreich für die Lungenkranken und für die Kleinkinder war, die ja nun inzwischen massenweise in den Siedlungen nachgewachsen waren. In der Familie der Schneider Herbert Senior und Hilda wuchs ja immerhin auch das 3.Nachkriegskind heran, das inzwischen das selbständige Laufen gelernt hatte und somit dem Offenen Kinderwagen aus den 40er Jahren entstiegen war. So lebten sie also in der Schneiderfamilie fröhlich und zugleich traurig weiter in diesem Verschlag von Wohnung ohne Wasser und Toilette. Der Gang auf die Aussenklos hatte sich , während in den herrschaftlichen Häusern inzwischen die modernsten und feinsten Badezimmer und WCs zu finden waren, so in den Lebensalltag der Bewohner des Flüchtlingsheimes eingegraben, dass sie sich eine andere hygienische Handhabung der Geschäfte schon gar nicht mehr vorstellen konnten. Der alte von und zu Herrlichmühlen, der ja für den Umbau der ehemaligen Scheune in das Flüchtlingsheim verantwortlich war, sagte immer auf seine gestelzte Art hochdeutsch zu sprechen: „ In eure Kalte Heimat habt ihr doch auch hintern Busch geschissen und Wasser von der Pumpe geholt, warum sollt ihr das hier besser haben?“So nahmen sie in der Flüchtlingswohnung die Worte des Herrn aus Mangel an Alternativen wieder einmal unwidersprochen hin, um die Jahr für Jahr steigende Miete brav an die Herrschaft zu entrichten, wenn die Lohntüte von Herbert Senior sie noch hergab. Wenn nicht, dann musste Herbert Senior neben seiner Schichtarbeit in der Bremischen Auto- und Metallindustrie wieder viele Schichten auf dem heimischen Schneidertisch mit Eckstein und Hemelinger verbringen, um für Krohme, der im Übrigen, um das hier einmal erwähnen zu dürfen, in Zweimonatsabständen an Leibesumfang zulegte, und Konsorten aus der Bauernschaft, aus dem Kyffhäuserverband, aus dem Schützenverein und nicht zuletzt aus der Kreisjägerschaft körperangepasste, maßgeschneiderte Fräcke, Ausgehanzüge, Uniformen und Jagdbekleidungsstücke herzustellen. ……..
TJa, und wie sollte das nun alles weitergehen? Besonders mit dem totkranken Herbert Junior. Konnte es unter ärztlichen und gesundheitlichen Aspekten weiterhin verantwortet werden, dass Herbert Junior in dieser schrecklichen Flüchtlingswohnung verbleibt, die zur ständigen Verschlechterung seines Gesundheitszustandes beitrug, oder musste eine Verschickung für immer und ewig in eine der Lungenanstalten an der See oder im Hochgebirge vorgenommen werden? Auch wurde die Frage für alle in der Britischen Besatzungszone immer relevanter, ob es nicht sinnvoll sei, Mausi für immer in die Sowjetische Besatzungszone abzugeben, da sie ja ohnehin für die Demokratisierungsprozesse in den Westzonen der neuen Bundesrepublik von keinerlei Nutzen sei. Könne sie nicht wenigstens bis zur Mittleren Reife oder bis zur späteren Wiedervereinigung Deutschlands in der Ostzone bleiben, so wurde gefragt. Und, so wurde weiter gefragt, sei es nicht langsam an der Zeit, den körperverbogenen und verhaltensgestörten Ipa logopädisch und psychotherapeutisch zu behandeln in Ellen, der Nervenanstalt von Bremen. Antworten auf diese Fragen werden wir im nächsten, im 14.Kapitel, suchen.
HERBERT 12
2.Teil
09.01..2013
Von Bananen nach drüben, von Heumanns Bronchialtee, von Dresdner Stollen, von erzgebirgischen Nussknackern und von dieser Erdhöhle, in die die Schweine fielen
In dem Jahr, in dem die Erdhöhle gebaut wurde, tauchten die ersten Nachkriegsbananen in den Kolonialwarengeschäften auf. Auch bei Schulz, dem ebenfalls aus Ostpreußen stammenden Kaufmann zwischen Bischoff und Segelken, trafen in diesem Jahr, in dem die Erdhöhle gebaut wurde, Bananenlieferungen aus Afrika und Südamerika ein. Die Kunden und Trinkkumpanen von Schulz machten anfänglich noch anzügliche und rassistische Witze über die importierten Früchte, indem sie zum Beispiel die Frage stellten, wie denn die krummen Dinger grade zu kloppen seien, oder weshalb die afrikanischen „Kongobananen“ denn so braune Flecken auf der Schale hätten. Später stellten sie die Witze ein, da sie froh waren, dass die schmackhaften gelben Langfrüchte überhaupt im Landkreis eingetroffen waren und nicht von den Englischen und Amerikanischen Besatzungsmächten abgefangen wurden, um sie zwischen ihre dreieckigen Weißbrotscheiben zu quetschen. Auch war ja inzwischen längst Kalter Bananenkrieg zwischen dem östlichen und dem westlichen Lager. Und welcher Bewohner des westlichen Lagers frotzelte in dieser Zeit des Erdhöhlenbaues nicht mit Genugtuung darüber, dass die Bananen in den westlichen Zonen zu haben sind, während die Volksgenossen im östlichen Lager wohl noch bis 1989 werden warten müssen bis zur ersten Schälung eines dieser gelben Exemplare. Und wie sie im westlichen Lager dann auch noch mit vorweihnachtlicher weiterer Genugtuung die Pakete nach drüben mit Kongobananen vollpackten und noch ein wenig echten Bohnenkaffee und echte Schokolade aus Kakao beipackten, das war schon echt brüderlich. Und wenn dann auch noch zur Weihnachtszeit für die Brüder und Schwestern drüben die Kerzen im westlichen Lager in die Fenster der Gutsbesitzerhäuser und der Flüchtlingsnotunterkünfte gestellt wurden, das war schon „Kalter Sieg“ auf der ganzen Linie. Herbert Junior packte sogar noch eigenproduzierte Laubsägearbeiten mit in das Paket nach Dresden. Er hätte gerne auch noch Peddigrohrarbeiten beigelegt. Die mussten aber aus Paketgewichtsgründen und wegen der Vorschriften der Grenztruppen der Deutschen Demokratischen Republik dem Paket nach drüben fernbleiben. Ebenso konnten Bücher von westlichen Autoren nicht eingepackt werden, auch keine westlichen Zeitungen oder Zeitschriften, und schon gar nicht irgendwelche Groschenheftchen wie Tarzan, Lore oder Jerry Cotton! So wurden die Pakete, die circa vier bis acht Wochen vor Weihnachten aufgegeben werden mussten, damit sie Dresden, Zittau und Radebeul auch pünktlich zu Heilig Abend erreichten, bis zur vorgeschriebenen Gewichtsgrenze vollgepackt mit Südfrüchten. Nun gut, alle Paketabsender wussten, dass der Großteil der Paketinhalte vor Eintreffen bei den Adressaten in den dunklen Kanälen des Staatssicherheitsdienstes in der Hauptstadt verschwinden würde, aber immerhin konnten sie für sich in Anspruch nehmen, Gutes für den Osten getan zu haben, auch wenn die auf dem östlichen Postweg zermatschten Bananen und vertrockneten Orangen in den Berliner Haushalten von Unteroffizieren und Gefreiten der östlichen Sicherheitskräfte landeten. Herbert Senior, dem es immer besonders gerade zu Weihnachten am Herzen lag, die Schwester und die sonstige Verwandtschaft in der „Zone“ mit Paketen zu beglücken, obwohl er selbst nie wusste, wie er die Nachkriegsfamilie über die Runden bringen sollte, sagte immer: „Nu, die Russen schleppen alles weg, da könn‘ mir nur hoffen, dass se nich och noch den Kaffee stibitzen!“ Herbert Junior, der außer Heumanns Bronchialtee und diesem Gemisch aus Malzbier, Rotwein, Eigelb und Zucker weder Kaffee trinken durfte noch Milch, wegen der Schleimgefahr, ergänzte noch lakonisch: „Soll der Russe doch verrecken an der Kongobanane!“ Was wiederum das 2. Nachkriegskind, das von allen nur Mausi genannt wurde und Mitglied der Jungen Pioniere der Freien Deutschen Jugend war, und das die Paketpackaktion gen Ostzone mit verfolgt hatte, zu einer verbalen Verteidigung der Sozialistischen Errungenschaften in der jungen DDR veranlasste verbunden mit der gleichzeitigen Entäußerung unschöner Verbalinjurien gegenüber der gesamten Familie und dem gesamten kapitalistischen Westblock. Ohne es noch genau wörtlich wiedergeben zu können, war die sozialistische Rede von: wir brauchen eure Pakete nicht, das sind revanchistische Aktionen des Adenauer-Regimes, ihr seid doch alle ohne Kompetenz und Wissen, ihr tragt doch alle keinerlei Verantwortung für den Weltfrieden, ihr seid doch alle blöd und habt den Lauf der Geschichte nicht begriffen, eure Paketpackerei hat doch nur ein Ziel: Zerstörung der Sozialistischen Selbstverantwortung der Neuen Deutschen Gesellschaft in der Deutschen Demokratischen Republik, ihr seid doch konterrevolutionär und faschistisch, euch sollte man mal… - und bevor das 2.Nachkriegskind Buchenwald, Oranienburg und Bautzen aussprechen konnte, unterbrach Herbert Senior den Sozialistischen Redefluss in strammer, autoritärer Haltung mit einem Befehl in einem Ton, wie wir in bisher nur von dem Herrn von und zu Herrlichmühlen, der ja Höherer Offizier sowohl in der Kaiserlichen als auch in der Faschistischen Deutschen Reichswehr war, kannten: „Ab ins Bett!“ Diese Art und Weise der Ansprache war das 2.Nachkriegskind ja vom Scharmützelsee her gewohnt, und so war dann auch diese Nachkriegsdiskussion um die Bananenpakte in die Zone an diesem Punkt beendet. Nun gut, es gab auch, wie im Krieg üblich, Gegenpakete von Ost nach West. So freute sich die gesamte 6köpfige Nachkriegsfamilie in der Flüchtlingsnotunterkunft, in der sie immer noch lebte, jedes Jahr aufs Neue über einen echten Dresdner Stollen und über einen echten hölzernen erzgebirgischen Nussknacker und über ein echtes erzgebirgisches Holzflügeldrehkarussell, unter das man Kerzen stellen musste, damit es sich drehte!
Ja, und die Erdhöhle, was ist denn nun damit? Die Erdhöhle, die Erdhöhle, die verfluchte Erdhöhle! Die verfluchte Erdhöhle führte fast zum Tode der gesamten Kinder, egal ob es die Bauernkinder, die Arbeiterkinder oder die Flüchtlings- und Nachkriegskinder waren, die auf der von Bremen aus gesehen- rechten Seite der Bundesstraße 75 - wohnten. Denn sie alle versammelten sich aus bandenstrategischen Gründen in unerklärlicher Weise irgendwann in den Nachkriegsjahren in der Bande von Horst Dreckmann, dem einzigen Nachkriegssohn von Dreckmann, wie ihn alle nur nannten, dem Dreschmaschinenbesitzer, Kohlenhändler und Allesverkäufer der Gegend. Wie dem Rattenfänger von Hameln, dem die Kinder aus unerklärlichen Gründen wegen seines Flötenspiels folgten, versammelten sich in diesen Jahren, in denen die Engländer mit ihren dreieckigen Weißbroten kaum noch in der Öffentlichkeit zu sehen waren, die Kinder der rechten Seite der B 75 – von Bremen aus gesehen – hinten auf dem Spielgelände von Horst Dreckmann, der bereits, um das nebenbei erwähnen zu dürfen, zweimal das Schuljahr bei Frollein Koch wiederholen musste. Auf dem Dreckmann’schen Spielgelände waren Schafe, Schweine und Ziegen anzutreffen , ein Backsteinbackofen zum Backen von Roggenbrot und Butterkuchen war fest verankert auf dem Gelände und eine Vielzahl von Apfelbäumen, Birnbäumen und Zwetschgenbäumen zierten die Streuobstwiese. Ein unebenes Tier-,Wiesen- und Fallobstgelände, das allen Ansprüchen an ein naturbelassenes, nachhaltiges, ökologisches Refugium gerecht wurde. Hierhin also zog es die Kinder der linken B-75-Seite – von Ottersberg aus gesehen – zur Bandenbildung, um Stutzke und seiner Bande aus dem Urstromtal des Mühlengrabens Paroli bieten zu können. Das Geheimnis dieses Dreckmann‘schen Ortes waren allerdings nicht die Schweine, Schafe und Ziegen, und auch nicht die Obstbäume, und schon gar nicht der Backofen, der ja ohnehin nur einmal die Woche beheizt wurde zum Backen von Broten und Kuchen für das halbe Dorf. Nein, das Geheimnis und das Anziehende dieses Ortes war für die Kinder diese geheime mit Grassoden überwucherte horizontal in die Weidefläche eingebaute Holzklappe, die , wenn man sie heimlich öffnete, in einen mindestens drei Meter tiefen Einstiegsschacht mit Holzleiter blicken ließ – nun sagen wir: zwei Meter, vielleicht waren es auch nur 1,50 Meter. Für die Dorfkinder von der rechten Seite der B 75 – hier wieder von Bremen aus gesehen – jedenfalls erschien das Loch wie 3 Meter, wenn nicht 4 Meter tief, wenn nicht sogar 120 Meter tief, so dass der Mittelpunkt der Erde erreicht werden konnte. Horst Dreckmann jedenfalls, einfältig und abenteuerlustig wie er war, überzeugte die restlichen Bandenmitglieder, dass es sinnvoll sei, den historischen, archäologisch wertvollen Erdverschlag zu nutzen, um eine Erdhöhle zu bauen, die als Ausgangspunkt für die Verteidigung gegen Stutzke und als Ausgangspunkt für Angriffe gegen Stutzke dienen sollte. Dafür sei es aber, so Horst Dreckmann in einer geschliffenen Rede, die er teilweise auf Dreckmannplatt (die Sprache des Dreschmaschinenbesitzers und Vaters von Horst) und teilweise auf Dreckmanndeutsch (bei Frollein Koch mühevoll eingeübtes Hochdeutsch) an seine Untertanen hielt, das tiefe Erdloch unter der grassodenbedeckten Erdklappe zu einer echten Erdhöhle auszubauen. Dafür, so Horst Dreckmann, müssen Nebengänge angelegt werden, damit, wenn Stutzke und seine Bande die Höhle entdecken sollten, sie nicht sofort merken, wer da drinnen ist. Und wenn sie dann wieder abziehen, weil sie keinen gesehen haben, da ja alle von uns in der Nebenhöhle waren, so Dreckmann weiter, stürmen wir heraus und machen sie fertig! Diese Kampflogik von Horst Dreckmann überzeugte alle anderen Bandenmitglieder, und schon ging es los mit der Buddelei von zwei Nebengängen und Nebenhöhlen. Aus dem Dreckmann’schen Materialbestand auf dem Boden im Haupthaus der Dreckmann’schen „Firma“ wurden nun – eine Dreckmann’sche Elterliche Aufsicht gab es ja nicht, da geschäftlich unterwegs -Wehrmachtsklappspaten, Wehrmachtshelme, Wehrmachtsessgeschirr, Wehrmachtsjacken, Wehrmachtsdecken, Wehrmachtsmesser und sonstiges aus dem Wehrmachtsbestand der letzten Kriegsjahre in die Erdhöhle getragen. Günter Sonkowski, der 3. Sohn von Fritz und Sonja Sonkowski aus Berlin, der Hauptstadt der DDR, die nach den Ereignissen des 17.Juni 1953 in einer Nacht- und Nebelaktion an einer bis heute geheim gehaltenen Stelle in Berlin in den Westen „rübergemacht“ hatten, und Fiddi Mahlstedt, der eigentlich Friedrich hieß,, und der von seinen Großeltern Opa Mahlstedt und Oma Mahlstedt großgezogen wurde, weil seine Eltern sich in alle nachkrieglichen Herrgottswinde verstreut hatten,, übernahmen, weil sie als Kleinwüchsige die besten körperlichen Voraussetzungen für Schachtarbeiten mitbrachten, das Ausheben der Höhlenseitengänge. Sie werden wohl 3 – 4 Meter „unter Tage“, so jedenfalls schätzten die Bandenmitglieder die Tiefe des Schachtes ein, in den eine ca. 2 Meter lange Holzleiter aus dem Bestand der Deutschen Wehrmacht, die immer von mindestens 4 der anwesenden Bandenmitglieder getragen werden musste, angelehnt war. Die objektive Länge der Leiter alleine spricht für eine Relativierung der Tiefenvorstellungen der Bandenmitglieder, denn sie stieß oben mit der grassodenbedeckten Holzklappe abschließend zusammen. So wurden die Seitengänge zu den Nebenhöhlen, nicht wie die in Geometrie ungebildeten Kinder vermuteten, nicht in 4 – 120 Meter Tiefe gegraben, sondern wohl eher so im
Bereich 1 m Tiefe. Günter und Fiddi jedenfalls, diesen beiden Pioniere, wie Horst
Dreckmann sie nannte, war es egal, ob sie zwei Meter unter der Erdoberfläche buddelten oder 6 Meter. Sie schaufelten wie Maulwürfe die lockere Geesterde links und rechts des alten geheimnisumwitterten Erdschachtes in die Mitte des Schachtes, von wo aus sie weiter in Wehrmachtseimern, die ebenfalls auf dem nationalsozialistischen Wehrmachts- Materialboden des alten Dreckmann lagerten, von Ipa, Fredi und Manfred über die Wehrmachtsleiter nach oben geschleppt wurde. Ipa, der früher als das 1. Nachkriegskind des Schneidermeisters Herbert Senior aus Sachsen und seiner Frau Hilda aus Ostpreußen, die ja ebenfalls Herrenschneiderin war, bezeichnet wurde, und der körperlich wegen seiner Englischen Krankheiten und anderer Behinderungen, zum Teil psychischer Natur, eigentlich gar nicht in der Lage war schwer zu heben und zu tragen, obwohl er ja beim Rugby in der Mittelschule immer der schnellste beim Umwerfen der gegnerischen Angreifer war, schleppte Eimer für Eimer der von Günter Sonkowski und Fiddi Mahlstedt heraus gegrabenen Geesterde nach oben, ebenso wie Fredi, der Sohn des Spargeldiebes, und Manfred, der Sohn des untreuen Kassenwartes des TSV Gut Heil. Die hochgetragene Geesterde aus der Erdhöhle verteilten oben an der frischen Luft der jüngere Bruder von Diekmann, der nur einen linken Fuß hatte beim Fußball, Horst Dreckmann selbst, der ja der Oberbefehlshaber der ganzen Aktion war, und der gleichzeitig ja auch oben gegen Stutzke absichern musste, sowie Helmut und Günther, die Söhne der Bessarabier, die sofort bei Ankunft in der Siedlung 1949 einen Kaninchenstall bauten. Mit ihren Wehrmachtsschaufeln verteilten sie die Geesterde in den Suhlen der Schweine und Säue, die sich sofort in der frischen Erde badeten und wälzten und vergnügliche, glückliche Grunzlaute von sich gaben. Die Schafe allerdings kamen nicht näher an den Ort des Geschehens heran, denn es war ja kein Gras und auch keine Erika, was ihnen zum Fraße angeboten wurde von den Höhlenkindern. Die Ziegen, diese armen Schweine, meckerten hinten am Rande der bäuerlichen Mischfläche, weil sie nicht aktiv ins Geschehen eingreifen konnten, da sie weiblicherseits eingepfercht waren in ein abgezäuntes Areal, und da sie männlicherseits zum Schutze vor ihren eigenen tierischen Triebbedürfnissen an Stricken angepfloggt waren an Pfählen, an denen sie sich nur im Kreise bewegen konnten und meckern durften. Nun gut, apropos meckern: Ausnahmsweise hatte Horst Dreckmann erlaubt, dass bei seiner Höhlen-Bande auch Mädchen und Kriegskinder mitmachen durften, aber nur in bewachenden Funktionen. So wurde das 2. Nachkriegskind der Flüchtlings- und Schneiderfamilie Herbert und Hilda,das von allen im Landkreis ja nur Mausi genannt wurde, und das auf Anraten eines Cousins aus Sachsen eine grundsolide frühsozialistische Grundausbildung bei den Jungen Pionieren der Freien Deutschen Jugend am Scharmützelsee in der Nähe von Berlin, der Hauptstadt der Deutschen Demokratischen Republik, abgekürzt DDR, früher SBZ oder Ostzone gerufen, von Horst Dreckmann in den höchsten Punkt des höchsten Baumes des Dreckmann’schen Areals , in so eine Art Wachturm, beordert, um von dort aus die Feindbewegungen zu beobachten und bei Gefahr den Geheimcode zu rufen: „Engländer, Engländer, Engländer!!!“ Und Herbert Junior durfte auch mitmachen. Er war anfänglich froh, einmal nicht in irgendeine Anstalt zu müssen, sondern mit den Kinder des Dorfes, und zwar mit denen von der rechten Seite der B 75 – von Bremen aus gesehen - außerhalb der Flüchtlingsnotunterkunft zusammen etwas unternehmen zu können. Dabei hatte er schnell eingesehen, was die meisten der Bandenmitglieder verwunderte, dass es hier nicht um Pilzesuchen, Schach oder Ölmalerei ging, sondern um harten Kampf und Gegenwehr, die er sich als Opfer brutaler Kriegsgewalt seit den Tagen, als er als Ostpreußisches Baby im Kinderwagen von seiner Mutter Hilda auf dem Fluchtweg über das vereiste Kurische Haff vor den angreifenden Truppen und Flugzeugen der Roten Armee gerettet wurde, schon immer gewünscht hatte. Herbert Junior respektierte vorläufig die Befehlsgewalt des Horst Dreckmann, obwohl dieser ihm intellektuell und altersmäßig um Kriegsjahre unterlegen war, was unter militärischen Gesichtspunkten ja nichts Ungewöhnliches war und ist. So nahm Herbert Junior vorläufig, nach dem Motto: Befehl und Gehorsam, hin, dass er bei der Erdhöhlenaktion nur als Geheimer Bote und Korrespondent zwischen dem Dreckmann’schen Areal und dem Gebiet auf der anderen Seite der B 75 bei Bischoff, Schulz und Segelken fungieren sollte. Nun gut, ein Einsatz von Herbert Junior im unteren Höhlenbereich wäre nicht zu verantworten gewesen, da hier schon die Aktivisten mit normalen Lungenfunktionen unter erheblichen Atembeschwerden und Kopfschmerzen litten.
Das Horst Dreckmann’sche Projekt Erdhöhle schmiedete den Zusammenhalt der Kriegs-, Flüchtlings, Nachkriegs- und Bauernkinder zusammen., Egal, ob sie lungenkrank waren oder von der Englischen Krankheit gezeichnet waren, -egal, ob sie als Früherben der bäuerlichen Großanwesen auf Bildung verzichten konnten, da sie ja ohnehin gesicherte berufliche Perspektiven als Hoferben hatten ,- egal, ob sie sprach- oder körperbehindert waren, und egal, ob sie der plattdeutschen, hochdeutschen oder der sächsischen oder ostpreußischen Sprache mächtig waren, und egal, ob sie in der Schülermannschaft des TSV Gut Heil mitspielten oder nur zu Hause saßen, um Peddigrohrarbeiten anzufertigen oder Bilder in Öl zu malen, und auch egal, ob sie eine feindliche frühkindliche politische Sozialisation bei den Russen oder bei den Chinesen genossen, - dieses Dreckmann’scheHöhlenprojekt war bahnbrechend auch unter pädagogischen und sozialpädagogischenGesichtspunkten – obwohl diese Fachbegrifflichkeiten in der Zeit der Britischen Besatzung noch gar nicht bekannt waren. Es war die Erfindung der so genannten Inklusion, für die Horst Dreckmann eigentlich den Friedenspreis in Gold der Niedersächsischen Pädagogischen Gesellschaft verdient gehabt hätte.
Horst Dreckmann, den Frollein Koch von Anfang an immer nur „Dreschmann“ nannte, war sich keiner pädagogischen Schuld bewusst und erklärte nach Fertigstellung seines Höhlenprojektes, dass es nun zum Schluss an der Zeit sei, die Fahne zu hissen. Im hinteren Bereich bei den Ziegen stand auf dem Dreckmann’schen Gelände seit 1933 ein circa 12 Meter hoher Fahnenmast, an dem, wie Horst stolz erzählte, immer diese Fahne mit den Hakenkreuz flatterte, bis die Engländer eines Tages kamen, um sie als Kriegsbeute der Queen zu überbringen. Es liege aber, so Horst Dreckmann weiter, noch eine geheime andere Fahne auf dem Wehrmachtsboden, die zwar kein Hakenkreuz hätte, dafür aber die schönen Farben Schwarz, Weiß und Rot. Diese Fahne, so Horst Dreckmann weiter, habe sein Vater ihm vererbt mit der Auflage, sie erst dann wieder zu hissen, wenn im erneuten Kampf der Sieg des Reiches gegen die Siegerschweine des Werseiler Vertrages endgültig sei. Das sei, so Horst Dreckmann, nun der Fall, und die Fahne könne vom Boden geholt werden. Und so versammelten sich alle am Fahnenmast hinten bei den Ziegen, selbst Mausi stieg von ihrem Wachturm herab, und Herbert Junior bemühte sich nicht zu japsen und zu husten, um dem Zeremoniell der Fahnenhissung zu folgen. Horst Dreckmann schritt schließlich nach einstündiger Abwesenheit, so lange hatte er gebraucht, um die Fahne, die gehisst werden sollte, von all‘ den anderen Fahnen, die oben auf dem Dreckmann’schen Boden in der Wehrmachtsfahnenkiste auch noch lagerten, herauszufinden. Beinahe hätte er zur Fahne des Kyffhäuserverbandes gegriffen, auch hatte er bereits die Fahne des Kreissportbundes des Landkreises Verden in der Hand und auch die Fahne des Sparkassenvereins Oyten, bei dem man in einem Metallkasten ein Sparfach entweder bei Bischoff, Schulz oder Segelken mieten konnte. Werseiler Vertrag hin, Werseiler Vertrag her - schließlich schritt Horts Dreckmann gemessenen Schrittes, begleitet links und rechts von seinen Fahnenadjudanten , den Zwillingen Peter und Peer aus der Neusiedlerfamilie der Maffays, die aus der Walachei nach Norddeutschland verschlagen wurden, und die hinter dem Sportplatz des TSV Gut Heil an der Straße „Dom“ in Richtung Autobahn A1 sich ein Häuschen bauten, auf das Gelände des Dreckmann’schen Hauptquartiers an den Fahnenmast heran, um in einer von Musik begleiteten Zeremonie – Mausi spielte auf der Ukulele, die sie im FDJ--Lager am Scharmützelsee gelernt hatte, das sozialistische Lied vom Kleinen Trompeter – die
Fahne des Deutschen Kaiserreichs von 1871 emotional und historisch zu hissen. Horst
Dreckmann, der von Frollein Koch nur „Dreschmann“ genannt wurde, sagte noch, als die Kaiserfahne ihren Höchststand erreicht hatte, siegesbewusst: „ So, nun kann Stutzke kommen, die Höhle ist fertig, die Fahne hängt, unsere Bewachung ist gesichert, unser Geheimdienst ist auf Posten, jetzt kann‘ s losgehen“ Mausi, die nach ihrer Ukuleleneinlage mit dem Kleinen Trompeter unten am Fahnenmast nun wieder von oben aus ihrem zugewiesenen Wachturm heraus den weiteren Verlauf der Fahnenzeremonie betrachte, versuchte noch zu intervenieren, indem sie herunterrief: „ Ich bewache von hier oben aus zwar ordnungsgemäß und einwandfrei das Geschehen im feindlichen Lager, aber ich halte diesen unterirdischen Partisanenkampf mit Höhlen und Verstecken und möglichen hinterhältigen Angriffen für unmarxistisch und für unleninistisch. Ich persönlich, verzeih mir Dreckmann, plädiere für eine oberirdische, vernichtende, rotarmistische Offensive gegen die konterrevolutionäre Bande von Stutzke unter meiner persönlichen sozialistisch, revolutionären Führung. Ich bin im Spanischen Kampf gegen die Faschisten ausgebildet worden, bitte überlasst mir die Führung, ihr habt ja keinerlei Ahnung, auch tragt ihr ja eigentlich keinerlei Verantwortung für das Weltgeschehen und für den Weltfrieden!“ Horst Dreckmann, der weder etwas vom Spanischen Kampf noch vom Weltgeschehen und schon gar nichts vom Weltfrieden verstand, sagte nur zu Mausi oben im Wachturm in seiner unverwechselbaren Sprachmischung aus Dreckmann’schem Plattdeutsch und Dreckmann’schem Hochdeutsch:“Bleib‘ du man oben und gucke nach Stutzke, wir geh’n jetzt in die Höhle und essen erstmal was“. Und zu Herbert Junior, seinem untergebenen Geheimen Boten und Korrespondenten, dem er aus dem Wehrmachtsbestand auf dem Dreckmann’schen Boden noch eine Wehrmachts-Warnkurbel, die beim Kurbeln einen sirenenartigen Ton erzeugt, in die Hand drückte, sagte Horst Dreckmann noch:“Herbert, stell‘ du dich man vorne hin an die Einfahrt, und wenn Stutzke kommt, dann kurbel“. Den Einwand von Herbert Junior, dass er, Dreckmann, und auch die anderen, die unten in der Höhle sind, das Kurbeln ja gar nicht hören können, weil sie ja unten sind, konterte Horst Dreckmann mit dem Argument, dass Mausi oben im Wachturm das ja hören würde, und dass die dann „Engländer, Engländer…“ rufen würde und am Band ziehen würde, was ja bis unten mit einer Glocke am Ende gelegt wurde. Und so stiegen nun die Untergrundkämpfer, die keine Aufgaben im Wachturm oder an der Pforte hatten, über die Leiter hinunter in die Tiefen der zwei Kammern der Dreckmann‘schen Erdhöhle, die mit Kerzenlicht beleuchtet wurden, und somit den ohnehin knappen Sauerstoffgehalt in den Löchern auf ein gerade noch zu vertretbares Minimum reduzierten. Zum Glück blieb oben die Einstiegsklappe immer einen kleinen Lichtspalt offen, so dass auch etwas frische Luft einströmen konnte. Die Untergrundkämpfer gaben sich dann im sicheren Gefühl der Sicherheit vor dem Feind dem Verspeisen der von zu Hause mitgebrachten, geklauten Lebensmittel hin. Auf dem Speiseplan standen: Zusammengeklappte klebrige Sirupbrote, drei Tage alter harter Butterkuchen, noch grüne unreife Äpfel, ein Glas eingemachte Birnen mit Zimtstangen aus dem Bestand der Vorratskammer von Oma Diekmann, 7 kalte, wegen der Nichtrückkehr von Herbert Senior von der Arbeit übriggebliebene Kartoffelflinsen von Hilda vom Vortag, dicke Milch mit Knubbelkirschen , kalter Knipp auf Schwarzbrot und schöne Weißbrotscheiben mit dicker Leberwurst von der letzten Hausschlachtung bei Heitmann drauf. Ipa, der Mittelschüler, der noch vor Jahren nur als 1.Nachkriegskind des Schneidermeisters Herbert Pelz und seiner Frau Hilda, die ja eigentlich ebenfalls Herrenschneiderin war, tituliert wurde, versuchte beim Anblick der Leberwurstweißbrote mit vollem Mund sprachtechnisch mühevoll zu formulieren:“ Wwwwweeennnn dddddddddas die Eng, die Eng, die Engllllllllllllllländer sehn w-w-w-würden…“, - und dann, oh, Wunder, gelang die zweite Hälfte des Ipa‘ischen Satzes glatt und flüssig, so als würde er bei Willem Petersen oder Claus Köhler ein Gedicht aufsagen: „…dann würden sie uns alles wegfressen…“.
Der Tag, an dem die Dreckmann’sche Erdhöhle gebaut wurde, und der Tag, an dem die alte Kaiserliche Reichsfahne gehisst wurde, und der Tag, an dem die Untergrundkämpfer unten in der Erdhöhle Sirupbrote und Knippbrote aßen, das war auch der Tag, an dem die Höhle einstürzte und die Untergrundkämpfer nur knapp dem Tode entrinnen konnten. Als nämlich die Höhlenkämpfer sich unten genüsslich ihren von zu Hause stibitzten Delikatessen hingaben und sich in Sicherheit vor der Stutzke-Bande wiegte, begann das Desaster. Eine Kette von Fehlhandlungen der Sicherheitskräfte außerhalb der Erdhöhle führte zur Katastrophe. Es begann nämlich damit, dass bei Herbert Junior vorne am Haupteingang zum Dreckmann’schen Gelände plötzlich Stalin, der immer noch unter Bewährung stand und wieder in der 1.Mannschaft spielen durfte, wankend von Segelken kommend, auftauchte und das lungenkranke Kriegs- und Flüchtlingskind anpflaumte: „Na, Herbert, du Krüppel, was machst du denn hier im Dorf, bist du nicht auf Verschickung?“ Woraufhin Herbert Junior, der sich nicht ein weiteres Mal von einem „Dorfdepp“, wie er später zu Protokoll gab, degradieren lassen wollte, cool, so wie er es in den Anstalten und Hospitälern in ganz Westdeutschland gelernt hatte, antwortete:
„ Stalin, du bist zwar ein guter Mittelstürmer, aber von Schach, Pilzesuchen, Peddigrohr und Ölmalerei hast du keine Ahnung. Und auch von diesem Apparat hier nicht…“ dabei deutete er auf den Kurbelwarnapparat, „…hast du keine Ahnung!“ „Dafür hast du keine Ahnung von Fußball und kannst keine Tore schießen, du japsender Flüchtlingsscheißer! Außerdem war ich im Knast, und du nicht“ Herbert Junior: „Aber mein Vadder!“ Stalin: „Dein Vadder, dein Vadder, das war doch nur U-Haft wegen Lilo Strotmann!“ Herbert Junior: „Ja, aber er war drin, genau wie du!“ Und so ergab ein Wort des Fußballers und Probanden der Verdener Bewährungshilfe – sein Gerichts- und Bewährungshelfer war übrigens der gefürchtete „Harte Hund“ Haltermann aus Posthausen – und das Wort des lungenkranken Flüchtlingsjugendlichen das andere, bis Stalin auf die glorreiche Idee kam, sich den Warnkurbelapparat, den Herbert Junior auf dem linken Eingangspfosten der Dreckmann’schen Einfahrt abgelegt hatte, zu ergreifen und wie wild daran zu kurbeln.
Jetzt nahm die Tragödie ihren Verlauf. Das durch das Kurbeln von Stalin erzeugte helle Sirenengeräusch schreckte Mausi in ihrem Wachturm auf. Sie war gerade dabei, mit dem Wehrmachtsfernglas, das Horst Dreckmann ebenfalls auf dem Wehrmachtsboden entdeckt hatte und an die Wachhabende übergeben hatte, im 360°-Rundumblickverfahren, wie es auch in den Wachtürmen an der Ostzonengrenze üblich war, das gesamte Dorfareal im Blick zu haben. Von Stutzke und seinen Partisanen allerdings keine Spur. Doch jetzt das Sirenengeheul, was hatte das zu bedeuten?? Hatte Stutzke sich etwa an den Grenz- und Bewachungstruppen vorbei ins Dorf geschlichen? Als das von Stalin gekurbelte Sirenengeheul kein Ende nehmen wollte, entschloss sich die Junge Pionierin, die Reißleine zu ziehen und lauthals, so wie sie es konnte, über die gesamte rechte Dorfhälfte an der B75 –von Bremen aus gesehen - zu schreien: „ENGLÄNDER ENGLÄNDER ENGLÄNDER….“ Das Bimmeln der Glocke am Ende der Reißleine und das sozialistische Rufen der Wachhabenden oben im Wachturm ließen die Höhlenbesatzer sofort siegessicher zu der Erkenntnis kommen, dass sie strategisch alles richtig gemacht haben. Nun käme es, so Horst Dreckmann als Befehlshaber unten, nur noch darauf an, dass Stutzke und seine Leute in die Klappe schauen und keinen Feind sehen. So guckten auf der einen Nebenhöhlenseite Horst Dreckmann persönlich und auf der anderen Nebenhöhlenseite Ipa mit halbem Kopf in den Hauptschacht, ob sich die Klappe oben öffnen würde und Stutzke reinschaut. Dabei verhielten sich die anderen Höhlenbewohner mucksmäuschenstill, einigen schlotterten vor Schiss die Knie. Inzwischen waren auch die Tiere auf dem Dreckmann’schen Gelände durch das stalinistische Sirenengeheule aufgeschreckt und rannten wie vom Schlachter gestochen in Panik über das gesamte Terrain. Dabei versammelten sich die Schweine direkt über der Erdhöhle, und sie scharrten mit ihren Schnauzen in der Erdhöhlenerdoberfläche und schmissen sich immer wieder hin vor Angst. Sie grunzten wie Elefanten und rannten wie
verrückt oberhalb der Klappe hin und her, womöglich weil sie ahnten, dass unten die
Eingeschlossenen sich in großer Gefahr befanden. Und so kam es dann auch: das dickste aller Schweine, von den Kindern immer nur Lore gerufen, brach plötzlich oberhalb der linken Nebenhöhle, in der sich Ipa, Günter, Fredi, Erika, Helmut und Jochen befanden, plötzlich ein Stück ein. Unten bröselte der erste Sand von oben in die Höhle. Ipa, der schnell etwas rufen wollte, blieb die Sprache gänzlich im Halse stecken, so dass Helmut die Warnung übernehmen musste: „Die Höhle kracht zusammen, wir müssen raus, wir müssen raus!“ Dabei pisste er sich in die Hosen, was er bekanntermaßen immer tat, wenn er Gefahr witterte. Horst Dreckmann befahl: „Sofort alle nach oben, die Schweine fliegen gleich rein.“ Und so ergab sich vor der Leiter in dem Hauptschacht der Höhle ein erheblicher Stau und ein erhebliches Gerangel. Teilweise übereinander hetzten sie Leiter hoch, um so schnell wie möglich nach draußen zu kommen. Horst Dreckmann, der Chef und Kapitän, war natürlich als Erster auf der Leiter und draußen. Die maritime Regel, dass der Kapitän zuletzt das sinkende Schiff verlässt, hatte er bisher nicht gekannt, da er ja noch nie in Bremerhaven, Cuxhaven oder Hamburg war. Auch die internationale Regel, dass Kranke, Behinderte, Alte und Kinder bei Katastrophen zuerst in die Boote springen dürfen, wurde hier missachtet, denn Hans-Hermann Lütjen, der vor Jahren einen schweren Unfall mit dem Fahrrad hatte und seit dem einen gelähmten Arm hatte, wurde von den anderen nach oben stürmenden Nichtbehinderten einfach zur Seite gedrängt, so dass Hans-Hermann sich gerade noch eben mit Mühe und Not nach oben retten konnte. In dem Moment nämlich, als Hans-Hermann als Letzter aus dem Loch kroch, gesellten sich zwei weitere Schweine, nämlich Hansi und Peter, zu Lore, um sie zu retten. Das allerdings war sehr kontraproduktiv von Hansi und Peter, denn nun krachten sie zusammen mit der dicken Sau Lore in das Erdhöhleninnere hinunter. Es mögen, so wurde von den Bandenmitgliedern spekuliert, so drei bis acht Meter gewesen sein, die die Schweine runtergeflogen waren – dabei waren es in Wahrheit nur 1,20 Meter, wie sich später herausstellte. Alle schrien und quietschten durcheinander, Kinder, Schweine, Bandenmitglieder, Junge Pioniere. Inzwischen waren auch Herbert Junior und Stalin von dem Geschreie auf dem Dreckmann’schen Areal angelockt worden und sie sahen, was durch das frühzeitige Gekurbel an der Warnkurbel für ein Chaos entstanden war. Dreckmann befahl seinem unterstellten Boten Herbert Junior, sofort zu Bischoff, Schulz oder Segelken zu rennen und „die Alten Bescheid zu sagen“. Herbert Junior: „Ich kann nicht rennen, mich hat die Rote Armee kaputtgemacht.“ Dreckmann:“ Seh‘ zu, dass Du hinkommst, Du Flüchtling“ Mausi betrachtete die gesamte Chaossituation weiterhin mit dem Wehrmachtsfernglas von oben, wobei sie immer wieder rief:“Siehste, Siehste, hättet ihr nur auf mich gehört, dann wäre das nicht passiert. Ihr habt doch alle keinerlei Kompetenz und Verantwortung…“ Die in die Grube gefallenen Schweine quietschten und weinten erbärmlich, die Schafe hatten sich alle in die hinterste Ecke zurückgezogen, wo
sie sich schwarmintelligent alle zusammenkuschelten. Die Ziegen meckerten ihre hämischen Kommentare hinüber zur Unfallstelle. Selbst ein Schwarm schwarzer Raben und einige Elstern versammelten sich in den Obstbaumspitzen und lauerten auf den Moment, in dem sie sich der Reste der Mahlzeit unten in der Höhle bedienen konnten, wenn nicht in der Zwischenzeit die Schweine alles aufgefressen haben sollten. Langsam, aber ganz langsam, trafen jetzt auch die von Herbert Junior bei Bischoff, Schulz oder Segelken alarmierten „Alten“ ein, die im ersten Moment beim Anblick der in die Erdhöhle gestürzten Schweine nichts anderes zu sagen hatten als: „O, diese armen Schweinchen, wer hat das getan?“ Hannes Strotmann, der Malermeister aus dem Hellwegischen, der hier einmal ausnahmsweise ohne Motorrad mit Beiwagen ankam, ließ sich unter dem Einfluss von 8 Bier und 8 Doppelkorn, die er sich vor dem Besuch der Kinderwiese bei Bischoff hat einschenken lassen, zu der Aussage hinreißen: „ Man darf die Kinners nicht alleine lassen, die bau’n doch nur Scheiße!“ Und Max Herzfeld ergänzte noch: „ Diese Bengels, das gab’s unter dem Führer nicht!“ Während Albert, der Knecht der von und zu Herrlichmühlen, der zufällig auch einmal frei hatte und mit am Tresen stand, sich um die Schweine kümmerte. „Wir müssen sie rausholen, sonst sterben sie an Panik. Wir müssen sie an den Hinterbeinen hochziehen, zwei Mann müssen von unten hochschieben, holt mal Taue von Dreckmann “ Während die Taue zur Rettung der Schweine vom Wehrmachtsboden von Dreckmann geholt wurden, sammelte Herbert Senior , der kurz nach Schichtende bei Lloyd-Dynamo in Hastedt, wo er jetzt in der Lackierabteilung tätig war, direkt mit dem Arbeiterfahrrad über Hemelingen, Arbergen (wo er dem alten Brüggemann bei der Mühle noch fröhlich zu gewunken hatte), Mahndorf, Uphusen, Bierden, Achim, Borstel und Ueserdicken Bischoff, Schulz und Segelken angesteuert hatte,…sammelte Herbert Senior seine Nachkriegskinder ein und schloss sie unter Tränen glücklich in seine väterlichen Arme. Wo denn der Bruder, Herbert Junior, abgeblieben sei, wollten Ipa und Mausi von ihrem Erzeuger und Vater wissen. „Nu, der kommt schon zurecht. Der hat den Krieg überlebt, da wird er ja wohl och diese Schweinerei hier überleben. So, wir fahren jetzt mit dem Rad nach Hause, eener vorne auf der Stange, eene hinten auf den Gebäckhalter. Und dann gibt’s zu Hause erstmol Klobbe!“Ja, und um alle Tierfreunde zu beruhigen: die Schweine wurden gerettet. Schwein für Schwein wurden sie nach der Alfred’schen Methode mit Seilen aus der Grube herausgeholt, woraufhin sie, die Schweine, dann sofort losstürmten, um sich an den Rinden der Obstbäume ausgiebig die Schwarte zu scheuern. Die Retter waren stolz auf sich und gingen zurück an die Tresen bei Bischoff, Schulz und Segelken, um dort die
Schwarte krachen zu lassen. Auch Herbert Junior stand noch am Tresen und vergnügte sich ohne zu husten an einem Cocktail aus Malzbier, Rotwein, Eigelb und Zucker.
HERBERT 12
29.12.2012
1. Teil
Fortsetzung / 2.Teil
folgt ab 05.01.2013
In dem Jahr, in dem die Erdhöhle gebaut wurde, hat der TSV Gut Heil nur knapp den Aufstieg von der Kreisklasse in die Bezirksklasse verpasst. Nach anfänglich guten Spielen war der TSV sogar zeitweise Tabellenführer und hatte gute Aussichten auf die Kreisligameisterschaft. So wurde Völkersen zum Beispiel mit 7:1 geschlagen, Posthausen sogar mit 8:3. Knappe Siege gegen den TV Oyten (2:1) und gegen Holtebüttel (1:0) und zwei Unentschieden gegen den TSV Quelkhorn (2:2) und gegen den TSV Dörverden (1:1!) sicherten die Tabellenführung, bis dann im Frühjahr des Jahres, in dem die Erdhöhle gebaut wurde und diese schwarz-weiß-rote Fahne gehisst wurde, der Einbruch in die Mannschaft kam. Gleich drei Leistungsträger der Mannschaft fielen urplötzlich gemeinsam aus. Stalin, der mit bürgerlichem Namen eigentlich Hans-Heinrich Masemann hieß, musste eine halbjährige Haftstrafe in der JVA Oldenburg antreten wegen wiederholter gefährlicher Körperverletzung in der Bewährungszeit. So soll er zuletzt in Sagehorn, in Sillingers Gastwirtschaft, einen Bahnbediensteten des Sagehorner Bahnhofs brutal zusammengeschlagen haben, weil dieser ihn wegen seiner roten Haare und wegen seines Spitznamens hänselte. „Ruck-Zuck“, der linke Verteidiger des TSV und gleichzeitige ewige Geselle des Malermeisters Hannes Strotmann, und dessen bürgerlichen Namen eigentlich niemand kannte außer er selbst, musste auf Anweisung von Dr.Spanner unverzüglich nach Ellen, um sich dort einer längerfristigen Alkohol-Entzugstherapie hinzugeben. Er soll sich, so hörte man aus Tresenkreisen bei Bischoff, Schulz und Segelken, von seinen Kameraden mit tränenerstickter Stimme mit den Worten verabschiedet haben: „Mein Chef säuft, und ich muss in die Nervenanstalt! Schweinerei“. Ja, und als dritter Ausfall: Liegmann! Liegmann, der Lenker im Mittelfeld des TSV, von dem alle Spielzüge ausgingen, der elegant die Pässe in die Freien Räume nach vorne spielen konnte – Liegmann jetzt also auch: Meniskus! Mindestens 8 Wochen! Ohne diese Drei war es also kein Wunder, dass der TSV von der Tabellenspitze wieder abrutschte. Die drei Ersatzspieler Diekmann, Brünjes und Eggers konnten die Leistungsträger nicht ersetzen. Besonders vorne fehlte Stalin an allen Ecken und Enden. Diekmann, der nur einen linken Fuß hatte, versagte kläglich als Mittelstürmer. So gab es zum Schluss bittere Klatschen für den TSV. Gegen Morsum 0:4 zu Hause, gegen Uphusen 1:6 auswärts, sogar gegen den Tabellenletzten und Absteiger Fischerhude ein 1:2 zu Hause! So blieb zum Schluss der Saison nur der undankbare 4.Platz, den dann alle nach dem letzten Spiel gegen Oyten (2:2) bei Segelken in einer drei Tage dauernden Alkoholorgie, zu der dann am dritten Tag auch die Frauen und die Anhänger des TSV zugelassen waren, mit Bier, Korn, Eierlikör und Sinalco begossen! Auch Stalin, der inzwischen wieder mit neuen richterlichen Bewährungsauflagen, zu denen auch die Meidung von Alkohol gehörte, vorzeitig aus der JVA entlassen worden war, war dabei und hielt sich mit Alsterwasser über Wasser, wofür er natürlich von seinen Mitspielern hämische Seitenhiebe einstecken musste. Unter anderem musste er sich dabei die Lästerung von Torwart Dunekake gefallen lassen, ob er möglicherweise im falschen Knast war, und ob er nicht möglicherweise statt im Männerknast in Oldenburg im Frauenknast in Vechta gesessen hätte und dort umgepolt worden sei. Alsterwasser – das sei, so Dunekake, doch kein Getränk für einen Fußballer, - das sei so Dunekake weiter, doch wohl eher etwas für die Stadtweiber, wenn sie aus der Oper kommen! Stalin ließen diese Bemerkungen kalt, denn immerhin hatte er bei der Knastpsychologin in Oldenburg PST „Persönlichkeitsstärkungstraining“ in der Form genossen,, dass sie ihn auf einen „Heißen Stuhl“ mit mindestens 50° Sitzflächentemperatur setzte und sie ihn mit verbalen, persönlichen Beleidigungen traktierte, um herauszufinden, wie lange Stalin das aushalten würde ohne aggressiv zu werden. So konnte Stalin stolz berichten, dass er auch im Knast wieder einmal der Beste war, da er 2 Stunden und 40 Minuten auf dem „Heißen Stuhl“ ausgehalten habe, was kein anderer der PST-Gruppe geschafft habe. Der erste PST-Kandidat, so berichtete Stalin, habe der Psychologin bereits nach der 1.Beleidigung nach circa 3 Minuten, als sie ihn mit: „ du bist doch wohl hier das mieseste, kaputteste Schwein der ganzen Mannschaft… oder so ähnlich“ herausfordern wollte, in die gelockte, blondgefärbte Psychologinnendauerwelle gegriffen, um sie zu Boden zu schleudern. Der aggressive Schleudervorgang ist ihm dann allerdings nicht gelungen, da die gelockte, blondgefärbte Psychologinnendauerwelle sich als Perücke herausstellte, was wiederum zur allgemeinen Erheiterung in der gesamten PST-Gruppe beigetragen haben soll. Während „Ruck-Zuck“ wegen Rückfallgefahr keinen Freigang aus der Trinkerheilanstalt in Ellen zu der Saisonabschlußfeier erhielt, konnte Liegmann mit seinem Meniskus auf Krücken dabei sein. Er hielt sich aber vernünftiger Weise mit dem Trinken zurück, da er wohl aus naheliegenden Gründen der Gefahr „auf die Fresse zu fliegen“ ausweichen wollte. Typisch Liegmann! Immer überlegt! Immer taktisch! Immer rational! Immer vorausschauend! Das ging bei dem Saisonabschlußbesäufnis sogar so weit, dass er Intemann, den rechten Läufer, am dritten Tag des Besäufnisses ermahnte: „ Hör mal Bruno, du kannst ja trinken so viel du willst, aber hör‘ bitte auf damit, ständig dieses Lied mit den morschen Knochen anzustimmen. Wir sind hier bei uns im Dorf jetzt demokratisch und englisch, das will hier keiner mehr hören…“ Typisch Liegmann! Nun gut, das war der Sport in dem Jahr, in dem die Höhle gebaut wurde. Darüber hinaus kann davon berichtet werden, dass in dem Jahr, in dem die Höhle gebaut wurde, die Getreide- als auch die Kartoffelernte wunderbar ausfiel, die Schweinepreise herrlich gestiegen waren und die Milch wieder einmal 5 Pfenning pro Liter teurer wurde. Die Bauern und Gutsbesitzer rieben sich Hände, einige investierten in moderne landwirtschaftliche Maschinen, automatische Melkanlagen und leistungsstarke Zugmaschinen, die es erlaubten, die Pferde auf den Weiden zu lassen oder aber in die Rossschlachtereien zu befördern. Sie nannten es im Radio „Wirtschaftswunder“. Manchmal sprach sogar der Bundeskanzler persönlich im Radio in so einem, zumindest für die plattdeutsch sprechenden Kinder, aber auch für die Flüchtlings- und Nachkriegskinder, die von zu Hause aus nur ostpreußisch, sächsisch, schlesisch, böhmisch und mährisch gewöhnt waren, …in so einem rheinländischen Dialekt, den hier in der niedersächsischen Provinz „kein Schwein verstand“. Auch diesen dicken Wirtschaftsminister mit der Zigarre im Mund, der auch manchmal im Radio sprach, und der, wie die Erwachsenen den Kindern sagten, wohl aus Franken in der amerikanischen Zone stamme, und der auch Fränkisch spräche, was wohl so eine Mischung aus Bayerisch und Amerikanisch sein sollte, konnten die meisten in der Flüchtlingssiedlung und in der Bauernschaft nicht recht verstehen. Was war noch? Ach ja, in diesem Jahr des Höhlenbaues wurde im Straßengraben, direkt neben dem Padweg an der B75, zwischen Schaphusen und Bassenergrund eine männliche Leiche in Britischer Besatzeruniform, die dort, wie die Achimer Polizei verlauten ließ, schon mindestens 14 Tage gelegen haben muss, aufgefunden. Die Ermittlungen der Polizei ergaben dann ein furchtbares Beziehungsdrama in der Britischen Besatzungszone. Die Leiche soll ein mittlerer Britischer Offizier aus Schottland gewesen sein, der sich in der Royal Army besonders als Dudelsackpfeifer hervorgetan haben soll, und der in Bockhorst wohl ein unerlaubtes Liebesverhältnis zu einer Bockhorster Krankenschwester namens Christa , die im Neuen Achimer Krankenhaus tätig gewesen sein soll, wo der Mittlere Offizier der Königlichen Truppen wohl einige Zeit stationär versorgt wurde, bevor er ins Militärkrankenhaus nach Mönchengladbach ausgeflogen wurde, unterhielt. Dabei soll der mittlere Britische Besatzungsoffizier wohl übersehen haben, dass der Ehemann der Krankenschwester der allseits im Landkreis bekannte Hausschlachter Willi Tietjen war, der bei den Gutsbesitzern, Bauern und sonstigen Schweine- und Rindviehhaltern wegen seiner flinken Hände an Messer, Knochensäge und Hackebeil legendär war. Gerade beim Wurst- und Knippmachen soll er sich immer durch besondere Schnittschnelligkeit und Sorgfalt hervorgetan haben. Nun gut, er benötigte zur Vollendung seiner Schlachtaufträge immer mindestens 10 Korn, wenn nicht 20, - letztendlich sollen seine Schlachtergebnisse aber immer hervorragend gewesen sein. In die Mordermittlungen schalteten sich nicht nur die Britischen Besatzungskräfte ein, sondern auch die Amerikanischen, weil hier in diesem Falle geheimdienstliche Vorgänge vermutet wurden. Letztendlich stellte sich bei den Ermittlungen heraus, dass Willi Tietjen überhaupt nichts mit dem Mord zu tun hatte, sondern das es ein Komplott innerhalb der Britischen Besatzungsarmy war, gesteuert von der Queen persönlich. Erst durch diesen Ermittlungsvorgang erfuhr Willi Tietjen überhaupt davon, dass zwischen seiner Christa und dem Schottischen Soldaten etwas gelaufen sein soll, was ihn Jahre später, Ende der 60er Jahre, erst bewegte, dem Leben der Christa durch eine fachgerechte Zerstückelung ein Ende zu bereiten. Was ihm persönlich – dem Willi – natürlich eine lebenslängliche Gefängnisstrafe einbrachte, die er noch im Gerichtssaal lapidar kommentierte mit: „ Da werde ich wohl eine ehrenamtliche Vollzugshelferin benötigen, denn Christa kann mich ja nicht besuchen!“
In dieser Nachkriegszeit des „Wirtschaftswunders“ nun also, das Ende des Krieges lag inzwischen gut 13, 14, wenn nicht sogar 15 Jahre zurück, organisierten sich die Kinder und die Heranwachsenden des Dorfes, egal ob es die Volksschüler, die nach wie vor bei Frollein Koch, bei Schmolke, bei Pachmann und bei Bauer erzogen wurden, oder die Mittelschüler, die ja mit Badenhoop nach Achim zu Glockmann und Köhler gefahren werden mussten, waren, in Banden. Angefangen mit der Bildung einer Bande hatte Stutzke, der eingebildete beste Spieler der Schüler- und späteren Jugendmannschaft des TSV, der ja hinten am Rande des alten Bauerndorfes ebenfalls mit seiner Mutter und der Oma in einer provisorischen Flüchtlingswohnung lebte, und der es nicht weit hatte in die Wildnis des Urstromtals des Mühlengrabens, in der sich Schilf und Buschwerk und Getier aller Art breitgemacht hatte. Bisamratten, Biber, Ottern und Krokodile sollen hier, so erzählte man sich im Dorf noch Jahre später, gesichtet worden sein. Hier also, in der Weide- und Flusslandschaft vor Stutzke Haustür, in den Niederungen des Mühlengrabens, der bis heute seinen weiteren Verlauf über Schaphusen, Bockhorst und Sagehorn, vorbei an Lueßen’s späterer Privater Altenpension, in der, wie der Zufall es später bestimmen wollte, auch Hilda, die Herrenschneiderin aus Domnau / Ostpreußen und die Mutter der 4 Flüchtlingskinder und Nachkriegskinder, im Alter leben sollte, in die Wümmeniederungen zwischen Fischerhude und Oberneuland sucht – hier also in den „Wischen“, wie die Einheimischen zu sagen pflegten, baute sich Stutzke sein Bandenimperium auf. Er brachte alle Kinder und Heranwachsenden des Dorfes auf seine Bandenseite, die von Bremen aus gesehen auf der linken Seite der Hauptstraße (B75) in den Bauernhäusern, in den Siedlungshäusern und in den Flüchtlingsunterkünften wohnten, und die einen unmittelbaren Zugang, ohne die Hauptstraße überqueren zu müssen, zur Bandenzentrale unten in den Niederungen des Mühlengrabens hatten. Und sie bauten sich dort aus den Naturmaterialien, die sie vor Ort vorfanden, riesige oberirdische Bandenunterkünfte. Auch schleppten sie aus dem Dorf links der Hauptstraße alles heran, was zur wohnlichen Ausstattung der Naturunterkünfte diente: Alte Sofas, Strohballen, Melkerschemel, Wagenräder und sonstiges bäuerliches Gedöns. Im Mittelpunkt ihrer Bandenaktivitäten stand allerdings die Bewaffnung und die Aufrüstung, um für den Kampf gegen die Bande auf der anderen Seite der Hauptstraße und für die Eroberung von deren Hauptquartier, dessen Standort lange unbekannt war, gerüstet zu sein. So bauten sie sich aus Eichenholz und Einweckgummis riesige Zwillen, sie schnitzten sich schlagkräftige Holzschwerter aus Ulmenholz und fertigten langschweifige Peitschen aus dem Holz der Trauerweiden an, um am Tage X den Angriff auf die Bande der anderen Seite zu starten. .
FORTSETZUNG FOLGT IM JAHRE 2013,
ab 05.01.13
bis dahin: Guten Rutsch, viele schöne Kämpfe
und Alles Gute im Neuen Jahr 2013
wünscht Uli Pelz
HERBERT 23.12.2012
10/11
Von Hofhunden, rauchenden Schülern, kleinen Fluchten, Borgward-Pleiten, von krähenden Hähnen, Theaterkreisen , Brecht’schen Lehrstücken, Lungenoperationen, Kreisturnfesten und Massenschlägereien beim Faustball
Ja, es ist wahr. Sie wurden wirklich so gerufen. Die Hofhunde der von und zu Herrlichmühlen. Da war dieser ständig kläffende, laufende, springende, kratzende und beißende weiße Spitz namens Rommel. Der Alte von und zu Herrlichmühlen, die einzige menschliche lebende Person, die diesem Derwisch von Hund mit zackigen Pfiffen durch die Finger Einhalt gebieten konnte, sagte immer in gestelztem Hochdeutsch: „So einen Wüstenfuchs brauchen wir hier auf dem Hof, damit die Engländer und die Flüchtlinge wissen, wo das hier lang geht…!“ Dann war da auch dieser Kettenhund, der den hinteren Hof abseits der B75 an einem circa 50 Meter langen Drahtseil von seiner Hundehütte aus bewachte, und der bei jeder Bewegung, besonders auch bei den Bewegungen der auf dem Hof spielenden Flüchtlings- und Nachkriegskinder, wie ein Irrer anfing zu bellen und planlos an seinem Zwangsseil hin und her zu laufen. Er wurde von den Herrschaften und natürlich dann auch von den Kindern und den anderen Menschen auf dem Herrschaftsgelände „Herbert“ genannt, wobei Tante Hanni und später auch Kreidelutzschki immer wieder betonten, dass die Namenswahl für den Hund nichts mit dem Sächsischen Schneidermeister, und auch nichts mit dem ostpreußischen, lungenkranken Flüchtlingskind , und schon gar nichts mit dem Rugby-Trainer aus Achim, der nach England emigriert war oder dort als Spion tätig war, zu tun habe, sondern von einem Verwandten der von und zu Herrlichmühlen in Hagen-Grinden namens Herbert, einem Pferdezüchter und Reiter, abgeleitet sei, der, ähnlich wie der Hund Herbert, gerne sabbere beim Essen, besonders dann, wenn es diesen fettigen Kohl und Pinkel gäbe. Vor lauter Kohldampf würde der Pferdezüchter und Reiter Herbert aus Hagen-Grinden bereits eine halbe Stunde vor der Grünkohlmahlzeit auf einem Pferd sitzend der Oma beim Kochen durch das Küchenfenster zuschauen und dabei Speichel ablassen und den Sattel einnässen. Während der Kohlmahlzeit, so Tante Hanni, sei bei ihrem Verwandten aus dem Braunschweigischen dann der Speichelfluss nicht mehr zu bremsen und alles liefe ihm grün an den Lefzen herunter. So ähnlich sei es bei dem Kettenhund, der zwar nicht mit Grünkohl versorgt würde, der aber bereits beim Anblick von Pansen und sonstigen Schlachtabfällen sofort in den hündischen Speichelfluss verfalle, was für die in seiner Nähe stehenden besonders abartig sei, wenn er dabei auch noch vehement seinen Kopf schüttele und seinen Ausfluss in der Gegend verteile. Welcher Gattung dieser Kettenhund zuzuordnen war blieb ungewiss. Reinrassig, so wie Adolfs Schäferhund, war er wohl jedenfalls nicht, denn beide Seiten des Tieres hatten unterschiedliche Färbungen: die linke Hundeseite gescheckt fast wie bei einer Holsteiner Kuh, weiß, schwarz, auch grau, auch etwas rötlich Schimmerndes, hin und wieder auch schwarze Punkte auf weißem Hintergrund wie bei einem Dalmatier – während die rechte Seite glatt und fast kackbraun war. Und der Kopf zwischen diesen beiden Hundehälften war eher geformt wie der des Sexualstraftäters aus Hamburg-Moorfleet, der übrigens für seine Untaten auf der Autobahnbrücke 18 Monate auf Bewährung bekommen hatte, worauf sich Herbert Senior, einer der Väter der betroffenen Opfer, während der Urteilsbegründung im Landgericht Verden zu dem spontanen, völlig unsozialdemokratischen, sächsischen Ausruf hinreißen ließ: „ ab ins KZ mit dem Schwein, für immer, nu…“ Dafür erhielt er von dem pensionsreifen Vorsitzenden Richter der Landgerichtskammer, der in der Zeit von 41-45 einem Jugendgericht in Breslau als Direktor vorstand, 50 Mark Ordnungsstrafe aufgedrückt, die er in 10 Raten an die Gerichtskasse abbezahlen durfte. Um das Bild des Kettenhundes Herbert, ohne weiter auf die Prozesse beim Landgericht Verden einzugehen, abzurunden, sei also noch einmal die besondere körperliche Dreiteilung des Tieres erwähnt, linke Seite, rechte Seite, Kopf, die Tante Hanni damit erklärte, dass wohl eine Bande streunender ausgehungerter Wehrmachtshunde, entlaufener Englischer Besatzungsarmeehunde und Russischer Kampfhunde aus der SBZ über die Mutter von Herbert, dem Kettenhund, hergefallen sein müsse – amerikanische Hunde könnten es, so Hanni weiter, nicht gewesen sein, da diese von glaubensfesten, meist adventistischen oder mormonischen, patriotischen Amerikanern gehalten würden, die niemals zulassen würden , dass ihre Hunde über den Teich ins unchristliche Deutschland geschickt würden.
Der dritte Hofhund, genannt Kaiser Cäsar, soll hier nicht unterschlagen werden, obwohl er meist unauffällig im Eingang zu den Kuhställen lag und dem Knecht Alfred beim Häckseln der Rüben und dem Füttern der Tiere zuschaute. Ein großer alter Hund, schwarz-weiß gefärbt, dem meistens die Augen trieften und die Nase lief. Das kommt davon, so der alte von und zu Herrlichmühlen, weil er ständig im Durchzug liegt. „Das zieht hier wie Hechtsuppe“, so der Gutsbesitzer, „aber wir kriegen ihn hier nicht weg, irgendetwas bindet ihn an den Platz da im Eingang zum Kuhstall“. Und er kam nicht umhin, vor der versammelten Mannschaft der Kriegs- und Nachkriegskinder noch, bäuerlich versaut wie er häufig war, in seinem gestelzten Hochdeutsch zu ergänzen: „Ich glaube er liegt hier, weil er von hier aus den Kühen von unten an die Euter gucken kann! Vielleich findet er es ja auch schön, wenn sie den Schwanz heben und den Stall vollscheißen. Am liebsten guckt er zu, wenn Alfred den ganzen Mist zusammenkratzen muss und alles auf den Misthaufen bringen muss!“ Dem Kaiser Cäsar jedenfalls waren die Kühe und der Knecht wichtiger als die Hofkinder, um die er sich überhaupt nicht kümmerte. Trotz des Phlegmas des Kaisers hielten die Kinder immer weiten Abstand auch von diesem Hofhund, weil Tante Hanni immer die Geschichte von dem Flüchtlingskind, das jetzt in der Nähe vom Ottersberger Bahnhof lebt, erzählte: „Ärgert den Hund nicht, wenn ihr zu nahe an ihn ran geht, dann beißt er zu. Er hat gleich nach dem Krieg schon einmal ein Flüchtlingskind aus Hinterpommern, das jetzt in Ottersberg in der Nähe vom Bahnhof wohnt, fürchterlich zugerichtet! Die Engländer, die damals zufällig gerade einmal wieder auf dem Dorfplatz vor Bischoff Nachkriegspause machten, um ihre weißen dreieckigen Brote, die ein Amerikaner nie im Leben anfassen würde, weil ja kein gegrilltes Hackfleisch dazwischen liegt, zu verdrücken, mussten das Kind mit dem Jeep schnell in die Amerikanische Zone ins Sebaldsbrücker Krankenhaus bringen, von wo es aber noch am selben Tag mit mehreren Verbänden an den Armen und am Kopf zurückkehrte “. Das war immer Warnung genug für die Kinder, auch wenn die Geschichte von Tante Hanni mindestens 18x im Laufe der Nachkriegsjahre erzählt wurde. So waren die Beziehungen der Hofkinder, egal,, ob es die einheimisch geborenen Kinder waren, oder die noch in der Kriegszeit geborenen aus den Ostgebieten, oder auch die Nachkriegskinder der zugewiesenen Flüchtlinge, die entweder in der Flüchtlingsnotunterkunft wohnten oder die in den mit zusammengeklautem Bombenangriffs-Ruinen-Baumaterial aus Bremen selbstgebauten kleinen Aussiedlerhäuschen mit Karnickelstall hinten lebten, zu den drei Hofhunden auf dem Gutsgelände der von und zu Herrlichmühlen und auch zu den zwei Kläffern auf dem Hof von Onkel Johann Jäger, die ja nicht viel besser waren als Rommel, Herbert und der Kaiser Cäsar, sehr distanziert – wenn nicht sogar angstbesessen und traumatisch. Wie wir gehört haben, sollen einzelne dieser hundverängstigten Kinder, unter anderem das 1.Nachkriegskind des Schneidermeisters Herbert Senior und seiner Frau Hilda aus Ostpreußen, das jetzt in der Höheren Mittelschule Ipa genannt wurde, im späteren Leben eine unheilbare Hundepsychose entwickelt haben, die so weit gehen soll, dass bereits der Anblick von Hunden, egal ob groß oder klein, zu Schweißausbrüchen und zu Angstblasenschwäche führen soll. Belegt ist das nicht, aber man munkelt nicht nur in der ehemaligen Britischen Besatzungszone darüber, sondern auch in der Ostzone, in der der hier Angesprochene in den späteren Jahren nach 1989 als „Wessi“ und als Dozent nebenberuflich in der Aus- und Fortbildung, sowie in der Weiterbildung von Hundeführern, Grenzsoldaten, Staatssicherheitsbediensteten und Sozialistischen Heimpädagogen tätig war, nicht zu vergessen die Mitglieder und Mitgliederinnen des Politbüros und des ständig tagenden Zentralkomitees, …man munkelt also darüber, dass Ipa bei Veranstaltungen der Außerschulischen Jugendbildung, der Gewerkschaftlichen Betriebsratsbildung, bei der Paritätischen Sozialarbeiterausbildung und bei der ostzonalen Menschenausbildung, bei denen Hunde mitgebracht wurden von den Studierenden, regelmäßig in inkontinente und psychosomatische Verhaltensstörungen verfallen sein soll!
Bis zu der Ausübung von Dozententätigkeiten in den ehemaligen Gebieten der Sowjetischen Besatzungszone war es für das 1.Nachkriegskind der Schneider Herbert Senior und Hilda, das wir ab jetzt aus Vereinfachungsgründen nur noch bei seinem Necknamen Ipa, den ihm seine Klassenkameraden verpasst hatten wegen einer Internationalen Ausstellung in Leipzig, rückblickend gesehen, ein langer dorniger Weg. Erst einmal musste Ipa die Mittelschule hinter sich bringen, was ihm außer Gedichte auswendig lernen und ohne sprachtechnische Haken und Ösen vortragen, sowie Rugby spielen und dabei den Ballführenden von hinten brutal umwerfen, außerordentlich schwer viel. Besonders Glockmann, der ihn beim Rugby immer lobte, machte ihn in den Fremdsprachfächern Englisch und Französisch zum Sprachlosen. Glockmann, dem ja besondere pädagogische Fähigkeiten und gute Menschenführung nicht unbedingt attestiert wurden von den englischen und niedersächsischen Aufsichtsbehörden, nahm in keiner Weise Rücksicht auf die frühkindlichen Sprach- und Verhaltensstörungen des Ipa. Glockmann ließ in keiner Weise zu, dass seine geliebten Sprachen, wobei ja Englisch und Französisch nur zwei von siebzehn Sprachen waren, die er angeblich beherrschte, durch sprachtechnische Behinderungen, durch schludrige und falsche Aussprache, durch Vokabellernfaulheit, durch unerlaubte Mund- und Lippenstellungen beispielsweise beim th und durch abfällige england-und frankreichfeindliche Zwischenrufe im Unterricht verhunzt wurden. So ergriff den Ipa eben schon früh als Mittelschüler das Schicksal, von der Internationalen Kommunikation, die ja in englischer und französischer Sprache geführt wird, ausgeschlossen zu sein, was dann später dazu führen sollte, dass er seinen Traumberuf Diplomat hat nie ergreifen können, sondern beruflich im Mittleren Dienst in der Öffentlichen Verwaltung und später in der Sozialarbeit verkümmerte. Mit dazu beigetragen hat wohl auch die Tatsache, dass Ipa sich mit einigen anderen Leistungsversagern aus seiner Mittelschulklasse zusammentat, um durch undiszipliniertes, störerisches und rüpelhaftes Verhalten die Aufmerksamkeit der Lehrer, die sie ja in den Unterrichtsfächern nicht gerade genießen konnten, auf sich zu ziehen. So kam Ipa zusammen mit Werner Faber, einem Achimer Filou, eines Tages auf die völlig idiotische Idee im Werkunterricht bei Glockmann zu rauchen. Eigentlich, das muss ehrlicherweise dem Ipa zugutegehalten werden, ging die Idee dazu natürlich von Faber aus, der immer schon in jungen Jahren Zigaretten dabei hatte und meistens schon vor Schulbeginn auf seinem Schulweg, den er ja zu Fuß zurücklegen konnte, ein bis zwei Zigaretten rauchte, um danach kiloweise amerikanisches Kaugummi zu kauen, um die Nikotinspuren zu verwischen. Tatsache ist jedenfalls, dass Faber und Ipa wieder einmal eine trainingshosenbedingte Abwesenheit des Glockmann nutzten, um im Werkraum, in dem mindestens 10 Werkbänke standen, ihren Schabernack zu betreiben, nicht um den Mädchen zu gefallen, die ja gar nicht anwesend waren, weil sie parallel Wollunterricht hatten, sondern einfach um im Mittelpunkt zu stehen. Dass Faber dieses Mal zur Zigarettenpackung griff und Ipa mit animierte, sich eine anzustecken, ist umso tragischer….
So standen die beiden Deppen, Faber und Ipa, mit ihren brennenden Zigaretten am offenen Fenster hinter dem breiten Werkzeugschrank und pafften den auf Backe gerauchten Rauch hinaus auf den Schulhof, ohne dabei zu ahnen, dass Glockmann, der ja, wie man in der gesamten Britischen Besatzungszone munkelte, Erfahrungen in der konspirativen Spionagetätigkeit für das Ewige Reich in England haben sollte, sich kontrollmässig von hinten an den Werkraum anschlich, um zu schauen, ob die unterstellten Schüler auch ihren übertragenen Aufgaben gerecht wurden. Dabei hatte er selbst eine Englische Players Nr.5 im Mundwinkel, die er immer dann in sich hineinsteckte, wenn er glaubte von den Schülerinnen und Schülern der Mittelschule unbeobachtet zu sein. Und ohne diese aus dem Mundwinkel herauszunehmen, ergriff er sich die rauchenden Missetäter, riss ihnen die Fluppen, es waren wohl welche mit diesen neumodischen Filtern, wenn wir uns recht an die Marke erinnern: Ernte 23, aus den Händen und echauffierte sich in einer Art und Weise, wie sie so noch nie gesehen wurde bei ihm, über das haltlose Schulvergehen von Faber und Ipa: „Ihr nutzlosen Geschöpfe, die ihr noch nicht einmal in der Lage seid, einen einzigen vollständigen Satz in Englischer Sprache zu sprechen, nehmt euch das Recht heraus, euch in meinem Unterricht billige deutsche Filterzigaretten anzustecken und diese auch noch auf Lunge zu rauchen!“ Faber: „Es war nicht auf Lunge!“ Glockmann: „Lunge hin, Lunge her, bei mir wird nicht geraucht!“, wobei ihm der Playersstummel, der immer noch in seinem Mundwinkel hing, fast ins Innere des Rugbylehrerkörpers gerutscht wäre, hätte er ihn nicht geistesgegenwärtig, wie er immer war, vorher noch auf den Holzfußboden des Werkraumes ausspucken können. Dann folgten Flüche, die er auf Englisch vortrug, vor der der versammelten männlichen Werkgemeinschaft, die Sortierung der Glockmann’schen Trainingshose, über die, das muss fairerweise hier an dieser Stelle erwähnt werden, in diesem Falle ein grauer Werklehrerkittel, so eine Art Hausmeisterkittel, übergestreift war, um die unbeherrschten automatischen Bewegungen der Trainingshose zu verdecken, und die Belüftung des Werkraumes mit Frischluft, bevor es dann zu der Glockmann’schen Strafverfolgung gegenüber den rauchenden Probanden kam: „Bitte gebt eure Zigaretten bei mir ab, verlasst dann bitte meinen Werkunterricht, bei dem ihr beiden sowieso nichts lernt, und geht dann bitte sofort zu Direktor Köhler und erzählt ihm, was ihr beiden angestellt habt und was ihr für unmögliche Kerle seid!“ Und Glockmann ergänzte noch, dass nicht klar sei, ob dieser Fall ein Fall auch für die Britischen Besatzungskräfte sei, und ob nicht Meldung nach Mönchengladbach gemacht werden müsse, und ob nicht die Englische Regierung und das Königshaus persönlich eingeschaltet werden müsse. Aber darüber, so Glockmann, habe nicht er zu entscheiden, sondern Direktor Köhler, der ja für seine schnelle, ja fast gehsportlerische Gangart durch Achim bekannt sei und für seine schnelle Entscheidungsfreudigkeit, die manchmal weniger als 14 Tage in Anspruch nehmen würde. Die Ertappten gaben Zigaretten und Werkzeug ab und schlichen aus der Werkhalle hinaus zum Hauptgebäude der Neuen Mittelschule. Faber rauchte noch eine Ernte 23 hinterher, während Ipa, der ja früher als das 1.Nachkriegskind der Schneider Herbert Senior und seiner Frau Hilda in Ostpreußen bezeichnet wurde, verfiel nun wieder in seine Englischen und sonstigen Krankheiten und schlotterte vor Angst vor den bevorstehenden körperlichen Züchtigungen im flüchtlingsheimischen Bereich. So verzichtete Ipa genauso wie Faber auf den Besuch des Direktor Köhlers und stahl sich schlotternd und weinend vom Schulgelände zu seinem Fahrrad, um der ganzen Situation zu entfliehen und sich so weit wie möglich mit dem einigermaßen intakten Fahrrad, das noch vor zwei Tagen von Herbert Senior mit Stoffresten aus der Schneiderei, mit Nähmaschinenöl, mit Fleckentferner und mit der großen Schneiderschere in Stand gesetzt wurde, vom Tatort zu entfernen. Auf der ersten Etappe seiner Flucht landete Ipa kurz hinter Achim in Uphusen in so einem kleinen Waldstück nahe der Autobahn. Er warf das Fahrrad verzweifelt weg, um sich auf einen Baumstumpf zu setzen, auf dem er selbstvergessen oder auch selbstwahrnehmend sich der bekannten Art und Weise seiner Fingernägelpflege hinzugeben, herzerwärmend zu schluchzen und zu heulen und sich selbst zu bemitleiden, sein restliches Schulbrot mit schwarzem Sirup aus dem Ranzen herauszuholen, um sich damit den gesamten Mundbereich schwarz einzufärben und zu verkleben. Mit dieser sirupgefärbten Schnute fuhr Ipa dann mit seinem notdürftig mit der Schneiderschere zusammengeschraubten Fahrrad weiter über Mahndorf und Arbergen, wo ihm der alte Brüggemann noch freundlich zuwinkte, bis zur Hemelinger Brauerei, in der das Lieblingsgetränk der Männer in der Britischen Besatzungszone hergestellt wurde, um von dort aus weiter bis zum Hastedter Weserwehr zu radeln, um sich dort in die Fluten zu werfen. Allerdings vollzog Ipa den letzten Schritt als Konsequenz seiner Untaten dann doch nicht, weil seine körperlichen und psychischen Störungen sein Persönlichkeitsprofil so ruiniert hatten, das er noch nicht einmal in der Lage war, den befreienden, endgültigen Sprung ins kalte Wasser zu vollziehen. So schaute er noch lange selbstvergessen den Wasserfällen und den Strudeln des Weserwehres zu, um sich dann mutig zu entscheiden, zum Haupttor des Borgward-Werkes nach Sebaldsbrück weiterzuradeln, um dort den Hauptpförtner zu fragen, ob nicht Herbert Senior einmal herauskommen könne aus dem Werk, damit er ihm schon einmal alle Untaten beichten könne, und damit auf die zu erwartenden körperlichen Züchtigungen verzichtet werden könne. So fuhr er also heran an die dicke rot-weiße Schranke vor der Hauptpförtnerloge des Autowerkes, lehnte sich mit seinem Rad an die Schranke und schaute verängstigt hinüber zum Hauptpförtner, der über den Außenlautsprecher für alle Welt hörbar in Bremischem Slang verkünden ließ: „Was willst du denn hier, du Hosenscheißer, wir sind pleite, hier ist keiner mehr, hau ab mit deiner Sirupschnute, gib die Schranke frei, gleich will der Direktor das Werk für immer verlassen!“ Was das wohl bedeuten mag: Pleite, so fragte sich Ipa und entwickelte zum ersten Male in seinem Leben Sorge um seinen Vater, den Schneidermeister Herbert Senior, der wegen der Russen und der Engländer sein Handwerk nur noch nebenbei ausüben konnte, und der zum Geldverdienen deshalb in die Sattlerei bei Borgward abgeschoben wurde. Ipa stellte sich an die Seite der Hauptpförtnerloge und konnte wenige Minuten später beobachten, wie Direktor Borgward in einer großen schwarz-weißen Borgward-Isabella vor die Hauptpförtnerloge vorfuhr, anhalten ließ, mit breitkrempigen Hut auf dem Kopf und dicker Zigarre im Mund ausstieg und sich auf die beiden Pförtner zubewegte, um sich von diesen in einem herzergreifenden Abschiedsakt zu verabschieden, für immer. Die Pförtner hatten rote Nelken besorgt, die sie dem scheiden Direktor mit auf den Weg gaben. Ipa selbst, nachdem das Werk geschlossen wurde, machte sich auf den letzten Weg seiner Stadtodyssee. Über Osterholz, Tenever, Oyterdamm, Oyter Berg, Zöllner, Biesewig, Höper, Fesenfeld, Oytermühle, Bockhorst und Schaphusen näherte er sich, nicht ohne sich vorher noch erfolglos umgeschaut zu haben, ob irgendwo unterwegs an den Fahrradständern der Gastwirtschaften das bekannte Arbeiterfahrrad des Herbert Senior angelehnt war, der Flüchtlingsnotunterkunft, welche sein zu Hause war. Es war bereits weit nach Feierabend sowohl der Borgwardarbeiter, für die ja jetzt sowieso endgültig Schluss war, als auch der Malermeister und sonstigen Handwerker der Siedlung. Auch die Bauern hatten früh Schluss gemacht, weil es ja schon früh dunkel wurde zu der Jahreszeit. So standen sie alle geschlossen versammelt auf dem Hof unter der Kastanie nahe dem Flüchtlingsheim. Auch die Kinder, egal, ob es die plattdeutschsprechen einheimischen waren, oder die noch im Krieg geborenen Flüchtlingskinder, und besonders die große Zahl der Nachkriegskinder, die wie die Jungkarnickel auf die Welt kamen, besonders als die Engländer sich nach Mönchengladbach und in die Heide zurückgezogen hatten, und die aus der Ostzone noch schnell vor dem Mauerbau rüber gemachten , standen aufgereiht neben den Erwachsenen als Empfangskomitee auf dem Hof, um die Ankunft von Ipa, der ja noch vor kurzer Zeit nur 1.Nachkriegskind genannt wurde, nach stundenlanger Stadtirrfahrt feierlich zu bejubeln. Der alte von und zu Herrlichmühlen holte eine Flasche illegal Selbstgebrannten und eine von Oma von und zu Herrlichmühlen selbst hergestellten Eierlikör aus dem Keller und mehrere kleine eierbecherartige Gefäße, um den Empfang und die Rückkehr des Ipa gebührend zu begießen. Währenddessen Mausi, das 2. Nachkriegskind, in ihrer FDJ-Kluft/Junge Pioniere nicht darauf verzichten konnte anzumerken, dass im Sozialismus solche Kinder wie Ipa, die sich der sozialistischen Gemeinschaft und den sozialistischen Lernverpflichtungen entziehen würden, sofort in die sozialistischen Umerziehungslager und in die sozialistischen Kinderheime gebracht würden, damit das Erziehungsversagen in den konterrevolutionären Familien kompensiert werden könne. Auch Herbert Junior, der es ja nie hinbekommen hätte, einmal eine selbständige Flucht aus seinem Lebenszyklus zu unternehmen, weil er ständig auf die Alltagsunterstützung der Eltern, der Geschwister (auch wenn er dieses niemals wahrhaben wollte) und der externen Heime und Einrichtungen angewiesen war, konnte sich eines gehässigen Kommentares nicht erwehren: „Schön, das gibt Arschvoll und eine Woche Stubenarrest. Dann können wir jeden Tag Schach spielen, ich mach‘ ihn fertig!“. Auf jeden Fall, und das steht bis heute fest, hätten weder Mausi, das über Kurzwelle der SED geleitete 2.Nachkriegskind, noch Herbert Junior, das seit der Flucht aus Ostpreußen Tbc-kranke Kriegskind, und schon gar nicht das 3. Nachkriegskind, das bis heute noch im Kinderwagen sitzt und das selbständige Laufen auf zwei Beinen bis heute noch nicht gelernt hat, so eine Fluchtleistung wie Ipa erbringen können, weil ihnen dazu ja eigentlich die Charaktermerkmale wie Risikobereitschaft und Wagnismut fehlten.
Der befürchtete Skandal um das Rauchen in der Mittelschule verlief dann im Sande, weil weder von den rauchenden Schülern selbst, noch von Glockmann und schon gar nicht von den Eltern Meldung an die Mittelschuldirektion gemacht wurde. Was hätte Köhler, dieser Neugermanist mit dem schnellen Schritt, der mit Vorliebe die deutschen Schriftsteller mit B in den Mittelpunkt seines Deutsch-Unterrichts stellte, auch machen sollen, zumal ja in der Zwischenzeit alle Beweise und Spuren des Vorganges sich in Rauch und Nebel aufgelöst hatten. So war es Köhler eine Freude, das rezitative lyrische Talent des Ipa, das bei Willem Petersen entwickelt wurde, weiter zu fördern mit den B-Autoren der Deutschen Nachkriegsliteratur, nämlich mit Brecht, Benn, Böll und Borchert. Mit welcher Leidenschaft Köhler den Höheren Schülern seiner Deutschstunden zum Beispiel „Draußen vor der Tür“ von Borchert nahebrachte, kann hier nur andeutungsweise erwähnt werden. Eine neue Generation von jungen Lehrern machte sich zunehmend in den Schulen breit, und die hatten keine Lust mehr auf Ernst Jünger und Konsorten, sondern sie wollten dem neuen demokratischen und literarischen Aufbruch in der neuen westdeutschen Gesellschaft auch durch Ihren Unterricht an den Schulen gerecht werden.. Köhler war so einer, und ihm gelang es unter anderem, was rückblickend wohl als ganz hervorragende pädagogische Leistung zu bezeichnen ist, einem eigentlich sprachlosen Kind die neue deutsche Literatur zu vermitteln – und das ohne Holpern und Stolpern, ohne Zeitverlust beim Sprechen, ohne akrobatische Verrenkungen und Verhinderungen beim Hinauswerfen der Wörter und Silben. Und wie stolz alle in der Klasse waren, als Ipa, der, wäre er aufgefordert worden, auch den Text des Einheitsfrontliedes „…und weil der Mensch ein Mensch ist - und so weiter und so weiter…“ von Bertold Brecht hätte vortragen können, was Köhler allerdings aus Gründen der Schulaufsicht durch die Englische Besatzungsmacht und durch das Niedersächsische Schulministerium hat nicht zulassen können, obwohl bei ihm die Neigungen zu der Arbeiterlyrik Brechts anzumerken waren, …und wie stolz, wie gesagt, alle waren, als Ipa vor der versammelten Mannschaft der Mittelschuldirektion, der gesamten Lehrerschaft und der gesamten Schülerschaft – eingeladen waren auch der Bürgermeister von Achim und die Britische Schulkommissarin aus Mönchengladbach, Sarah Fletcher, in einwandfreiem sprachlichen Verlauf, sogar mit Betonung und guter Atmung das Brecht’sche Gedicht: „Deutschland 1952“ vortrug:
O DEUTSCHLAND, WIE BIST DU ZERRISSEN
UND NICHT MIT DIR ALLEIN!
IN KÄLT UND FINSTERNISSEN
LÄSST EINS DAS ANDERE SEIN.
UND HÄTTST SO SCHÖNE AUEN
UND REGER STÄDTE VIEL;
TÄTST DU DIR SELBST VERTRAUEN
WÄR ALLES KINDERSPIEL.
Im Eifer des Gefechtes wollte Ipa danach noch ohne Pause sofort das Gedicht „An die Nachgeborenen“ von Brecht vortragen…“Wirklich ich lebe in finsteren Zeiten….“ , wurde aber von Köhler, Fletcher und dem Bürgermeister von Achim, Rippich, ausgebremst mit den Hinweisen, dass der Hubschrauber nach Mönchengladbach warte, oder dass noch ein weiterer Termin in Achim-Bierden im neuen Krankenhaus warte, oder, wie Köhler sich entschuldigte: er noch zu einer literarischen Veranstaltung nach Bremen ins Rudolf-Alexander-Schröder-Haus müsse, um dort über die „Neue Deutsche Nachkriegslyrik in den Amerikanischen und Britischen Besatzungszonen“ zu referieren. Immerhin könne er bis dorthin nicht gehen, er müsse den Zug am Achimer Bahnhof erreichen, der in 20 Minuten dort einlaufen würde. So war also auch diese Lyrikveranstaltung in der Achimer Mittelschule kurzfristig beendet, während Ipa seine vorbereiteten Aufsagetexte noch still und leise vor sich hin sprach, bevor er sich im Bus von Badenhoop wiederfand, der es ihm erlaubte mitzufahren, da der Schneidermeister Herbert Senior trotz der Borgwardpleite in der Zwischenzeit das Fahrgeld bezahlt hatte, da er einen rentablen Auftrag zur Anfertigung von geheimen westdeutschen Anzügen für verdiente Mitglieder des Sächsischen Zentralkomitees in Dresden hatte. Da wurde nicht in Ostmark gezahlt, auch nicht in Russischen Rubel, sondern in Amerikanischen Dollars und in Lucky Strikes!
Die ganzen Mittelschulskandale waren für Herbert Junior, nachdem er Ipa während dessen nächsten Stubenarrestes, den dieser teilweise im Kohlenkabuff verbringen musste, mindestens 10x vom Schachbrett gehauen hatte, uninteressant. Die körperliche Konstitution des Kriegs- und Flüchtlingskindes nahm mehr und mehr ab. Selbst die Aufenthalte in den RotenburgerAnstalten, wo Herbert Junior eigentlich sein Abitur hinlegen wollte, waren jetzt zu anstrengend und mussten immer wieder unterbrochen werden. Die Lungenspezialisten in den Kliniken, die noch kein geeignetes pharmazeutisches Mittel gegen die schreckliche Tuberkulose hatten, und auch Dr. Spanner in Oyten, der das Flüchtlingskind von Anfang an in seiner Neuen Heimat ärztlich begleitet hatte, wussten keinen anderen Weg, als eine weitere Operation an der Lunge des Herbert Junior vorzunehmen. Im Klartext bedeutete das eine weitere Verkleinerung des Lungenvolumens, was natürlich die anderen Kinder der Siedlung nicht medizinisch einschätzen konnten. So munkelten sie untereinander über Herbert Juniors Krankheit von „ …er kriegt keine Luft“, oder „…er hat wohl die Motten“, oder „…er jabbst auf dem letzten Loch“ usw.usw. Was es bedeutete, dass Herbert Junior nun wohl nach der nächsten bevorstehenden Operation nur noch eine ¼ Lunge haben würde, konnten sich die Kinder, und wohl ebenso auch die meisten Erwachsenen auf dem Gutsgelände und in der Flüchtlingssiedlung, nicht vorstellen, da sie weder in der Schule noch sonst wo jemals etwas über die biologischen und anatomischen Strukturen der Menschen gelernt hatten. Selbstverständlich wurde an den verqualmten Tresen und Biertischen bei Bischoff, Schulz oder Segelken nicht über die Anatomie des menschlichen Körpers und schon gar nicht über die Auswirkungen des hemmungslosen filterlosen Rauchens auf die Lunge gesprochen. Es war eben alles Schicksal, den einen trifft‘s so, den anderen so. Hauptsache mir geht es gut! Kanns nix an mauken! De Herrgott sächt die wat geiht und wat nich geiht! Der Herrgott hatte nun also wieder einmal bestimmt, dass Herbert Junior erneut ins Krankenhaus nach Bremen musste, um eine weitere Lungenoperation über sich ergehen zu lassen. Die drei Geschwister waren einerseits sehr traurig, dass Herbert Junior wieder weg musste, andererseits jedoch waren sie aber auch froh in der Hoffnung, dass während der erneuten Abwesenheit des kranken Bruders ihnen die verstärkte Zuwendung der Eltern sicher sei. Da ja nun aber die eine Schlafgelegenheit in der Stube, die immer von Herbert Junior in Beschlag genommen wurde, wenn er zu Hause war, frei war, reiste erst einmal „Gefichel“, wie Herbert Senior immer zu sagen pflegte, aus dem Ruhrgebiet und aus der Ostzone an. Zuerst das Tantchen aus der Ostzone, genannt DDR, dann die Oma aus dem Ruhrgebiet, noch später dann die taubstumme Schwester zusammen mit dem taubstummen Schwager und ihrem weder tauben noch stummen Sohn, den sie Helmut riefen, und der ein Jahr älter war als Ipa und der immer übersetzen musste, wenn die Eltern in ihrer eigenartigen Sprache für die anderen Anwesenden unverständlich waren. Er war mit der Zeichensprache der Eltern aufgewachsen und drückte sich, wenn er sich nicht im Griff hatte, auch anderen Kindern und Erwachsenen gegenüber nur mit diesen Handsignalen aus. Auch konnte er, wie die Eltern, die Worte von den Lippen der Sprechenden ablesen, was Ipa dazu bewegte, in der Anwesenheit des Cousins lieber gar nicht erst mit Sprechversuchen zu starten, denn der Cousin konnte nur die Lippen bei Nichtsprechbehinderten ablesen. So war der Schlafplatz von Herbert Junior über Wochen hinweg ständig von „Gefichel“ belegt. Wenn sie zu zweit oder zu dritt kamen, dann mussten auch wieder Schlafplätze im großen Bett und im Flur zum Treppenhaus eingerichtet werden. Auch Reinhart, den Hut wie immer weit ins Gesicht gezogen, klopfte zwischendurch an , blieb im Treppenhaus stehen und erkundigte sich wie immer nach dem Wohlbefinden der Familie und besonders nach den Fortschritten beim 2.Nachkriegskind, das von allen nur Mausi gerufen wurde. Ob sich die Erziehungsmaßnahmen am Scharmützelsee bereits ausgewirkt haben, wollte er immer wissen, und ob sie auch immer brav die Uniform der Jungen Pioniere trage? „Nu, freilich“ war die stereotype Antwort von Herbert Senior, der ja der Onkel des Geheimnisträgers war. Ob er nicht für einen kurzen Moment auf eine Tasse echten Bohnenkaffees hereinkomme wolle, so Hilda, die Frau des Sächsischen Schneidermeisters zum Sächsischen Reisekader. Was dieser, wie immer, dankend ablehnte. Dieses Mal mit den Worten: „Echten Bohnenkaffee haben wir ooch, ich muss los, ich hab noch eene Verabredung mit een Mittelstürmer“. Aha. Also doch. Stalin! War er also doch für den Staatsicherheitsdienst der Ostzone tätig! Das haben wir uns doch alle gedacht!
Die Operation war gut verlaufen. Herbert Junior jedoch war wieder einmal sehr geschwächt und musste im Krankenhaus mehrere Wochen lang aufgepäppelt werden. Wohl eher nicht mit dieser Rotwein-Malzbier-Eier-Mischung, mit der er immer zu Hause am Leben erhalten wurde, sondern wohl eher mit schweren Medikamenten und diesem berühmt, berüchtigten Krankenhausessen, von dem ehemalige Patienten noch mehrere Jahre nach ihrer Entlassung Albträume hatten. Die Geschwister besuchten ihn zusammen mit der Mutter Hilda, dem Vater Herbert Senior, dem „Gefichel aus Sachsen und dem Ruhrgebiet, welches gerade da war, und auch zusammen mit einigen Siedlungskindern, die vorher noch niemals in der Stadt waren. So waren Günter, Fredi, Manfred, Jochen, Erika und Margret häufig mit im Großen Krankenhaus, worüber Herbert Junior sich immer sehr freute, da er bei den Besuchen dann ein großes Forum hatte, um seine persönlichen Leistungen im Schachspiel, im Peddigrohrflechten, im Malen mit Tusche und mit Öl, im Pilzesuchen und im Murmelspiel zu referieren. Dabei verzichtete er, im Krankenhauskittel auf dem Krankenhausbett liegend, auch hier nicht darauf, immer wieder zu betonen, dass die anwesenden Besucher von den aufgezählten Disziplinen ja nun einmal überhaupt keine Ahnung hätten! Alle ahnungslosen Kinder nahmen diese persönlichen Abqualifizierungen kommentarlos hin, da ihnen Herbert Senior und Hilda gesagt hatten, sie sollten mit Herbert Junior am Krankenbett nicht streiten – das würde seinen Zustand nur noch verschlimmern. Nur Mausi konnte nicht umhin zu betonen, dass die Jungen Pioniere ihrer Altersgruppe in allen Disziplinen, außer den von Herbert genannten, im Sozialistischen Internationalen Lager die Bestmarken erreicht hätten und sie dafür auch schon mit Sozialistischen Leistungsmedaillen der FDJ ausgezeichnet worden sei, wobei sie in die Hosentasche ihrer Uniform griff und so eine FDJ-Medaille herausholte. „Solche Medaillen habe ich auch, 7 Stück, die hängen in Rotenburg an der Wand“ entfuhr es Herbert Junior – „und die sind nicht aus Blech, wie deine Ostzonenmedaille, sondern aus Holz, und sie wurden eigenhändig in den Werkstätten der Rotenburger Anstalten hergestellt. Meine Medaillen sind besser“!
Nach dem wochenlangen Krankenhausaufenthalt folgte für Herbert Junior dann wieder einer dieser Kuraufenthalte in einem Luftkurort, dieses Mal entschieden sich die Ärzte und das Versorgungsamt für Bad Reichenhall unten in Bayern, fast Österreich. Herbert Senior, der jetzt ja bei Borgward gegen Zahlung des Konkursausfallgeldes vom Arbeitsamt freigestellt war und noch keine andere Arbeit gefunden hatte, nutzte die arbeitsfreie Zeit, obwohl mehrere Schneidereiaufträge von Krohme, der immer mehr in die Breite ging, vorlagen, um Herbert Junior ins Kurheim nach Bayern zu bringen; die Zugfahrt und zwei Begleitübernachtungen wurden ja vom Versorgungsamt bezahlt. Mehr als 10 Stunden waren sie unterwegs mit dem neuen TEE, Trans-Europa-Express, von Bremen bis München, und von dort weiter mit einem von einer Dampflok gezogenen Alpenzug München-Salzburg mit Halt in Bad Reichenhall. Die Dampflok hüllte während der fast zweistündigen Fahrt nach Reichenhall den gesamten Zug wunderbar ein mit Wasserdampfabgasen und mit schwefelhaltigen, schwarzen Auswürfen aus dem Lokkessel und dem Lokschornstein. Herbert Junior kannte diese Eisenbahngerüche der 50er Jahre, und er war bei jeder Kurfahrt glücklich, die Ausdünstungen der Lokomotiven einatmen zu dürfen. An seine Lunge dachte er in diesen Momenten nicht, sondern er war nur glücklich wieder einmal in ein neues Heim zu kommen, in dem er allen dort Anwesenden, einschließlich der Ärzte und Schwestern, beweisen konnte, wie gut er in seinen Leistungsfächern Schach, Pilze, Peddigrohr, Malen usw. ist. Gleich zu Beginn seines Aufenthaltes in der Kurklinik in Bad Reichenhall wurde er dann allerdings von einem bayerischen „Kurkameraden“ gefragt, ob er eine Runde Schafkopf mitspielen wolle, woraufhin Herbert Junior nach langer Zeit einmal wieder einräumen musste, dass er das Spiel nicht kenne und nicht könne, und dass er das Spiel sowieso nicht mitspielen werde, weil das Spiel Mist sei! Man kann aber sicher sein, dass Herbert Junior nach seiner Rückkehr aus Bad Reichenhall seine gesamte Verwandtschaft und auch die gesamte Siedlung in seine neuerworbene Spielleidenschaft, nämlich Schafkopf, sofort einbeziehen wird und allen erzählen wird, wie er diese bayerischen Krüppel, die ja eigentlich von dem Schafkopfspiel keine Ahnung haben, ständig besiegt hat. Wie wir heute wissen, mündete diese neue Herbert’sche Bayerische Arroganz in den Ausruf gegenüber Ipa: „Schleich di du Seppl!“
Hilda hingegen, die Mutter der 4 Flüchtlings- und Nachkriegskinder, nutzte die Zeit des wochenlangen Krankenhausaufenthaltes und des wochenlangen Kuraufenthaltes von Herbert Junior, um ihre verschütteten Begabungen aus ihrer Zeit beim Bund Deutscher Mädchen, wo sie es, wie sich zufällig Jahre später beim Sichten einer Dokumentenkiste herausstellte, zur Gruppenführerin gebracht hatte, wiederzubeleben. So ging sie jetzt regelmäßig in die Frauenabteilung des TSV Gut Heil, um zusammen mit Karin Schmolke, Else Pachmann, Ingrid Bauer, Lilo Strotmann, der verruchten Frau des Malermeisters, Else Karpinsky, Hilda Herzfeld, Rita Schulz, der Frau des Kaufmannes und Gastwirtes, Anni Segelken, Hildegund Claus, der Mutter von Hildegard Claus, einer Klassenkameradin von Ipa, Marianne Stutzke, der Mutter des berühmten Fußballers Stutzke und Roswitha Borstelmann, der Mutter von Christa, aus Ueserdicken, Gymnastik und Turnen nach den alten Regeln des BDM zu betreiben: Keulen, Ringe, Ball, Bänder, Stufenbarren, Boden, Bocksprung. Dazu brachten sie auch einen Plattenspieler mit in Bischoffs Saal, auf den sie dann gymnastische Musik ohne Texte der 30er und 40er Jahre auflegten. So kehrten sie also versonnen zurück in die sportlichen und politischen Jugendzeiten, ohne dabei etwas Böses zu beabsichtigen. Nun gut, sie saßen dann auch anschließend nach den Turnstunden noch ein wenig zusammen bei Eierlikör und Sinalco bei Bischoff, Schulz oder Segelken, und zu vorgerückter Stunde, wenn keine Männer weit und breit zu sehen waren, dann konnte es auch schon einmal vorkommen, dass zaghaft, meistens nur in leisen Summtönen, die Erkennungsmelodien des BDM angesungen wurden, um sich dann in ein geheimnisvolles nicht enden wollendes BDM-Gekicher zu verlieren. Auch entdeckten die Frauen des Dorfes, egal, ob es die einheimischen waren oder die zugezogenen, nun ihre kulturellen Neigungen neu und gründeten den Theaterkreis, der sich zum Ziel gesetzt hatte, die Opern und Operetten im Neuen Bremer Theater zu besuchen und auf der Bühne des Saals von Bischoff ein eigenes Theaterstück aufzuführen. Herbert Senior bekam den Auftrag, für alle Frauen des Theaterkreises theater-und stadtfähige Ausgangskleider zu schneidern, damit bei den Städtern nicht der Eindruck entstehen könne, dass hier Landpomeranzen einen Ausflug in die Stadt unternähmen. So schneiderte er, Herbert Senior, der Sächsische Schneidermeister, aus schönen Stoffen, die noch da waren, und aus neuen Stoffen, die bei Wenderhold besorgt werden mussten, wunderschöne Ausgehkleider für den Theaterkreis. Einige der Kleider hatten Bühnenqualität, sie hätten durchaus in einigen der Operetten und Opern mitspielen können, die vom Theaterkreis besucht wurden. Und was alles zum Repertoire des Theaterkreises gehörte! Aufführungen, von denen in der Provinz bisher noch niemand gehört oder gelesen hatte. Selbst der Sächsische Kulturabkömmling Herbert Senior musste staunen, als er das Programm des Theaterkreises las: Paul Abraham: Die Blume von Hawei – Johann Strauß: Die Fledermaus – Albert Lortzing: Zar und Zimmermann – Werner Egk: Die Zaubergeige – Eduard Künneke: Der Vetter von Dingsda – Joseph Haydn: Der Apotheker – Wolfgang Amadeus Mozart: Cosi Fan Tutte – Richard Wagner: Götterdämmerung – Giacomo Puccini: Madame Butterfly…..selbst Russen wurden gespielt und vom Theaterkreis, der bei den Herren bei Bischoff, Schulz und Segelken bald die abfällige Bezeichnung „Stadtweiber“ weg hatte, angeschaut, wie z.B.: Nikolai Rimski-Korsakow: Der Goldene Hahn. Auch waren die Männer des Dorfes, die während der Abwesenheit ihrer „Stadtweiber“ bei lauthalsigen Doppelkopfspielen entweder bei Segelken, Schulz oder Bischoff zusammensaßen, sehr erstaunt darüber, wie kulturselig und kulturbeflissen die Frauen aus der Stadt zurückkehrten. Auch Hilda, die Schneiderin aus Domnau und ehemalige BDM-Gruppenführerin, konnte plötzlich wieder in drei bis vier ostpreußisch gesprochenen Sätzen ihre Gefühle und Eindrücke von den Theatererlebnissen artikulieren. Wer schön gesungen hat, und wer nicht so schön, und wie die Kulissen waren, und wie das Orchester gespielt hat, und welche Kostüme schön waren, und wie überhaupt das ganze Theater auf sie gewirkt hat – das alles konnte sie nach der Rückkehr aus Bremen vor versammelter Mannschaft bei einem schönen gelben Flamingo, Sinalco mit Eierlikör, wunderbar ostpreußisch vortragen! – Und auf die unmögliche Frage von Hannes Strotmann, dem Malermeister, der wegen seiner Verkehrsordnungswidrigkeiten mit seinem Beiwagenmotorrad unter Alkoholeinfluss und wegen Nichtzahlung der Bußgelder schon mehrere Kurzinhaftierungen hinter sich hatte, ob denn die „Stadtweiber“ in der Stadt auch genug zu „pimpern“ hatten, beantwortete Hilda, die Mutter von 4 Kindern, unterstützt von Lilo Strotmann, der Frau des besagten Malermeisters, trocken, wie man es bisher noch nie von ihr gehört hatte: „Na, ja, hatten wir. Auf der Rückfahrt vom Theater im Bus. Wir hatten es alle mit diesem Busfahrer von Pucks. Deswegen kommen wir ja so spät!“ Strotmann bestellte einen Doppelkorn für sich, seitdem hat er nicht mehr viel gesagt. Er ging dann, ohne sich von Lilo, seiner Frau, und den anderen Doppelkopfmännern und den anderen Frauen zu verabschieden, hinaus, um sich auf sein Motorrad mit Beiwagen, in dem noch Farbeimer und Tapeten lagerten, zu schwingen, und um mit seinen mindestens 2,5, wenn nicht 3,5 Promille die Heimfahrt in die Flüchtlingssiedlung zu unternehmen. Daraus wurde aber nichts, wie sich später herausstellte. Denn am nächsten Morgen wurde er in seinem eigenen Beiwagen schlafend oben am Friedhof nahe der Volksschule vorgefunden, nicht weit entfernt vom Kriegerdenkmal und vom größten bäuerlichen Anwesen ganz Norddeutschlands. Die Farbeimer und die Tapeten fanden sich im Umkreis der Volksschule wieder. Die Deckel der Farbeimer mit der weißen Farbe müssen sich auf dem kurzen Weg von Bischoff bis Volksschule gelöst haben, so dass für die Dorfgemeinschaft farblich leicht nachvollziehbar war, wie die Flucht von Strotmann vor den Argumenten von Hilda, der Mutter von 4 Kindern, und Lilo, seiner eigenen verruchten Frau, verlaufen war. In dieser Frühphase der ländlich weiblichen Emanzipation der Nachkriegszeit in der Britischen Besatzungszone war es Hilda, der Schneiderin aus Ostpreußen, und ihren Mitstreiterinnen aus dem Theaterkreis doch völlig egal, ob Strotmann in seinem Beiwagen auf dem Friedhof pennte, oder ob Stalin der Held der Bezirksliga war, oder ob der Schah von Persien, den sie ja alle kannten aus den Lesemappen bei Dr.Spanner, in Berlin auf antipersische Demonstranten von seinen Jubelpersern mit Holzlatten einprügeln ließ – sie waren jetzt Schauspielerinnen und ließen sich von keinem bäuerlichen Kulturbanausen in ihr Vorhaben hineinreden! Selbst der Versuch von dem alten Herrlichmühlen, der bei einer Zusammenkunft des Theaterkreises plötzlich auftauchte und fragte, ob die Stücke nicht alle komplett auf Plattdeutsch gespielt werden könnten, denn die Alten verstünden ja überhaupt nichts, wenn auf Hochdeutsch gespielt würde, ließ den Theaterkreis unbeeindruckt. Hilda, die 4 Kinder in der Kriegszeit als auch in der Nachkriegszeit hervorgebracht hat, und die vor dem Krieg und während des Krieges aktive Gruppenführerin im Bund Deutscher Mädchen war, und die mit einer persönlichen ostpreußischen Führungskompetenz ausgestattet war, konnte diese Kompetenz dann leider durch die Ereignisse der letzten Kriegsjahre und der folgenden Nachkriegsjahre nicht weiter unter Beweis stellen. Hier nun jedoch, im Theaterkreis, führte sie Regie beim sprachlich gemischten Stück, hochdeutsch, plattdeutsch, „Wenn der Hahn kräht“. Ein Bauerntheaterstück in zwei Akten, in dem es um Verwechselungen, Verdrehungen, Verhinderungen, Verplapperungen und um Verratungen der dörflichen Moral geht, wobei Hilda als Tante Erna eine gewisse „Hauptrolle“ zukam. Am Ende des Stückes ist natürlich alles wieder gut, wie es sich gehört für ein ländliches Stück. Hilda, die Herrenschneiderin aus Ostpreußen, jedenfalls lebte in dieser Zeit der krankheitsbedingten Abwesenheit ihres 1.Sohnes, des Tbc-kranken Herbert Junior, der sich in Bad Reichenhall der atmungsaktiven Bergluft hingab, regelrecht auf. Sie konnte all‘ das, was sie in ihrer Jugend, noch weit vor der Zeit der Vertreibung aus der ländlichen ostpreußischen Heimat, gelernt hatte, hier und jetzt noch einmal hervorholen, um den anderen Teilnehmerinnen des Theaterkreises ihre nationalsozialistische, provinzielle und ostpreußisch, sportliche und kantische Grundhaltung zu vermitteln .Eines Tages nahm Hilda ihr 2.Nachkriegskind, das von allen nur Mausi gerufen wurde, und das bei jeder Möglichkeit, zum Beispiel in den Schulferien oder über Weihnachten / Neujahr, von einem klapprigen Bus mit Dortmunder Kennzeichen abgeholt wurde, in dem noch mindestens 23 andere Jungs und Mädchen in den Uniformen der Jungen Pioniere der Freien Deutschen Jugend – Westdeutsche Sektion – saßen, um wieder einmal in das Erziehungslager am Scharmützelsee in der Ostzone gebracht zu werden, mit zur Probe von „Wenn der Hahn kräht“ . Die Kosten für diese Reisen des 2.Nachkriegskindes übrigens mussten weder von den Eltern noch von der Gemeinde oder gar dem Reichsbund bezahlt werden, sondern wurden vollständig vom Politbüro der Sozialistischen Einheitspartei –Abteilung Erziehung – in Ost-Berlin, der Hauptstadt der DDR, getragen. Diese Erziehungsmaßnahme war von Reinhart, dem Verwandten aus Sachsen eingefädelt worden, der ja Reisekader war und ständig mit heruntergezogenem Hut vor der Haustür der Flüchtlingsnotunterkunft von Herbert Senior und Hilda stand und nicht hereinkommen wollte, meistens mit dem Argument, dass er keine Zeit habe, da er seinen Interzonenzug nach Berlin, wo er immer Zwischenstation machen musste, bevor er nach Sachsen weiterreisen durfte, noch erwischen müsse. Wie es denn so geht, ob alles einwandfrei ist und wie es den Kinderschen geht, besonders dem kranken Herbert und der sozialistisch erzogenen Mausi. Und wieder weg! Heute wissen wir, dass die Besuche des Reinhart illegal waren aus der Sicht des Staatssicherheitsdienstes der Ostzone. Hätten sie ihn erwischt im Treppenhaus des Onkels, dann wäre er wohl wie Walter Janka oder Walter Kempowski für mehrere Jahre im „Gelben Elend“ in Bautzen gelandet.
Mausi also, dieser Nachkriegszögling der Freien Deutschen Jugend, wurde mit zur Probe des Theaterkreises genommen. So setzte sie sich also auf den Biertresen, weil sie ja verhältnismäßig klein war, ähnlich wie Tante Hildchen aus Sachsen, um alles auf der Bühne verfolgen zu können. So konnte sie dabei zusehen, wie unter der Regie von Hilda, ihrer Mutter und der ehemaligen Gruppenleiterin des Bundes Deutscher Mädchen, das Norddeutsche Bauernstück „Wenn der Hahn kräht“ gespielt wird auf Hochdeutsch. Und sie konnte eine Stunde lang mit ansehen, mit welcher Spielfreude und weiblicher Lust das Stück einmal ohne Pause durchgespielt wurde. Die Spiellust zeigte sich besonders an den Stellen, an denen die Frauen auch männliche Rollen einnehmen mussten, da ja keine Männer im Theaterkreis erlaubt waren. Mit welcher unterschwelligen Ironie und mit welchem Humor sie gerade an diese Rollen herangingen, einfach köstlich und zum Wegschmeißen! Hier, an diesen Stellen des Stückes, gab es dann auch später bei den Aufführungen vor Publikum die meisten Brüller und den meisten Applaus, besonders von den Männern, die gar nicht merkten, wie sie hier theatermäßig karikiert wurden. Selbst Mausi konnte sich auf ihrem Biertresen an einigen Stellen kaum vor Lachen halten, auch klatschte sie bei einigen Szenen, besonders bei den Szenen, in denen Hilda, die Regisseurin selbst mitspielte, spontan, und sie wollte gar nicht mehr damit aufhören. Nach der Probe kamen dann alle noch bei Bischoff, Schulz oder Segelken bei einem schönen gelben Flamingo zum „Feedback“ der Probe zusammen, Mausi bekam eine Flasche Ostzonen-Vita-Cola mit Strohhalm hingestellt, die sie ja vom Lager am Scharmützelsee her kannte. Bischoff sagte noch, dass er eine Partie Vita-Cola nach einem Besuch der Tanten in Magdeburg an der Grenze in Marienborn auf heimtückische Weise an den Grenzern hat vorbeischmuggeln können, da er ihnen erklärte, dass sein Auto, ein Dreirad-Goliath, nur betriebsbereit sei, wenn es zum Diesel genügend Vita-Cola beigemischt bekäme. So staunten die Grenzer über das dreirädrige Gefährt und vergaßen ganz, ihren stereotypen Befehlssatz: „Machen se mol des reschte Ohr frei“ zu akklamieren und gaben den Weg in die westliche Britische Besatzungszone Niedersachsen frei – so jedenfalls hat es Bischoff persönlich den Teilnehmerinnen des Theaterkreises erzählt. Zu diesem Vorgang konnte Mausi nur abfällig kommentieren: „Das ist doch reiner Revanchismus und Kalter Krieg Bischoff, was du da vom Friedenswall erzählst, reine westliche Propaganda, von den imperialistischen Engländern und Amerikanern gesteuert!“ Nun aber wurde Mausi von ihrer Mutter Hilda, die ja verantwortlich war für die Inszenierung des Hahnes, und die jahrelange Theatererfahrung beim BDM mitbrachte in die westlichen Besatzungszonen, gefragt, wie ihr denn das Stück gefallen habe. Das war für Mausi die Gelegenheit, sich in der Mitte der Schänke zu postieren, um ihre Einschätzung der Kulturaktivitäten in der imperialistischen Britischen Besatzungszone zu referieren: „ Das ist doch alles…“ so begann sie ihre Ansprache, „…reiner spätkapitalistischer, revanchistischer Kulturchauvinismus, von den westlichen Besatzungsmächten gedeckt und instrumentalisiert…“. Und weiter ereiferte sie sich, dabei von einem sozialistischen Bein auf das andere hüpfend:“...das ist doch albernes bürgerliches Theater ohne dialektisch-proletarischen Hintergrund, was ihr hier spielt, wer will das denn sehen?“ Es gäbe doch, so Mausi weiter, auch antikapitalistisches, antirevanchistisches und proletarisches Theater, das den wahren Lebensverhältnissen der Zuschauer gerecht würde. So empfiehlt sie in der weiteren Ansprache dem Theaterkreis: „Warum spielt ihr nicht die Lehrstücke von Bertold Brecht? Da gibt es wunderbare Stücke, die sowohl für die Schauspieler selbst als auch für die Betrachter einen unermesslichen pädagogisch-sozialistischen Wert haben. Spielt doch zum Beispiel einmal „Die Ausnahme und die Regel“ oder „Die Maßnahme“ von Brecht, dann lernt ihr, was Klassenkampf ist und Sozialismus“ Weiter referierte Mausi, dass das Theaterspielen selbst beim Lehrstück eine zentrale und selbständige Bedeutung habe, und dass das Lehrstück dadurch lehre, dass es gespielt, und nicht dadurch, dass es gesehen wird. Es gehe um Einfühlung, um Verfremdung, um Identifikation mit den Werten und Zielen des Sozialismus. Am Ende ihres Referates über das Moderne Theater in der Bischoff’schen Spelunke gab sie den Schauspielerinnen des Theaterkreises und der gesamten Besatzung des Gasthauses noch einen Literaturhinweis mit auf den Weg: „Wenn ihr schon keine Ahnung habt von dem Theater der Neuzeit, dann bemüht euch doch bitte, die Literatur zu dem Thema zur Kenntnis zu nehmen. In Berlin, der Hauptstadt, bekommt ihr in jeder Sozialistischen Buchhandlung die gesamten Werke von Bertold Brecht preisgünstig in Ostmark, und zum Thema Brecht’sche Lehrstücke lest bitte die Schriften von Rainer Steinweg, die zwar erst Anfang der 70er Jahre herauskommen werden, aber ihr könnt jetzt ja schon einmal hineinschauen…“. Hilda, die Mutter dieser sozialistischen Mausi, konnte nur staunen über die Dialektik ihres 2.Nachkriegskindes und sagte: „ Davon haben wir noch nüscht nich gehört, also kennen wir es auch nicht!“ Sie ergriff das Kind,, schleppte es mit ostpreußischer Gewalt aus der Kneipe hinaus und nach Hause ins Flüchtlingsheim, wo die Oma aus dem Ruhrgebiet bereits auf die Rückkehr der Schauspielerinnen wartete, um ihm dort in einem rituellen preußischen Gewaltakt zwischen Mutter und Tochter, kommentarlos hingenommen von der ostpreußischen Oma, einmal mit der flachen linken Hand, Hilda war Linkshänderin, ordentlich den Arsch zu versohlen! Den „Deutschen Gruß“ allerdings, so erzählte sie einmal selbst in einer flamingogetränkten Situation, habe sie selbstverständlich mit dem rechten Arm und mit der rechten Hand gegrüßt, wie es sich gehörte!
Das Leben in der Britischen Besatzungszone ging weiter trotz allen Theaters. Die Engländer waren kaum noch zu sehen, nur manchmal fuhren sie Patrouille in den bekannten Straßen des Landkreises und in der Stadt Bremen. Dabei soll so mancher Jeep der Tommys vor dem Krokodil oder dem Goldenen Anker gesichtet worden sein, ohne Beweise dafür zu haben, ob sie dabei ihrer Besatzungsmacht-Patrouillenpflicht oder anderen Verpflichtungen nachgingen, man weiß es nicht! Während die Britischen Besatzungskräfte zunehmend unsichtbar in der Lüneburger Heide oder in den Rotlichtmilieus Norddeutschlands verschwanden, waren jetzt auf den Bundesstraßen und den Autobahnen der neuen Bundesrepublik Deutschland Militärfahrzeuge der Bundeswehr zu sehen. Sie hatten hinten ein Y dran an den Fahrzeugen. Besetzt waren sie allerding mit viel ehemaliger SS und SA und Wehrmacht. Einige Dörfler erzählten im Suff bei Bischoff, Schulz und Segelken, dass sie auf einem der neuen Bundeswehrwagen Rommel in Generalshaltung gesehen hätten, andere wollen Generalfeldmarschall Paulus, der ja aus Verden an der Aller stammen sollte, und der die Kapitulation im Kessel von Stalingrad auf Befehl der Führung ablehnen musste, als Beikoch im einfachen Dienst auf einem Gulaschkanonenwagen der Versorgungstruppen gesehen haben – aber alles waren wie immer: Gerüchte!
Kein Gerücht hingegen war das Kreisturnfest in Embsen, bei dem das 1.Nachkriegskind, das jetzt nur noch Ipa genannt wurde, kläglich im 7-Kampf versagte: 75m – 7,4, Weitsprung- 6,88, Hochsprung-1,67, 400m-58,9, Schleuderball-107,66, Schweinereiten-8,34, Schlagball-Werfen- 1,20. Das Werfen hat ihm das Genick gebrochen. Wegen seiner Englischen Krankheit und seiner Beeinträchtigungen am Kopf durch die Murmelsackschläge des Flüchtlingskindes Herbert Junior und wegen des Ackerwagenunfalls an der Englischen Brust hat er beim Werfen völlig versagt. Er hat, das muss leider gesagt, so traurig das auch ist, wegen seiner körperlichen Beeinträchtigungen Werfen nie richtig gelernt. Deshalb hat er wohl auch, mindestens hundert Jahre später, leidliche Erfahrungen mit genau dem Gegenteil von Werfen, nämlich Hinausgeworfen werden machen müssen. Wie sagte schon Aristophanes: Wenn du nicht Steine werfen kannst oder willst, dann wundere dich nicht, wenn du selbst was an die Birne bekommst!
Der Höhepunkt des Kreisturnfestes in Embsen allerdings war nicht die miserable Wurfleistung des Ipa, auch nicht der schwere Unfall des Reckturners Waldemar Oglotowski, einem Spätheimkehrer aus Sibirien, der beim dreifachen Jägersalto zuerst auf die Reckstange knallte, um dann im freien Flug kopfüber neben der Matte in der Embser Wiesenmarsch zu landen, was eine dreifache Gehirnerschütterung zur Folge hatte, die sofort im Neuen Achim-Bierdener Krankenhaus diagnostiziert werden musste, - nein, der Höhepunkt des Kreisturnfestes war das Faustballendspiel Bassen gegen Langwedel.
Am Ende eines jeden Kreisturnfestes standen, wie immer, mindestens eine Milliun (wie der Trierer zu sagen pflegt, was 10 bedeuten kann oder auch hundert, vielleicht sogar 150) Zuschauer am Spielfeldrand, um ihre Teams anzufeuern. Die 3 Schiedsrichter waren aus Fischerhude, was schon der erste Fehler war, weil Fischerhude Ahnung von Modersohn, Pferde, Wümme hat, aber doch nicht von Faustball! Die Bassener jedenfalls traten allein wegen dieser Fischerhuder Tatsachen nur unter Protest an, während die Langwedeler, die schon immer unter der Dominanz der benachbarten größeren Kreisstadt Verden litten, ihren ganzen Frust mit auf den Platz brachten und es allen einmal zeigen wollten, wer im Landkreis der wahre Kreismeister ist. Es begann alles damit, dass sie sich im Langwedler Team nicht einig waren, wer in der Anfangsformation spielen sollte. Sie stellten sich zu Acht in ihre Spielhälfte und lamentierten und polemisierten vor dem gesamten Publikum, wer spielen will, wer spielen sollte, wer besser ist, wer noch gestern in der Kneipe zu viel gesoffen hat. Schließlich prügelten sie sich gegenseitig aus der Anfangsaufstellung, so dass spätestens bei Anpfiff der Fischerhuder 5 Langwedler Faustkämpfer auf dem Platz standen, während die Bassener sich gelassen unter der Führung ihres seit 1949 spielenden Spielführers Hermann Claus, dem größten Bauern in der gesamten Britischen Besatzungszone, aufstellten, um sich den widerlichen, aggressiven Angriffen der Langwedler zu stellen. Es war ein ausgeglichenes Spiel, hin und her, schöne Angriffe, schöne Returns auf beiden Seiten, faires Tackling an der Leine, keine Gewalt…bis auf die 57 Minute beim Stand von 8:8, als Hermann Claus persönlich, der auch wichtige Funktionen im Niedersächsischen Bauernverband bekleidete, einen sensationellen Schmetterball kurz vor die Auslinie der Langwedler ballerte und sich spontan mit seinen Bassener Mitspielern Lübkemann, Segelken, Gehrken, Mohrmann und den Auswechselspielern Biesewig, Diekmann und Pelz wegen des hervorragenden Schlages siegestrunken auf dem feuchten Embsener Boden wälzte, als ein Pfiff die Siegeseuphorie durchbrach und hinten an der Auslinie ein Fischerhuder zu sehen war, der die Fahne als Zeichen für „Aus“ hob. Der Fischerhuder wurde sofort von den Bassener Zuschauern, unter ihnen war Ipa, der beim Werfen im 7-Kampf versagt hatte, und auch Stalin der Mittelstürmer, angegriffen und in den Polizeigriff genommen, woraufhin die Langwedler, brutal wie sie waren, und weil sie wegen der bevorstehenden Niederlage wieder einmal frustriert waren, alles, was sich auf dem Faustballplatz bewegte, niederschlugen und folterten. Bloody Sunday, Bloody Langwedel Sunday in Embsen! Einer der Langwedler wurde festgenommen von der Achimer Polizei, er hatte einen Schlagring unter seinem Faustballhandschuh versteckt. Frisch. Fromm. Fröhlich. Frei. Ipa jedenfalls bekam noch eine Urkunde im 7-Kampf überreicht: 6.235 Punkte, 19.Platz. Immerhin besser als der 20. Platz! Er konnte nur noch über den ganzen Embsener Kreisturnfestplatz schreien: „Scheiß Werferei!“
HERBERT 07.12.2012
9
Wie das 1.Nachkriegskind aus dem Schulbus geschmissen wurde und wie das 1.Nachkriegskind, das jetzt Ipa genannt wurde, die 17 Sprachen des Lehrers Glockmann referierte und wie Herbert Glockmann den Mittelschülern das Englische Rugbyspiel beibrachte
Für die Mittelschüler mit der Höheren Bildung waren die schönen Zeiten unten in der Kantorei jetzt vorbei. Willem Petersen ging als Lehrer wohl mit etwa 70 Jahren in Pension. Als Kantor der Achimer Kirche soll er noch viele Jahre die Orgel und seinen eigenen grauen Anzug mit seinem Priemsaft besudelt haben, auch soll er noch viele schöne Chorwerke mit der Achimer Kantorei, die für ihren schönen Gesang im gesamten Regierungsbezirk Stade und darüber hinaus, nicht zuletzt auch in der zerbombten Stadt Bremen, bekannt war, aufgeführt haben. Es soll sogar erste internationale Chorbegegnungen mit englischen, schottischen und walisischen Chören gegeben haben, die aber wohl auf Anweisung der Britischen Besatzungsmächte, die jetzt ihr Hauptquartier in Rheindahlen bei Mönchengladbach, wo immer das geographisch gelegen haben mag in den Nachkriegsjahren, hatten, geheim gehalten werden sollten, um keine falschen Friedenshoffnungen für die Achimer und den Rest der Bewohner der Westzonen aufkommen zu lassen. Die Schüler mit der Höheren Bildung jedenfalls waren überhaupt nicht glücklich über den Weggang von Willem Petersen, wie beliebt er bei den Schülern auch immer gewesen sein mag, und über den Umzug in die neugebaute Mittelschule hinten am Sportplatz. Das 1.Flüchtlingskind jedenfalls, das ja eigentlich wegen seiner multipathologischen Beeinträchtigungen hätte gar nicht am Unterricht in der Höheren Bildungsanstalt teilnehmen können, und der von Willem Petersen regelmäßig wegen Brummens und Störens hinausgewiesen wurde aus dem Musikunterricht, und der den Umstand, dass er dennoch in die Mittelschule empfohlen wurde, nur dem Umstand zu verdanken hatte, dass Herbert Senior sich bereit erklärt hatte für Schmolke, Bauer und Pachmann, der sein Holzbein immer mindestens 30cm hinterher ziehen musste, kostenlos Lodenmäntel für den Winter zu schneidern – das 1.Flüchtlingskind also befürchtete nun, dass auch seine Karriere als Gedichtaufsager ohne Holpern und Stolpern ein jähes Ende finden würde. Auf der letzten Heimfahrt mit Badenhoop, das Fahrgeld war einmal wieder gestundet, vor dem Schulwechsel jedenfalls fing das 1.Flüchtlingskind unvermittelt im Bus an zu weinen und zu schluchzen wegen Petersen. Auf die Frage von Badenhoop, dem Besitzer und Lenker des Gefährts, weshalb er denn heulen müsse – etwa weil das Fahrgeld immer noch nicht bezahlt sei, antwortete das 1.Flüchtlingskind zum ersten Male in seinem Nachkriegsleben patzig, selbstbewusst und sprachtechnisch flüssig: „Halt die Klappe!“ Woraufhin Badenhoop kurz hinter den Borsteler Föhren abrupt stoppte, die Schiebetür des Busses aufriss und in einem Kommisston, den er wohl irgendwo in den Jahren zuvor gelernt haben musste, das 1.Nachkriegskind befehligte:„Rrrrrrrauauausssss du Kriegsversager, du Italiener, du Flüchtling du, wegen euch haben wir den Krieg verloren!“Und Christa Borstelmann aus Ueserdicken, eine Mitschülerin des 1.Nachkriegskindes, ergänzte noch: “Und wir haben keine Bickbeeren mehr im Wald, weil ihr uns alles wegfresst, ihr Flüchtlinge!“ Und Henner Block, ebenfalls ein Klassenkamerad des 1.Nachkriegskindes und späterer Erbe des größten Bauernhofes im gesamten Landkreis, kam nicht umhin, noch ergänzend zu kommentieren: „Das hast du davon, wenn du nicht richtig sprechen kannst, und wenn du noch nicht einmal die Schweine füttern kannst!“ Badenhoop jedenfalls, das Schwein, ließ das 1.Nachkriegskind mitten auf der Strecke bei den Borsteler Föhren im Wald stehen, was dieses dazu nutzte, sich der Selbstwahrnehmung an den Fingernägeln hinzugeben, sich selbstvergessen in die Hosen zu scheißen und sich selbstgefällig über die Englische Brust zu streicheln.
Der Ernst der Höheren Bildung und des Mittelschullebens begann für die Nachkriegskinder in der neuen Schule hinten am Sportplatz bei der Schützenhofstraße. Es wurde zwar auch geprüft, ob das Kriegs- und Flüchtlingskind Herbert Junior, das das kriegsbeschädigte, asthmakranke ältere Geschwisterkind des psychopathologischen und von der Englischen Krankheit gezeichneten 1.Nachkriegskindes der Schneider Herbert aus Sachsen und Hilda aus Ostpreußen war, mittelschulreif sei – was aber zu keinem positiven Ergebnis führte. Die Beratungskommission über die Aufnahme oder über die Ablehnung des Flüchtlingskindes Herbert Junior, der es in den Rotenburger Anstalten ja bisher nicht geschafft hatte wegen vieler krankheitsbedingter Ausfälle, in die Höhere Schulen hatten schon Bedenken gegen die Aufnahme allein wegen der Fragestellung: Was passiert, wenn Badenhoop auf halber Strecke das Flüchtlingskind Herbert Junior wegen Zahlungsrückstand aus dem Bus schmeißt? Das könne, so die Kommission, nicht verantwortet werden. Also müsse Herbert Junior seine Schulbildung weiterhin mit Unterstützung der Krankenkasse, des Versorgungsamtes, des Reichsbundes, des Kyffhäuserverbandes und des Vertriebenenverbandes in den Anstalten für Lungenkranke und Asthmakranke nachholen. Eine Inklusion in den normalen Mittelschulbetrieb, so die Beratungskommission, könne nicht verantwortet werden, zumal die Gefahr der Ansteckung für die anderen Mittelschüler zu groß sei und die Fürsorgepflicht der Lehrer bei akuten Hustenanfällen auch nicht überfordert werden könne, da viele von ihnen als Raucher sich selbst immer in der Gefahr von unbeherrschbaren Hustenanfällen befänden. Im Übrigen, so das Kommissionsmitglied der Britischen Besatzungsmächte, Sarah Fletcher, eine Kulturbeauftragte des Obersten Besatzungsrates aus Mönchengladbach, sei eine Inklusion behinderter Kinder in den normalen Schulbetrieb weder in Großbritannien noch in den besetzten Westzonen Nachkriegsdeutschlands weder von der Queen persönlich, noch von der Potsdamer Konferenz der Siegermächte 1945 vorgesehen gewesen.. So konnte Herbert Junior eigentlich froh sein, trotz des negativen Beschlusses der Kommission, nicht auf die Mittelschule gehen zu müssen, denn ihm ist im Gegensatz zum 1.Nachkriegskind der Namensvetter Herbert erspart geblieben – Herbert Glockmann! So trat Herbert Glockmann, der von sich selbst behauptete 17 Sprachen zu sprechen, nun in das Leben des 1.Nachkriegskinds ein, und zwar in den Mittelschulunterrichtsfächern Englisch, Französisch, Sport und Werken. Herbert Junior hingegen versuchte es dann noch einmal in den Rotenburger Anstalten mit dem Abitur, musste aber nach 2 Monaten wieder abbrechen, wegen der neuen bevorstehenden Lungenoperationen. Das 1.Nachkriegskind der Schneider Herbert und Hilda, das ja noch nicht einmal in der Lage war eine Sprache zu sprechen, hatte so auch Gelegenheit, seinen älteren Bruder mit der Tatsache aufzuziehen, dass es einen neuen Lehrer habe, nämlich Herbert Glockmann, der 17 Sprachen sprechen könne, und dass es so etwas in den Rotenburger Anstalten wohl nicht geben würde. Herbert Junior wollte sich das natürlich nicht gefallen lassen und forderte das 1.Nachkriegskind ultimativ unter Androhung von Faustknochenschlägen an der Tischkante auf, ihm bitteschön die 17 Sprachen von Glockmann aufzuzählen. Dabei griff er sich einen Zettel und einen Bleistift, um Striche zu machen, lehnte sich zurück in seinen Asthmasessel und wartete ab, was das 1.Nachkriegskind auf diese Herausforderung zu bieten hatte. Das 1.Nachkriegskind, das man später, so viel kann ja schon einmal bekanntgegeben werden , Ipa nennen wird und noch später Boddi, und der unter der Folterbedrohung des älteren Kriegs- und Flüchtlingskindes stand, stellte sich der Herausforderung von Herbert Junior und versuchte die 17 Sprachen, die Herbert Glockmann den Schülern in der ersten Englischunterrichtsstunde an die Tafel geschrieben hatte, und die das 1.Nachkriegskind wie ein Gedicht auswendig gelernt hatte und mehrmals vor der Prüfung aufgesagt hatte, dem Prüfer gegenüber zu referieren, während dieser den Bleistift spitzte und gehässig einfließen ließ: „Das schaffst du nie!“ Die Aufzählung der 17 Sprachen des Herbert Glockmann gelang dem 1.Nachkriegskind dann zwar nicht ganz reibungslos, weil es fürchterlich nervös war und unter der Gewaltandrohung des Flüchtlingsbruders stand, aber immerhin bekam er auswendig den Sprachenkatalog des Glockmann auch in der richtigen Reihenfolge, so wie Glockmann es an die Tafel geschrieben hatte, mühselig zusammen, wobei hier auf die Rezeption der sprachakrobatischen Bemühungen, Verdrehungen, Verholperungen, Verhaspelungen und Verzögerungen des 1.Nachkriegskindes, das jetzt irgendwann Ipa oder später Boddi genannt werden wollte, nicht näher im Detail eingegangen werden soll bis auf eine kleine Randbemerkungen, denn immerhin ist dieses hier ja keine logopädische Veranstaltung, sondern eine englisch-orthopädische. So stellte sich das 1.Nachkriegskind, jetzt genannt Ipa, vor das im Jahre 1944 zur Welt gekommene Kriegs- und Flüchtlingskind Herbert Junior auf , so als stehe er vor seinem Lehrer in der Höheren Mittelschule, und zählte die 17 Sprachen, die der Lehrer Herbert Glockmann angeblich sprechen konnte, auswendig auf: Plattdeutsch, Dddddeutsch (Bemerkungen von Herbert Junior in Klammern: potteneinfach, das kann doch jeder, außer du…), Schpschp (ja, was schp, schp)schpaaanisch du Du…du Dussel, Ost, Ostfriesisch! (keine eigene Sprache, zählt nicht!)…doch zählt, hat Gl, hat Gl, hat Glock…mmmmann ja angeschriebn, er kommt ja von da, Schwed…..isch (haben wir in Rotenburg auch, eine Erzieherin aus Flensburg), Espe…(zählt nicht: SPD ist keine Sprache, SPD ist eine Lungenklinik in St.Peter-Ording ) Espe…pe…pe…ranto , Kisu….Kisua…Kisuaheli ( bitte ?) … ja, er war in Afffffffff…rika bei den Neg…ern in den Hü, in den Hü, in den Hüüüüüütten, Russsss…isch (kann ich auch, hab‘ ich als Baby auf der Ostpreußischen Flucht gelernt), Mallokwinisch…(was Mallokwinisch, das ist doch keine Sprache, das ist doch ‚ne Insel, zählt nicht!), D…DDD…änisch (wie DDDDDänisch? Das ist doch keine eigene Sprache – die sprechen wir auf Sylt oder auf Föhr, oder in St.Peter-Ording jeden Tag mindestens 1x,, wenn wir einen Pölser an der Bude bestellen, das ist keine Sprache, das ist höchstens ‚ne Wurtssprache) – stimmt nicht: Herbert GlGlockmann war vor dem KrKrieg lange Zeit in A, in A, in Apen, in Apen, in Apenr…, in Apenr…, in Apenrade und hat gegen die Ö, gegen die Ö, gegen die Österr…, gegen die Österreicher gekämpft, Hawei ( ja, bitte, Hawei, Hawei, Hawei, Hawei – was ist mit Glockmann und Hawei?) – hat er angeschrieben, Glockmann, Hula, Hula., Franz…zösisch, ja, Französisch (Französisch, Französisch – können die Französischen überhaupt Schach spielen?), Englisch – fertig, geschafft! Herbert guckt auf seine Kontrollstrichliste und ruft hocherfreut: Das waren nur 13 und keine 17, das gibt Fingerkloppe! Das 1.Nachkriegskind, jetzt genannt Ipa, schlotterte am ganzen Englischen Körper und ergänzte die Sprachen, die Glockmann während seiner Emigration nach Großbritannien von 39 – 45 , oder war es während seiner Spionagetätigkeit im Königreich von 39 – 45, sich auch noch angeeignet hatte, und die auch mit an der Tafel standen, nämlich: „ Irisch, Schottisch, Walisisch“. Fertig. Gewonnen. Herbert Junior: „Nix gewonnen, waren nur 16!“, derweil er bereits mit dem Holzlineal die Tischkante mit kurzen Schlägen frequentierte und eine besonders lockere gewaltbereite Haltung einnahm, ohne dabei zu husten oder sich in asthmatischen Verkrampfungen, wie wir es ja meistens von ihm kannten, zu verlieren. „Das waren die 17“, so das 1.Nachkriegskind, genannt Ipa,“ mehr Sprachen gibt es ja gar nicht auf der Welt!“ Woraufhin das Kriegs- und Flüchtlingskind Herbert Junior sich die selbstzerstörten Hände und die Fingernägel des 1. Nachkriegskindes der Schneider Herbert aus Sachsen und Hilda aus Ostpreußen ergriff, um sie auf der Tischkante so zu positionieren, dass die folgenden Schläge auf die Handknöchel auch ihre schmerzhafte Wirkung erzielten. Noch kurz vor der brüderlichen Folter rettete sich das 1.Nachkriegskind, genannt Ipa, mit dem fast euphorischen, sprachtechnisch einwandfreien Aufschrei: „ Schina, Schina, Schina…., er kann auch Schinanesisch, ich hab‘ gewonnen, ich hab‘ gewonnen…!!! Herbert Junior, eigentlich siegesgewohnt, konnte diese Niederlage gegen das 1. Nachkriegskind psychisch nicht verkraften und kompensierte mit sofortigen asthmatischen Anfällen, bei denen er wie immer seinen asthmatischen Auswurf in einem großen Einweckglas auffangen musste, das dann später zusammen mit dem Scheißeimer hinten auf den Außenklos bei den Schweinen entleert werden musste. Die Aufgabe hatte Herbert Senior. Wenn er nicht war, entweder auf Schicht bei Borgward oder auf Dorfkommunikation bei Bischoff, Schulz oder Segelken, dann blieb das Entäußerte der Familie im Eimer eben bis zur Rückkehr des Schneidermeisters solange in der Küche, die ja auch gleichzeitig Schneiderwerkstatt, Waschraum, Spielzimmer und Kohlenvorratsraum war, stehen, bis der Sächsische Herbert in die Burg zurückkehrte. Dabei konnte es aus körperlichen Gleichgewichtsgründen natürlich passieren, dass der Inhalt des Eimers den Weg von der Flüchtlingsnotunterkunftwohnung oben über die Treppe hinunter bei Sonkowski aus Berlin, der Hauptstadt der DDR, vorbei über den Flüchtlingsgarten hin zu den Schuppen und Scheißhäusern, nicht ohne Verluste verlief, zumal der Eimer immer bis Oberkante Unterlippe gefüllt war.
Nun gut, was kümmern wir uns um die hygienischen Verhältnisse in den Notunterkünften für die Flüchtlinge und Umsiedler der Nachkriegszeit, kümmern wir uns doch um die Bildung der Flüchtlings- und Nachkriegskinder, auch sollte über den Fortbestand der ländlichen, dörflichen Strukturen nachgedacht werden, denn schließlich sind ja die Zuwanderer aus den Ostgebieten nicht gen Westen gezogen, um Grünkohl, Pinkel und Knipp zu verdrängen.
Unabhängig von den asthmatischen Anfällen des Herbert Junior und unabhängig von den manchmal mehrtägigen Schneiderbesuchen des Schneidermeisters
Herbert Senior in den einschlägigen Wirtshäusern des Landkreises mussten die Mittelschüler der Höheren Bildungsanstalt statt ihres geliebten Fußballspiels in der Mittelschule nun das Englische
Rugbyspiel erlernen. Und zwar deswegen, weil Glockmann von 39-45 nach England emigriert war, oder war er möglicherweise als unerkannter deutscher Spion in England als fish-and-ships Verkäufer
tätig? Wie auch immer, egal ob Emigrant oder Spion, auf jeden Fall stellte sich Herbert Glockmann in seinem Englischen Trainingsanzug mit der Aufschrift „Philipp“ vor die versammelte Mannschaft
der männlichen Mittelschüler des Jahrgangs des 1. Nachkriegskindes, jetzt genannt Ipa , die Klassen a und b, (die Mädchen hatten derweil Handarbeit bei Frollein Koch, die extra aus der
Volksschule dafür abgestellt wurde) ließ in Reih und Glied nach Größe antreten und vergnügte sich vor den geschlechtsunreifen Provinzkindern an der Regulation der eigenen äußeren
Geschlechtsmerkmale, zumal die exorbitante Voranstellung des Hauptschuldigen, die deutlich für alle Landeier an der Königlich Britischen Trainingshose des Glockmann abzulesen war, nicht besiegt
werden wollte. So ließ er zum Aufwärmen, bevor weitere sporttheoretische Erklärungen zum Englischen Rugbysport von ihm folgen sollten, erst einmal 50 Liegestützen von den Schülern wuppen in der
Hoffnung, dass die vorderen Ausbeulungen der Englischen Trainingshose bis zum Ende der Liegestützen dann sich abgeschwächt hätten. Aber Irrtum, je mehr er die Mittelschüler bei ihren Bemühungen
um die 50 Armstützen beobachtete, um so mehr steigerte sich die Expansionslust des Hauptschuldigen an der vorderen Ausformung der Englischen Trainingshose. Nur gut, dass Frollein Koch und die
Mittelschülerinnen dieses unwürdige Englische Schauspiel nicht haben mit verfolgen müssen. Frollein Koch hätte doch, wie immer, ausgerufen: „Wenn das der Führer gesehen hätte…“ Herbert Glockmann
löste die Trainingshosensituation mit einem einfachen Trick, nämlich dem, dass er einen eiförmigen Ball, den die Mittelschüler in ihrem bisherigen Leben noch nie gesehen hatten, hervorzauberte
und diesen so vor seine mittleren Körperbereiche hielt, dass keine Trainingshosenbewegungen mehr von den Mittelschülern wahrzunehmen waren. Diesen eiförmigen Ball vor den Genitalbereich haltend
und dabei, wie es Glockmanns Stil war, den Eierball in den Händen elliptisch kreisen zu lassen, erklärte er nun den Jungs der Klassen a und b. wie das Englische Rugby geht. Dabei verstanden die
Mittelschüler, dass niemals zurückgespielt werden darf; auch verstanden sie , dass sowohl mit Fuß und mit Hand gespielt werden darf; auch begriffen sie, dass es keine Torwarte gibt, weil die
dieses Ei sowieso nicht halten könnten; auch verstanden sie, dass im Kampf jeder gegen jeden alles erlaubt sei, außer Spucken, Arschtreten, in die Geschlechtsorgane treten, auf den Kopf hauen,
Würgen, Armumdrehen (Tausend Ameisen) und in die Augen greifen; auch würden, so wurde es von Glockmann den niedersächsischen Mittelschülern vermittelt, Haareziehen, Ohrenbeissen und Nasekneifen
nicht geduldet, sonst sei aber alles erlaubt. So pfiff Glockmann also an, forderte die Klassen a und b auf, sich wie die Neuseeländer und Südafrikaner im Mittelkreis aufzustellen, dabei die Arme
über die Schultern der Mitspieler zu legen und in die gemeinsame Rugbybeuge zu gehen und sich mit den Köpfen der Gegenspieler zu berühren, so dass unten zwischen beiden Teams ein Tunnel entsteht,
in den dann der Schiedsrichter, in diesem Falle natürlich Glockmann persönlich, den eiförmigen Rugbyball werfen würde – und die Mannschaft, die in zuerst erwischt, darf dann den ersten Angriff
starten. Zum Glück waren die körperlichen Extremstellungen bei Glockmann abgeschwollen, so dass er das Ei jetzt freigeben konnte, wobei die Jungs dann auch während des Spiels, wenn sie weit genug
von Glockmann entfernt auf dem Platz operierten, bösartige frühpubertäre und frühsexistische Bemerkungen über die Trainingshose von Glockmann austauschten, sogar von Gegenspieler zu Gegenspieler.
Bevor Glockmann den Ball freigab erklärte er noch einmal eindringlich, dass die Englischen Rugbyregeln, im Gegensatz zu den Französischen, bestimmen, dass nur der ballführende Spieler körperlich
angegriffen werden darf, alle anderen dürften nicht angegriffen werden.
Doch diese Regel haben die Nachkriegskinder, die ja alle mit den Kampfidealen ihrer Kriegsväter großgezogen wurden, und die Feigheit vor dem Feind nicht vorsahen, wohl nicht richtig wahrgenommen.
Denn sofort nach Glockmanns Tunnelwurf lagen alle 30 Spieler, so viele mögen es wohl gewesen sein, in einem großen Haufen übereinander und untereinander und prügelten und dreschten aufeinander
ein, bis sich einer der Spieler, egal von welcher Mannschaft, mit dem Ei unter dem Arm aus dem Knäuel befreien konnte und wie ein Hase losrannte, woraufhin alle anderen 29 wie eine wilde
Fuchsmeute hinterherrannten, ihn durch einen gezielten Sprung von hinten in die Beine umrannten. Hier, das darf an dieser Stelle erwähnt werden, war das 1.Nachkriegskind der Schneider Herbert
Senior und seiner Frau Hilda, das jetzt von allen Mitschülern nur noch Ipa gerufen wurde wegen einer Internationalen Ausstellung in Leipzig, Ostzone, besonders eifrig. Dieser Ipa also war beim
Hinterherrennen und beim Umrammen des Geflüchteten besonders pfiffig und schnell, musste dann aber regelmäßig zusammen mit dem umgerammten Geflüchteten in Kauf nehmen, dass alle anderen
restlichen 28 Spieler sich auf sie einstürzten, so dass sich erneut ein neues unüberschaubares Kampfknäuel bildete, aus dem heraus dann irgendwann, manchmal dauerte es 5 Minuten, einer der
Spieler mit dem Ei entwischte – so dass das Renn- und Prügelspiel von vorne losgehen konnte. Herbert Glockmann hatte riesige Freude daran, „seine Jungs“ so sportlich und dennoch fair zu erleben.
Nur manchmal pfiff er ab, um zu fragen, ob schon jemand verletzt sei, und um noch einmal darauf hinzuweisen, dass ausschließlich der ballführende Spieler angegriffen werden dürfe. Dann pfiff
Herbert Glockmann wieder an, ließ den Tunnel machen, warf das Ei ein und überließ die Mittelschüler, die ja eine Höhere Bildung anstrebten, ihrem selbstbestimmten, emanzipatorisch-demokratisch
sportlichen Handeln auf dem Rugbyplatz, was sicherlich den Britischen Besatzungsmächten sehr gut gefallen hätte, hätten sie nur einen Beobachter in die Sportstunden mit Herbert Glockmann auf dem
Sportplatz nahe der neuen Mittelschule Achim entsandt. So verpufften die Höheren Bildungsbemühungen in Sport und auch in den weiteren Fächern, die Herbert Glockmann in der Mittelschule zu bieten
hatte, wie Englisch, Französisch und Werken, im schnöden niedersächsischen Schulalltag, da die Briten keine Zeit für Schulinspektionen hatten, da sie sich ja mit dem Kalten Krieg, den Aufständen
in den sozialistischen Ländern , der Suez-Krise und in Vorbereitun g auf die 80er Jahre mit den Falkland-Inseln beschäftigen mussten. So pfiff Glockmann das Englische Rugbyspiel pünktlich zur
Pause ab, überließ die Spieler ihrem persönlichen hygienischen Schicksal und erwartete, dass alle pünktlich zur nächsten Englischstunde bei ihm in Raum E 3 erscheinen, die b-Klasse in Raum E 4 zu
Mathe bei Manfred Muster. So marschierten dann das 1. Nachkriegskind, von allen Ipa genannt, der Schneider aus Sachsen und Ostpreußen, und die Klassenkameraden, dreckig und zerbeult wie sie waren
vom Englischen Kampfspiel, in den Klassenraum, um bei Herbert Glockmann, der inzwischen geduscht hatte und den besagten Englischen Trainingsanzug mit der Philippaufschrift und den Ausbeulungen im
vorderen Hosenbereich abgelegt hatte und getauscht hatte gegen einen Anzug, den er wohl nicht bei einem Fachschneider wie Herbert Senior hat anfertigen lassen, sondern, wie es sich zu der
damaligen Zeit mehr und mehr durchsetzen sollte und zum Untergang des legendären Deutschen Schneiderhandwerks führen sollte, wohl „von der Stange“ bei Kepa gekauft hatte. Dazu legte er einen
schottisch gemusterten Schlips an, der von einem ebenfalls schottisch gemusterten Hemd begleitet wurde. Allerdings soll trotz aller konfektioneller Verfehlungen des Glockmann hier auf die
Qualität seines Mittelschulunterrichts in Englisch und Französisch nicht näher eingegangen werden, besonders auch nicht unter dem Aspekt, dass hier die ohnehin eingeschränkten Sprachmöglichkeiten
des 1.Nachkriegskindes, genannt Ipa, nicht noch durch weitere Herabwürdigungen im Hinblick auf seine Unmöglichkeit des Erlernens von Fremdsprachen in den Dreck gezogen werden sollen, was
außerordentlich englisch unsportlich und unfair wäre. Dabei ist doch auf jeden Fall zu berücksichtigen, dass von jungen Menschen, denen eine normale bildungsbürgerliche sprachliche Sozialisation
nicht vergönnt war, und die darüber hinaus auch noch durch die von Krieg und Flucht verursachten Erziehungsmängel und Psychischen Störungen und zudem noch von den Englischen Krankheiten
beeinflussten Persönlichkeitsdefiziten, nicht erwartet werden kann, dass sie zu allem Überfluss auch noch Sprachen wie Englisch und Französisch erlernen. Das 1.Nachkriegskind der Schneider
Herbert Senior und Hilda jedenfalls, das ja ohnehin nie wusste, ob es in der Mittelschule pünktlich ankommen wird, egal ob mit dem kaputten Fahrrad oder mit dem kaputten Bus von Badenhoop, und
das den Necknamen Ipa trug, quälte sich mühsam und ohne Motivation in die Sprachlehrveranstaltungen von Glockmann, der sich besonders gerne von den Schülern seine eitlen, selbstbezogenen
Fremdsprachshows in Form von wöchentlichen Klassenarbeiten bestätigen ließ. Dabei nahm er weder Rücksicht auf kriegsbedingte Leiden einzelner Schüler, noch auf nachkriegsbedingte Defizite
einzelner Schüler, und schon gar nicht auf Schüler, die außer der häuslichen niederdeutschen Sprache in ihrem Leben noch nichts anderes kennengelernt und gehört hatten, und die sich gar nicht
vorstellen konnten, dass es auch andere Sprachen außer Plattdeutsch geben könnte, wie zum Beispiel die liebe Christa Borstelmann aus dem Ueserdicker Blaubeerwald. Objektiv gesehen, unabhängig von
diesen lächerlichen Englischen Krankheiten des 1.Nachkriegskindes, kann festgestellt werden, dass der Unterricht von Herbert Glockmann von außerordentlicher Qualität gewesen sein muss, denn noch
Jahre später war Herbert Glockmann in fast allen Norddeutschen Volkshochschulen im Entscheidungsbereich der Britischen Besatzungskräfte als Dozent für Niederdeutsch, Hochdeutsch,
Spanisch, Ostfriesisch, Schwedisch, Esperanto, Kisuaheli, Russisch, Mallorquinisch, Dänisch, Hawaiianisch, Französisch, Englisch, Irisch, Schottisch, Walisisch und Chinesisch tätig. Er soll, wie
man hört, noch in hohem Alter Fremdsprachunterricht gegeben haben und als Trainer für das Englische Rugbyspiel tätig gewesen sein beim Hamburger Sportverein.
Wie nun Glockmann später in der Mittelschule das 1.Flüchtlingskind, genannt Ipa, im Werkunterricht zusammen mit Faber aus Achim beim Rauchen erwischte, …und wie es mit dem Flüchtlingskind Herbert Junior weitergeht, der erneut operiert werden muss, und nun bald nur noch eine ¼ Lunge haben wird, …und wie die Nachkriegskinder froh darüber waren, dass Herbert Junior wieder einmal für mehrere Wochen nicht zu Hause war, und wie sie trotzdem sehr traurig darüber waren und ihn mehrmals im Krankenhaus besuchten, …und wie Hilda, die Mutter der 4 Flüchtlings- und Nachkriegskinder, die Zeit des Krankenhausaufenthaltes von Herbert Junior nutzte, um ihre BDM-Begabungen wie Gymnastik, Tanzen, Theater neu auszuprobieren….und wie Hilda Mitglied im Theaterkreis wurde,…und sie mit dem Theaterkreis Opern und Operetten in Bremen besuchte, und wie sie dann anschließend nach der Rückkehr aus Bremen noch Flamingo bei Bischoff tranken, wo die Herren der Schöpfung bereits bei lauthalsigen Doppelkopfspielen zusammensaßen und auf ihre kulturbeflissenen „Stadtweiber“ warteten, …und wie Hilda mit der Theatergruppe das Stück „Wenn der Hahn kräht“ in Bischoffs Saal aufführt…, das die Junge Pionierin als „albernes bürgerliches Theater ohne dialektisch-proletarischen Hintergrund“ kritisiert und vorschlägt, stattdessen doch einmal die Lehrstücke von Brecht einzustudieren, wie z.B. die „Die Ausnahme und die Regel“ oder „Die Maßnahme“, und wie nun endlich das Kreisturnfest in Embsen stattfindet, bei dem das 1. Nachkriegskind im 7-Kampf (Disziplinen: 50m, Weitsprung, Hochsprung, Werfen, 400m, Schleuderball, Schweinereiten…) antritt und kläglich wegen der Englischen Krankheit und der Beeinträchtigungen am Kopf durch die Murmelsackschläge des Flüchtlingskindes Herbert Junior und der Beeinträchtigungen wegen des Ackerwagenunfalls an der Englischen Brust beim Werfen versagt, und wie es zu dem unrühmlichen Höhepunkt des Kreisturnfestes kam : Das Faustballendspiel Bassen gegen Langwedel, das im totales Chaos wegen der Zuschauer am Rand endete und wegen der unglaublichen Fehlentscheidungen der Schiedsrichter aus Fischerhude, und wie es zu den gegenseitigen Beleidigungen der Spieler beider Mannschaften kam, die in einer wilden Hauerei jeder gegen jeden kurz vor Schluss, als es 8:8 unentschieden stand, endete, …und wie es beim Bau einer drei Meter tiefen Erdhöhle durch die Nachkriegskinder und dem Hissen der Deutschen Reichsfahne vor der Höhle fast zu einer tödlichen Katastrophe gekommen wäre, …darüber, und noch über verschiedenes anderes aus der Nachkriegsprovinz, davon soll nun noch vor Weihnachten erzählt werden in HERBERT 10
HERBERT 22.11.2012
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Wie die Engländer zum Kohl- und Pinkelessen kamen und wie das Tantchen aus der Ostzone den Vergleich zwischen der kapitalistischen Produktionsweise und der sozialistischen Produktionsweise vor dem Schaufenster von Karstadt referierte und wie Stutzke, genannt Pele, dem 1.Nachkriegskind, genannt Vava, mit dem Knie unfair in den Unterlaib trat, nachdem er, Stutzke, selbst in der Kuhscheiße lag
Im Laufe der Nachkriegsjahre und der Besatzungszeit zogen sich die englisch königlichen Besatzungsmächte zunehmend aus den niedersächsischen Bauerndörfern zurück, um sich in der Lüneburger Heide und im Ostwestfälischen dauerhaft auf den nächsten Krieg und die nächste Besatzung vorzubereiten. Dass dieses dann bis zu den Jahren 81/82 dauern sollte, konnte ja in den 50er- und 60er Jahren niemand ahnen. Es ist ja den Engländern nicht vorzuhalten, dass die Argentinier bis in die 80er Jahre mit der Besetzung der Falkland-Inseln gewartet haben. Sie wären sicherlich gerne früher losgezogen, um die Argentinier wieder von den Eilanden zu vertreiben. So vertrieben die Engländer sich in der Heide und im Teutoburger Wald die Zeit, um dort mit ihren Panzern die Landschaft umzuwühlen und mit ihren Manövern die Heidschnucken und die Ostwestfalen zu erschrecken. Auch der Kalte Krieg hat ja nicht viel gebracht, weil die Rote Armee und die Brudertruppen des Warschauer Paktes inklusive der Nationalen Volksarmee der „so genannten DDR“ , wie die Presseorgane des Springer-Verlages die Ostzone oder anders gesagt: die SBZ, die Sowjetisch Besetzte Zone, immer zu nennen pflegte, keine Zeit hatten die kapitalistisch imperialistischen westlichen Truppen anzugreifen, weil sie sich ja um ihre eigenen Volksaufstände in der Sowjetzone, in Ungarn und in der damaligen Tschechoslowakei kümmern mussten. Einen echten offensiven Angriffskrieg gegen die roten Feinde, um Berlin und das umliegende sowjetisch besetzte Land und auch die früheren Ostgebiete inklusive Ostpreußen zu befreien, wollten sie ja dann auch nicht alleine riskieren, da die Amerikaner, die Franzosen und auch die anderen NATO-Partner nicht mitmachen wollten. Die Offiziere und Unteroffiziere der neugegründeten Bundeswehr hätten sicherlich große Lust gehabt erneut gen Osten zu ziehen, denn bei Gründung der Bundeswehr stammten deren Offiziere und Unteroffiziere fast ausnahmslos aus der Wehrmacht – teilweise auch aus der Waffen-SS. Aber zum Glück hat das Grundgesetz neue kriegerische Handlungen der Deutschen ausgeschlossen, so dass es bei dem nichtoperativen Kalten Krieg zwischen Ost und West bleiben musste. Pech für die Engländer. Pech auch für die einheimischen Kriegs- und Nachkriegskinder, denn jetzt gab es keine englischen dreieckigen Weißbrote mehr, da die Engländer sich mit ihren Sandwiches in die Heide zurückgezogen hatten. Weil die Nachkriegskinder aber nichts anderes essen wollten, hat die Achimer Brotwarenfabrik dann das niedersächsische weiße Toastbrot erfunden. Das übliche hinten im Außenbackofen selbstgebackene ländliche Vollkornschwarzbrot wurde nun nur noch von den Bauern selbst gegessen, und zwar bereits zum Frühstück mit schön fettigem krossgebratenem Knipp drauf zusammen mit sauren Gurken und schwarzem Muckefuck.
Nun gut, die englischen Truppen hatten sich aus den Dörfern zurückgezogen in die norddeutschen und westfälischen Steppenlandschaften. Stattdessen kamen die englischen Tanten, die ja eigentlich ostpreußische Tanten waren, mit ihren angeheirateten Engländern – wobei, wenn das hier erwähnt werden darf, der eine noch nicht einmal echter Engländer war, sondern ein geflüchteter angeblicher polnischer Kollaborateur , um in der Besatzungszone nach dem Rechten zu schauen. Getrieben von dem königlichen Inselfrust darüber, dass England bei der Fußball-WM 1958 noch nicht einmal ins Viertelfinale eingezogen war, und getrieben von der Sorge um die Ostpreußische Schwester und ihrer 4 Kinder, die sie vom Sächsischen Schneidermeister und den einheimischen Bauern vernachlässigt und unostpreußisch erzogen sahen, kamen sie über den Ärmelkanal und über Zwischenstopps im Ruhrgebiet bei den anderen Brüdern und Schwestern ins Norddeutsche, um die moralischen Werte des Königreiches zu vermitteln. Dabei handelten sie nach der Maxime: wenn schon unsere Königlichen Truppen nicht in der Lage sind Königliche Werte auf das Europäische Festland, notfalls mit Gewalt, zu transportieren, dann werden wir jetzt einmal dafür sorgen. So reisten sie also an ins Flüchtlingsnotheim, ohne Sandwiches mitzubringen für die Nachkriegskinder oder sonstige englische Kleinigkeiten für das schwerkranke Kriegs- und Flüchtlingskind Herbert Junior – es hätte sich ja so sehr über einen vorgestanzten Laubsägekasten mit Zerstörern der Royal British Navy gefreut-. Das 1.Nachkriegskind flüchtete bei der Ankunft der Tanten sofort in den Kastanienbaum, das 2.Nachkriegskind versteckte sich hinter dem neuen Grundig-Radio mit dem grünen Auge und hörte auf Kurzwelle Informationen aus der Ostzone ab, während das 3.Nachkriegskind nach wie vor seine Stellung im Vorkriegskinderwagen nicht aufgeben wollte und die Aufmerksamkeit aller, auch der englischen Tanten, durch permanentes Heulen und Brüllen auf sich zog. Währenddessen das Kriegs- und Flüchtlingskind cool das Schachbrett aufbaute, um die walisischen und polnischen Begleiter der englisch/ostpreußischen Tanten herauszufordern, die dann allerdings englisch diplomatisch höflich abwinken mussten mit der Bemerkung: no chess, no sports. Wo allerdings das „Englische Gefichel“, wie Herbert Senior immer zu sagen pflegte, die Nächte bei ihren kontinentalen Stippvisiten im Flüchtlingsnotheim verbrachten und wo sie sich wuschen und ihren englischen Darm- und Blasenbedürfnissen nachgingen - diese Frage muss bis heute unbeantwortet bleiben. Zu vermuten ist, zumal Tante Hildchen aus Sachsen, der eine Ausquartierung aus Altersgründen nicht zuzumuten war, auch noch kurzfristig anreiste und Herbert Junior gerade einmal nicht auf Kurverschickung war, dass es eine Verteilung der Engländer auf zufällig gerade freie Schlafplätze in Bockhorst und im Flüchtlingsheim gegeben haben soll, wovon die Nachkriegskinder allerdings Konkretes nie erfuhren. So soll die Tante aus Portsmouth auf dem Blankehof ein Bett gefunden haben,während ihr Mann, der walisische Krankenpfleger, den Schlafplatz von Hannes Strotmann, der gerade eine zweiwöchige Haftstrafe absitzen musste, weil er seine auferlegte Geldbuße wegen Verkehrsordnungswidrigkeiten unter Alkoholeinfluss nicht bezahlen wollte, rein platonisch neben Lilo Strotmann, der ja ohnehin engere Beziehungen zum Kohlenhändler Szcepanski nachgesagt wurden, eingenommen haben. Allein aus sprachlichen Gründen – Walisisch/Sächsisch, Lilo soll aus der Nähe Leipzig gewesen sein, - waren nähere Annäherungen zwischen Lilo, der Malermeisterfrau, und dem großbritannischen Krankenpfleger nicht zu befürchten. Die zweite Tante, aus London, soll, so wie man später hörte, zusammen mit ihrem polnischen, angeblichen Kollaborateur, der es ja gewohnt war konspirativ zu arbeiten, mit Hanni von und zu Herrlichmühlen einen geheimen Schlafplatz auf dem weiten Areal des Landwirtschaftlichen Gutes organisiert haben. Selbst Kreidelutzschki, der adventistische Erbschleicher, soll nicht eingeweiht gewesen sein!
Während die Englische Verwandtschaft also das bäuerliche Niedersachsen besetzte und sich hier und da, auf dem Blankehof, bei Anna - der Frau des Maurers Diddi- unten in Oytermühle, bei Onkel Johann Jäger und natürlich auch bei den von und zu Herrlichmühlen, wo die Oma herrlich kochen konnte, zum deftigen Grünkohlessen mit fettem Fleisch und Pinkel und jede Menge Bier und Korn einluden, wobei Herbert Senior und Hilda, die Schwester, mit am Tisch sitzen durften und mitessen und mittrinken durften. So endeten die völkerverständigenden Grünkohlzusammenkünfte dann manchmal auch entsprechend hitzig und unkontrolliert. So soll der alte von und zu Herrlichmühlen, der ja noch aus der alten Tradition der Großbauern, der Landadeligen und der Junker stammte, dem angeblichen Kollaborateur aus Polen, der nach England floh, nach dem 5.Korn die gemeinsame Rückeroberung Polens und Litauens vorgeschlagen haben, während Herbert Senior, der ja aus Dresden stammte, auf seine sozialdemokratische, revisionistische Weise dem walisischen Krankenpfleger, der ja nun auch sein Schwager war, nach dem 8.Korn die persönliche Verantwortung für die Bombardierung Dresdens auferlegen wollte. Dabei ballte er wie immer seine sächsische, sozialdemokratische, vom Nähen und Bügeln sehr ausgeprägte Schneiderfaust, und drohte durch wiederholtes Klopfen mit derselben auf die Tischkante körperliche Vergeltung für Dresden gegen den Schwager an. Da half es auch nicht, dass der walisische Schwager mehrmals „Coventry, Coventry“ hauchte. Hätte nicht Tante Hanni zusammen mit Kreidelutzschki, die ja beide dem christlichen Glauben der Siebenten-Tags-Adventisten nachgingen und der englischen Sprache mächtig waren, wenn sie auch sehr amerikanisch klang, nicht auf die göttliche Einheit im Geiste aller Menschen und aller Völker hingewiesen hätten und auf die baldige Wiederkehr von Jesu Christi verwiesen hätten, dann wäre es wohl zu einem sächsisch-walisischen Faustkampf direkt in der guten Stube der von und zu Herrlichmühlen gekommen. Da können wir rückblickend doch alle nur froh darüber sein, dass wir immer solche Gutmenschen mit am Tisch sitzen haben, denn Tante Hanni und Kreidelutzschki konnten den Überblick nur behalten, weil sie aus Glaubensgründen zwar den Grünkohl und die Kartoffeln mitaßen, aber sonst weder den Kassler, noch den Speck, noch die Kochwürste und schon gar nicht den Pinkel anrührten und vom Alkohol sowieso aus den freikirchlichen Gründen weiten Abstand hielten.
Nu, während die Engländer sich in der Norddeutschen Grünkohltiefebene bei Kohl- und Pinkel und Bier und Korn vergnügten, begnügte sich die Sächsische Tante aus der Ostzone, die ja gleichzeitig die Schwester des Herbert Senior war und zugleich die Mutter des Reinhardt, der wiederum als DDR-Reisekader die Wirtschaftsmessen im Wirtschaftswunderland besuchen durfte und dabei gelegentlich auch neue Mitglieder für die Jungen Pioniere der Freien Deutschen Jugend rekrutierten konnte, begnügte sich also die Sächsische Tante mit kleinen Ausflügen in die Stadt, um den Konsumvergleich zwischen der Ostzone und den westlichen Besatzungszonen vorzunehmen. Sie konnte einfach an der B75 gegenüber der Flüchtlingsnotunterkunft ohne fließend Wasser und Klo, wo sie wahrscheinlich mit im Familienbett nächtigte, an der Haltestelle der neu eingerichteten Buslinie Rotenburg-Bremen einsteigen in den klapprigen Bus von Pucks aus Oyten, der von der Britischen Besatzungsmacht den Auftrag zur Versorgung der Buslinie erhalten hatte. Der Puck’sche Bus fuhr für ca. 20 Pfenning bis Depot in Sebaldsbrück, wo das Sächsische Tantchen dann für weitere 20 Pfenning umsteigen konnte in die Straßenbahnen 2 oder 10, die sie durch die kriegszerstörten Vorstädte dann bis ins Centrum brachten. Der Fahrschein wurde noch beim unfreundlichen Schaffner, der im hinteren Teil der Waggons thronte, gelöst. Auf die Frage des Schaffners, wie weit sie denn fahren wolle, konnte das Tantchen meistens nur ein kurzes, knappes: „nu, bis Karstadt“ antworten, woraufhin der unfreundliche Schaffner meistens noch einen Groschen nachfordern musste, da die Fahrt bis in die Innenstadt nicht 20 Pfenning, sondern 30 Pfenning kostete. Woraufhin das Tantchen aus Sachsen nichts anderes grummeln konnte als:“ Nu, reiner Kapitalismus, bei uns kostet eene Fooahrt 10 Fenniche, für verdiente Kooader und für Rentner umsonst, nu!“. Die Nachkriegskinder fuhren wie die DDR-Rentner umsonst in der Bremer Straßenbahn. Das Flüchtlingskind Herbert Junior konnte ohnehin nicht mit in die Stadt mit der Sächsischen Tante, da diese die Leiden des Kindes, die in den Kriegswirren unter Beteiligung der glorreichen Sowjetischen Roten Armee entstanden sind, nicht realisieren und zur Kenntnis nehmen wollte. So sagte sie immer: „Nu, der Sozialismus und der Kommunismus sind nicht aufzuhalten. Dabei fallen natürlisch Opfer an, nu!“ So nahm sie gerne entweder das 1. oder das 2. Nachkriegskind mit in die Stadt, um mit diesen von Schaufenster zu Schaufenster im Wirtschaftswunderland zu schlendern, und um bei allen Wirtschaftswunderprodukten, die in den Fenstern ausgestellt waren, den Nachkriegskindern zu erklären: „Nu, das ham‘ mir ooch im HO-Laden!“So ging es stundenlang von kapitalistischem Schaufenster zu kapitalistischem Schaufenster: Schuhe, Kleider, Lebensmittel, Hüte, Gardinen, Brennstoffe, Werkzeuge, Stoffe,
Küchenartikel…usw.usw. Es wurde von der Sächsischen Tante quasi kein Schaufenster ausgelassen, das innerhalb von 2 Stunden Stadtbesuchszeit zu erreichen war, und es gab auch kein Wirtschaftswunderschaufenster, von dem sich das Sächsische Tantchen nicht mit den Worten: „Das ham‘ mir ooch….“ verabschiedete. Das 2.Nachkriegskind, das von allen Mausi genannt wurde, und das gerne an der Hand von der Sozialistischen Tante durch das fremde Kapitalistische Wunderland wanderte, ergänzte dann immer noch aus dem Lehrbuch der FDJ mit Leerformeln wie : „Die sozialistische Warenproduktionsweise dient dem Fortschritt der Völkergemeinschaft und dem Weltfrieden, und sie ist deshalb der kapitalistischen, profitorientierten Produktionsweise der Monopolisten und menschenverachtenden Ausbeuter vorzuziehen!“Dabei wurde sie meistens von der kleinen Tante aus Sachsen, die wohl nicht viel größer war als Rosa Luxemburg vor ihrem Sturz in den Landwehrkanal, freundschaftlich über den Kopf gestreichelt mit dem Hinweis, sie solle ihren sozialistischen Weg so weitergehen und sich nicht beirren lassen von Ochsen und Eseln, die nicht wüssten, dass der Sozialismus in allen Bereichen, später sicherlich auch in der Atomenergiegewinnung, siegen wird, weil er verantwortungsbewusster mit Mensch und Material umgehen wird, und nicht ausbeuterisch, kriegstreibend und menschenverachtend wie der Kapitalismus“. Dem 2.Nachkriegskind, das von allen Mausi genannt wurde, kamen bei diesen Wanderungen mit der Sozialistischen Tante aus Sachsen durch die Hölle des Wirtschaftswunderlandes regelmäßig die Tränen in die Augen, wobei die sentimentale Situation damit endete, dass die Sächsische Tante zum Schluss, bevor sie die Heimfahrt mit der 2 oder mit der 10 antraten, die Junge Pionieren fragte: „Nu, wo ist denn dieses Amt, wo ich mein Besuchsgeld abholen kann?“…
Die Schaufensterbesuche des Tantchens aus Sachsen mit dem 1.Nachkriegskind des Schneidermeisters Herbert Senior und seiner Frau Hilda aus Domnau in Ostpreußen verliefen im Gegensatz zu den Besuchen mit dem 2.Nachkriegskind, das von allen Mausi genannt wurde, wesentlich problematischer. Denn dieses verhaltensgestörte, von der Englischen Krankheit und mehreren todesnahen Unfällen geprägte Nachkriegskind, wobei sich im Laufe der Nachkriegsjahre noch weitere kindliche Störungen einstellten, konnte sich überhaupt nicht auf die Schaufenster konzentrieren und fragte im Dschungel der überwiegend kaputten Großstadthäuser nur ständig nach Austrittsmöglichkeiten. So schleppte das Tantchen, das natürlich nicht wissen konnte, wo die Austrittsorte zu finden waren, das 1.Nachkriegskind nicht von Schaufenster zu Schaufenster, sondern von Bombardierungsruine zu Bombardierungsruine in der Stadt, wo das 1.Nachkriegskind seine Blasen- und Darmangst überprüfen konnte. So blieb bei den Stadtbesuchen mit dem 1.Nachkriegskind der Tante nur eineinzigesmal die Möglichkeit zu sagen: „ Das ham‘ mir ooch…“, nämlich vor dem Parteibüro der mit Hilfe der Sozialistischen Deutschen Einheitspartei der Deutschen Demokratischen Republik neugegründeten Deutschen Kommunistischen Partei, DKP, in der Walter-Janka-Straße. So ein unerzogenes, unsozialistisches Kind jedenfalls, so ließ sie später gegenüber ihrem Sohn Reinhardt, der denn dann erst wieder nach der 4.Hannover-Messe mit heruntergezogener Hutkrempe an der Tür der Flüchtlingsnotunterkunft erschien, verlauten, habe sie weder in der Weimarer Republik, nach im Dritten Reich, und schon gar nicht in der Sozialistischen Deutschen Demokratischen Republik erlebt. So ein Kind, so Hildchen gegenüber ihrem Sohn Reinhardt, dem Führungskader der Uhrenfabrik und gleichzeitigem Mitarbeiter des DDR-Geheimdienstes, gehöre eigentlich in ein Umerziehungslager. Aber, so schwächte sie dann resignierend ihrem Sohn gegenüber ab, so etwas bekommen die Engländer in ihrer Besatzungszone ja nicht hin. Reinhardt konnte nur stereotyp, so wie er es immer tat, um weiteren Diskussionen aus dem Weg zu gehen, antworten: Einwandfrei!
Während die Engländer sich also mit Kohl und Pinkel vergnügten und die Tante aus dem Osten sich dem Konsumvergleich in der Stadt hingab, schauten die Kinder das Endspiel Schweden-Brasilien unten in der Siedlung bei der ersten Flüchtlingsfamilie, die sich einen Fernseher leisten konnte. Die Fernsehstube war bis auf den letzten Platz gefüllt mit Einheimischen, Ostpreußen, Bessarabiern, Rumänen, Schlesiern und Übersiedlern aus der Sowjetisch Besetzten Zone. Die Übersiedlung war ja bis August 1961 noch möglich. Die Flüchtlings- und Nachkriegskinder drängelten sich am offenen Stubenfenster, um das Spiel in Schwarz-Weiß staunend zu verfolgen. Schweden. Brasilien. Keines der Kinder wusste genau, wo das lag auf der Weltkugel, aber sie drängelten und schubsten und knufften sich am offenen Fenster um die beste Sicht auf den Fernsehschirm, so als würden sie selbst auf dem Platz stehen. Das 1.Nachkriegskind des Schneidermeisters Herbert Senior und seiner Frau Hilda aus Domnau in Ostpreußen, die ja selbst Herrenschneiderin war, das ja nun im Gegensatz zu den anderen Siedlungskindern auf die Mittelschule geschickt wurde, wurde wegen seines höheren Bildungsstandes jetzt von den anderen Kindern bevorzugt behandelt und durfte bei dem Endspiel ganz vorne im Fensterrahmen stehen. Dabei bekam es natürlich umso mehr Schläge und Tritte der hinter ihm stehenden oder über ihm postierten zappelnden und quatschenden Zuschauer ab. Das 1.Nachkriegskind jedenfalls war trotz aller Knüffe und Rempeleien von der Übertragung des Spiels dermaßen fasziniert, dass es innerlich beschloss, sich fortan ab jetzt bis in alle Ewigkeit alle Fußballspiele, die im Fernsehen gezeigt werden, anzuschauen. Dieser Vorsatz des 1.Nachkriegskindes sollte sich, wie wir heute wissen, im Laufe der Jahre tatsächlich realisieren, was aber leider zu der unerfreulichen Tatsache einer weiteren psychopathologischen Störung des 1.Nachkriegskindes neben den bereits bekannten körperlichen und nervlichen Störungen führen sollte: FFK, die Fussballfernsehkkrankheit. Es kann ohne Bedenken verraten werden, weil es ja ohnehin schon alle wissen, dass das 1.Nachkriegskind später im hohen Alter nicht eine Fußballübertragung im Fernsehen auslässt. Das hat sich leider bei dem ehemaligen 1.Nachkriegskind krankhaft entwickelt und geht so weit, dass es sich heutzutage z.B. im 3.Programm das Spiel der 3.Liga Osnabrück gegen Bielefeld an einem Montagabend live anschaut! Wie auch immer: damals nach der Übertragung Schweden gegen Brasilien, das im Übrigen ja 5:2 für Brasilien durch je zwei Tore von Pele und Vava und eines durch Zagallo endete, was die meisten der Kinder, die keine höhere Bildung hatten, ja gar nicht richtig mitbekommen hatten, rannten alle sofort auf die Kuhweide von Krohme, auf der gerade keine Kühe standen, dafür aber jede Menge angetrocknete Kuhscheißhaufen, um das Endspiel nachzuspielen. Dabei wollten natürlich alle Pele, was übersetzt ja so viel heißt wie Fell oder Pelz, sein, was natürlich nicht ging. So musste erst einmal bestimmt werden, wer Pele ist. So fiel die Bestimmung einmal wieder natürlich auf Stutzke mit der großen Fresse, der zwischen zwei Kuhhaufen stehend reklamierte: „Ich bin der beste Spieler und schieße immer die meisten Tore, also bin ich Pele“ Dagegen war nichts zu machen, so dass das 1.Nachkriegskind trotz seiner höheren Bildung sich mit Vava zufriedengeben musste. Zur Strafe dafür flog Pele während des Endspiels dann einmal voll auf die Fresse und landete direkt mit dem kompletten Gesicht in einem angetrockneten Kuhhaufen, woraufhin er dem 1.Nachkriegskind, genannt Vava, das sich vor Lachen nicht halten konnte, und das ja ohnehin bisher schon viele Schläge, Unfälle und Behinderungen einstecken musste, einen fiesen Schlag mit dem Knie in den Unterlaib verpasste. Damit war das Endspiel dann beendet.
Herbert Junior, der natürlich nicht mit im Fensterrahmen stand bei der Fernsehübertragung, und der natürlich nicht mitspielte bei der Wiederholung des Endspiels auf der Kuhweide, bedauerte das 1.Nachkriegskind in keiner Weise, als dieses heulend und schmerzgekrümmt in die Flüchtlingsnotunterkunft zurückkehrte. Lapidar, wie immer, bemerkte das Flüchtlingskind: „Siehste, das kommt von Fußball, das kann mir bei Schach nicht passieren. Komm‘, trete an gegen mich, ich mach‘ dich fertig!“
Herbert Senior war stolz auf die Borgward-Autos, obwohl er wusste, dass er sich wahrscheinlich nie in seinem Leben ein so schönes Auto jemals wird leisten können. Zumal er ja als Frühgeborener kurz nach der Jahrhundertwende, 6 Jahre vor Ausbruch des 1.Weltkrieges, nun immerhin schon über 50Jahre alt war und an der Fahrausbildung und Fahrprüfung wahrscheinlich gescheitert wäre. So blieb er ewiger Radfahrer. Selbst im Winter, wenn nicht gerade dicker Schnee lag, fuhr er seinen Arbeitsweg mit dem Fahrrad ab, wie tausende andere Pendler auch. Er arbeitete bei Borgward inzwischen in der Sattlerei, was ja seinem eigentlichen Beruf als Schneider ähnlich war. Er arbeitete mit an der Herstellung der Isabella, die der größte Verkaufserfolg in der Mittelklasse war. Sie wurde 202.862 Mal gebaut. Herbert Senior wird sicherlich am Bau von mindestens, na – sagen wir einmal: mindestens der Hälfte aller Isabellas, so um die 100.000 herum, beteiligt gewesen sein. Das muss man sich einmal vorstellen, diese Leistung! 100.000x die Isabellasitze zusammennähen
und in die Karossen einbauen. Eine wahnsinnige Leistung, auf die Herbert Senior zu Recht stolz sein konnte. Die Isabella war insbesondere als Coupé einer der deutschen Traumwagen der Wirtschaftswunderzeit schlechthin, schon bald war sie sehr häufig auf der Autobahn A1 und auf der Bundesstraße B75, die ja beide in unmittelbarer Nähe des Flüchtlingsnotheimes vorbei führten, zu sehen. So lagen die Kinder im Gras neben der B75 oder saßen verbotenerweise wieder einmal oben auf der Autobahnbrücke und zählten die VW-Käfer und die Isabellas. Zur Autobahn durften sie eigentlich seit dem Vorfall mit dem Sexualstraftäter aus Hamburg nicht mehr ohne Aufsicht gehen, aber die Kinder durften so manches nicht, und sie taten es trotzdem. So rauchten sie unter anderem auch getrocknete Eichenblätter in selbstgebauten Holunderholzpfeifen, bis ihnen fürchterlich schlecht wurde und sie hustend und spuckend ins Flüchtlingsheim zurückkehrten. Besonders tat sich hier einmal wieder das 1. Nachkriegskind hervor, das vom Rauchen nie genug bekommen konnte und von daher schon früh als späterer Kettenraucher positioniert war. Kein Wunder eigentlich, wurden doch eigentlich alle Flüchtlingskinder und auch alle Nachkriegskinder von früh an mit Lucky Strikes, Junos und Ecksteins von allen Seiten eingeräuchert. Ob diese Tatsache für Herbert Junior mit seiner schweren Lungenkrankheit gesundheitsförderlich war, mag schwer bezweifelt werden. Statt das Rauchen in Anwesenheit des asthmakranken Flüchtlingskindes zu vermeiden, wurde es, wenn es nicht gerade einmal wieder verschickt war in die Heilanstalten, aufgepäppelt mit so einer Mischung aus Rotwein, Malzbier und Eigelb. So wuchs Herbert Junior heran und doch nicht! Großes körperliches Wachstum war bei ihm aus den bekannten Gründen nicht zu bemerken, er blieb ständig dünn und klein. Dafür hatte er, das behaupteten zumindest das Nachkriegskind Nr.1, die Junge Pionierin und das ewige Kind im Kinderwagen, die „größte Schnauze“ vom ganzen niedersächsischen Bauernland.
Währenddessen erlernen die Kinder in der Mittelschule das englische Rugbyspiel. Lehrer Herbert Glockmann tritt in das Leben des 1. Nachkriegskindes ein. Herbert Junior muss noch einmal an der Lunge operiert werden. Hilda, die Schneiderin aus Ostpreußen, ist jetzt im Theaterkreis und besucht Opern und Operetten in Bremen und spielt selbst mit den Theaterfrauen vom Turnverein Theater auf der Bühne in Bischoffs Saal. Das Kreisturnfest in Embsen, zwischen Oyten und Achim gelegen, findet statt / Höhepunkt das Faustballendspiel um die Kreismeisterschaft. Die Nachkriegskinder graben eine Erdhöhle und hissen die Deutsche Reichsfahne auf dem Gelände des Sohnes Horst des Dreschmaschinenbesitzers, Kohlenhändlers und Allesverkäufers Dreckmann. Sie schlitterten wieder einmal knapp am Tode vorbei in der Höhle…Herbert Junior durfte natürlich nicht mit rein… zum Glück….
Aber davon wollen wir erst in der nächsten Woche erzählen, wenn die traurigen Tage vorbei sind und wir uns wieder einmal der adventlichen, um nicht zu sagen: der adventistischen Hoffnung auf die Wiederkehr von Jesum Christum hingeben können..
HERBERT 15.11.2012
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Wie Herbert Junior, das asthmakranke Kriegs- und Flüchtlingskind, das Abitur in den Rotenburger Anstalten immer noch nicht
realisieren konnte, und wie das 1.Nachkriegskind vor versammelter Mannschaft das Konrad-Ferdinand-Meyer'sche Dickgedicht "Die Füße im Feuer" vortrug und dabei sprachlich weder
holperte noch stolperte und dabei auch noch in die Gastwirtstochter Anneliese aus Kichlinteln verknallt war...
So nahmen die Nachkriegsjahre wieder einmal ihren Lauf. Deutschland wurde neu erfunden. Die ehemaligen Ostgebiete waren für immer verloren, obwohl die Vertriebenenverbände auf ihren Großveranstaltungen die Rückkehr in die Heimat forderten. Hilda, die Herrenschneiderin aus Domnau in Ostpreußen, die ja inzwischen 4 Kinder in der Flüchtlingsnotwohnung zu versorgen hatte, konnte an den Vertriebenentreffen natürlich nicht teilnehmen. Wie sollte sie auch mit dem asthmakranken Kriegs- und Flüchtlingskind Herbert Junior, dem verhaltensgestörten 1. Nachkriegskind, der stalinistisch orientierten Jungen Pionierin Mausi und dem 4.Kind, also dem 3.Nachkriegskind, das nicht selbständig laufen wollte und immer nur in diesem Vorkriegskinderwagen sitzen wollte und heulte, wie sollte sie also mit dieser Bagage in die Vertriebenentreffenbusse einsteigen, die über die Dörfer fuhren, um die Heimatlosen zu den Treffen nach Hamburg, Bremen, Verden oder Hannover zu chauffieren. Herbert Senior selbst konnte hier auch keine Verantwortung übernehmen, da er auf Schicht zu Borgward musste, oder aber auf dem Küchentisch der Flüchtlingsnotwohnung, der gleichzeitig ja Werkstatt des Schneidermeisters war, noch dringend Herrenanzüge und Damenkostüme für die Dorfprominenz fertigzustellen hatte, da der Turnerball, das Schützenfest und das Erntefest zeitlich nahten. Oder aber er war bei Bischoff, Schulz oder Segelken anzutreffen, wo wichtige geschäftliche oder politische Angelegenheiten zu besprechen waren. So mussten die „Zurück-in-die-Heimat-Treffen“ der Ostpreußen und die antikommunistischen Versammlungen der Sächsischen Landsmannschaft leider ohne Beteiligung der 6-köpfigen Mischfamilie stattfinden. Dabei darf nicht unterschlagen werden, dass die Junge Pionierin, die von allen Mausi genannt wurde, ohnehin nur unter Protest teilgenommen hätte, da sie bereits bei der ersten Erwähnung dieser Treffen durch die Eltern von revanchistischen Versammlungen sprach, die von nationalistisch, antisozialistisch, imperialistisch und sozialdemokratisch, revisionistisch gesteuerten Kräften organisiert würden. Sie kündigte die Verweigerung ihres Einstieges in den Vertriebenenbus an, was sicherlich für alle, die bereits im Bus gesessen hätten, zu unangenehmen Mutter-Kind-Konflikt-Situationen vor der geöffneten Bustür geführt hätten, die wohl dadurch gelöst worden wären, dass die Mutter das Kind mit Gewalt in den Bus gezerrt hätte, was dann wiederum zu erheblichen Beleidigungsauswüchsen der halbwüchsigen Jungen Pionierin gegenüber der gesamten Busbesatzung geführt hätte, die in der Regel mit dem Schlusssatz endeten: „Ihr tragt doch alle keinerlei Verantwortung für den Weltfrieden und für den Aufbau des Sozialismus, das sage ich euch!“
Die Sommerferien nach dem Ende des 4.Schuljahres in der Volksschule, die das 1.Nachkriegskind , das nun bald in die Höhere Schule nach Achim sollte, mit Kinderhilfsarbeit in der Niedersächsischen Landwirtschaft verbrachte, neigten sich wieder
einmal dem Ende zu. Während das 2. Nachkriegskind, das von allen im Dorf nur Mausi genannt wurde, sich wieder einmal 6 Wochen lang im Lager der Jungen Pioniere am Scharmützelsee in der Sowjetisch besetzten Zone , die sich seit 1949 selbst DDR nannte, was so viel bedeuten sollte wie: Deutsche Demokratische Republik, beim Aufbau des Sozialismus vergnügte; und während sich das Kriegs- und Flüchtlingskind Herbert Junior auf das Abitur in den Rotenburger Anstalten in den Fächern Kunstmalen, Peddigrohrarbeiten, Schachspiel und Pilzkunde vorbereitete – und während das 3.Nachkriegskind, das als 4.Kind der Schneiderehepaares Herbert Senior aus Sachsen und der Hilda aus Ostpreußen, geboren wurde, sich nach wie vor im Vorkriegskinderwagen heulend durch die Britische Besatzungszone schieben ließ – wobei hilfsweise zur Unterstützung der völlig überforderten Schneiderin aus Ostpreußen auch die Oma aus dem Ruhrgebiet, die Schwestern aus England, der beinamputierte Bruder Willi aus Bielefeld und gegebenenfalls auch die Schwägerin aus Sachsen anreisten, um das 4.Kind durch die Britische Besatzungszone zu schieben, während also alle anderen Kinder ihre Ferien genießen konnten, gab sich das 1.Nachkriegskind der Kinderarbeit in der Norddeutschen Landwirtschaft in der englisch besetzten Zone hin.. Alle Kriegs- und Nachkriegskinder hatten irgendwie mehr oder weniger ihr Sommerferienvergnügen, egal ob in den Behindertenanstalten, im Umerziehungslager der Freien Deutschen Jugend oder im Vorkriegskinderwagen. Nur das 1.Nachkriegskind nicht, das ja ohnehin schon benachteiligt war durch mulikomplexe Störungen wie die Englische Krankheit, die fürchterlichen Sprachbehinderungen und durch die psychopathologischen Neigungen zur Selbstzerstörung, sowie durch weitere Beeinträchtigungen wie Einnässen, Hosekacken, Sirupbrotandiewandschmeissen, Baumkronensitzen, Kartoffelnachlesebetrug und nicht zuletzt durch dieses stunden- wenn nicht tagelange, trapistische, sprachverweigernde Insichgekehrtsein in Konfliktsituationen. Selbst die vom Gutsherrn von und zu Herrlichmühlen und seiner aus Amerika zurückgekehrten Hoferbin Tante Hanni samt ihres adventistischen Erbschleichers Kreidelutzschki zusammengerufenen Pädagogischen Hofkonferenzen nach der amerikanischem Methode, an denen dann auch Herzfeld, Strotmann, Frau Hoppe und der extra eingeladene Schmolke neben Herbert Senior, Hilda aus Ostpreußen und natürlich Herbert Junior teilnahmen, brachten keine Besserung der Sprachwilligkeit des 1. Nachkriegskindes . Der flüchtete in diesen Situationen dann lieber in die Baumkrone des Kastanienbaumes und warf unreife Kastanienfrüchte auf die Konferenzteilnehmer. Dieses unvollkommene 1.Nachkriegskind also war also das einzige aus der Schneiderfamilie aus Sachsen und Ostpreußen, das durch unermüdliche Kinderarbeit zum sommerlichen Ernteerfolg der Niedersächsischen Nachkriegslandwirtschaft beitrug. Es rackerte und schuftete bei der Getreideernte der Bauern als Pferdeführer der pferdegezogenen Vorkriegsmähmaschine, es stellte zusammen mit den Flüchtlingsfrauen die gebundenen Garben zu Hocken zusammen, es half den niedersächsischen Roggen- und Haferbauern beim Aufladen der Garben auf die breiten Ackerwagen – und es ließ es sich nicht nehmen, sich bei der Leerrückfahrt auf dem abgeladenen Ackerwagen hinten gegen die lose Rückwand des ersten Ackerwagens so anzulehnen, dass diese sich löste und das 1.Nachkriegskind kopfüber zwischen den ersten und zweiten Wagen des Ackerwagens fiel, um sich von den zwei riesigen eisenumspannten Ackerwagenrädern auf der rechten Seite des zweiten Wagens quer über die bereits von der Englischen Krankheit gezeichneten Brust überrollen zu lassen. Albert, der Knecht der von und zu Herrlichmühlen, bemerkte, blöd wie er war, den Unfall natürlich nicht, und fuhr schnurstracks weiter zum Getreidefeld, während das Unfallopfer, das 1.Nachkriegskind des Schneidermeisters Herbert aus Sachsen und seiner Ostpreußischen Frau Hilda, die ja ebenfalls Schneiderin war, am Wegesrand mit zwei deutlichen Unfallspuren quer über den Englischen Brustkorb liegen blieb, zeitweise besinnungslos war, zeitweise sich schon in den „Ewigen Jagdgründen“ , wie Herbert Senior, der ja aus Radebeul war und sehr stark literarisch und sprachlich beeinflusst war von seinem Landsmann und Ortskollegen Karl May, immer sagte, befand, bevor dann die Oma der von und zu Herrlichmühlen, die mit dem Melkerfahrrad auf dem Weg zur Verpflegung der Erntehelfer mit Kaffee, Butterkuchen, Wickelkuchen und Rosinenstuten war, das elendig verreckende Unfallopfer auffand, um es dann spontan mit heißem Malzkaffee mit Milch und Zucker, mit 5 Stück Butterkuchen, 3 Stück Wickelkuchen und 4 dick mit Butter bestrichenen Rosinenstuten zurück ins Leben zu holen. Später stellte sich sogar noch ärztlich heraus, dass das Überrollen des Englischen Brustkorbes des 1.Nachkriegskindes mit den riesigen Ackerwagenrädern zu einer Linderung der äußeren Merkmale der Englischen Krankheit geführt haben soll, da der Brustkorb, der vormals die Form einer Hühnerbrust hatte, nunmehr eher die Form einer eleganten, flacheren Entenbrust angenommen haben soll.
Hühnerbrust hin, doppelt gebratene Entenbrust her - nach den Sommerferien, die für das 1.Nachkriegskind neben den besagten schweren, fast tödlichen Unfällen und den psychopathologischen Ausfällen wie Nichtsprechen und Baumklettern, Landwirtschaftliche Arbeit, den kargen Lohn von 2 Mark pro Arbeitstag, der selbstverständlich sofort abgeliefert werden musste beim Schneidermeister Herbert Senior, und wunderbare bäuerliche Verpflegung von morgens bis abends bedeutete, hieß es nun wieder Zuckerbrot und Plum un Klütschen. Jetzt ging es auf die Höhere Schule nach Achim. Treffpunkt für die intelligenten Kinder des Dorfes, die von Schmolke, Koch, Bauer und Pachmann für den Besuch der Höheren Schule empfohlen wurden, war der Fußballkasten des TSV Gut Heil, in dem immer die Mannschaftsaufstellungen für die bevorstehenden Spiele ausgehängt wurden, und der vor dem Eingang zu Bischoff aufgehängt war. Im Frühjahr, im Sommer und im Herbst wurden die 7 km nach Achim von den Kindern mit den alten, klapprigen Fahrrädern, die irgendwie zusammengebastelt waren in der Werkstatt von Heinz unten im Mühlengrabengrund, zurückgelegt; im Winter organisierte Badenhoop, der Kaufmann und Bäcker am Sportplatz mit seinem klapprigen Vorkriegs-Bus die Schulfahrten nach Achim gegen Bezahlung, die vom Schneidermeister Herbert Senior dann manchmal mit textiltechnischen Änderungsarbeiten an Badenhoop’schen Kleidungsstücken ersatzweise ausgeglichen werden musste, wenn die Borgward’sche wöchentliche Lohntüte am Freitagnachmitttag, oder bei Spätschicht am Freitagabend, von Sebaldsbrück entlang der B75 und entlang der vielen gastronomischen Haltemöglichkeiten in Osterholz, Tenever, Königsmoor, Oyter Berg, Oyten und Fesenfeld nicht vollständig oder manchmal auch leer in der Flüchtlingsnotunterkunftwohnung ohne fließend Wasser und Klo ankam. Badenhoop drohte sogar manchmal damit, das Nachkriegskind Nr. 1 nicht mehr mitzunehmen, wenn es am nächsten Tag nicht das Fahrgeld dabei hätte. Dabei musste dann immer das 1.Nachkriegsdienst die Badenhoop’sche Botschaft an Herbert Senior persönlich überbringen, da es ja noch keine Nachkriegstelefone in der Flüchtlingssiedlung gab. Das Überbringen der Botschaft war dann immer eine riesige psychische und sprachtechnische Anstrengung für das 1.Nachkriegskind, da bereits das Herauswürgen des Namens Badenhoop nach dem großen B nur durch sprachakrobatische, ja, fast sängerische Glanzleistungen des 1.Nachkriegskindes von demselben zu bewältigen war. Diese sängerischen Glanzleitungen konnte das 1.Nachkriegskind allerdings dann in der Höheren Bildungsanstalt, genannt Mittelschule, nicht wiederholen – immer vorausgesetzt, dass es dort überhaupt angekommen war und nicht unterwegs auf der 7km langen Strecke mit Kettenschaden liegengeblieben war oder aber von Badenhoop wegen Zahlungsunfähigkeit aus dem Bus geworfen wurde. Bei Willem Petersen, der neben Deutsch und Heimatkunde vor allem Musik und Gesang in der Mittelschule gab, hatte das 1.Nachkriegskind dann bedauerlicherweise in Gesang keine guten Karten. Willem Petersen, der ja eigentlich im Hauptberuf Kantor der St.Laurentius-Kirche war, befreite das 1.Nachkriegskind letztendlich von der Teilnahme am Chorgesang, da er der Auffassung war, dass das 1.Nachkriegskind ständig falsch singe und den Ton nicht halten könne und brumme. So könne er keine vernünftige Musikerziehung gestalten, wenn immer Schüler dazwischen seien, die absichtlich den Gesang störten. Bei dem Aussprechen dieses Satzes liefen Willem dann wieder die schwarzen Priemsäfte über das Kinn und landeten wie immer auf diesem grauen, besudelten Kantorenanzug mit Weste. Hin und wieder tropfte es auch auf die Geige,die er ebenso herrlich spielen konnte wie das Klavier, die Orgel, die Posaune und das Schlagwerk.
Aus Barmherzigkeit, er war ja schließlich Mitglied der Evangelischen Kirchengemeinde, wies er dem 1.Nachkriegskind des Schneidermeisters Herbert Senior aus Sachsen und der Schneidermeisterfrau Hilda, die ja eigentlich selbst Herrenschneiderin war, eine Aufgabe an der Triangel zu, die ja, wie wir wissen, im Choralltag selten zum Einsatz kommt. So reduzierte sich die musikalische Ausbildung des 1.Nachkriegskindes an der Höheren Schule auf das Warten auf den Einsatz der Triangel. Ansonsten waren die ersten beiden Jahre an der Mittelschule eine schöne Zeit für die Schüler der Klasse des 1.Nachkriegskindes, denn sie waren wegen Raummangel ja ausquartiert aus der Schule oben auf dem Paulsberg und auf Veranlassung von Willem Petersen, dem Kantor der Kirchengemeinde, unten in der Kantorei nahe der Kirche und des Kirchenfriedhofes einquartiert. So hatten sie dort ihren eigenen Schulhof und konnten in den Pausen viel Unsinn treiben, weil sie die meiste Zeit unbeaufsichtigt waren. So konnten sie dort geschlechtsgetrennt gut in den Jungen- und Mädchengruppen herumstehen, sich gegenseitig Unflätigkeiten zurufen, sich schubsen und gegenseitig hinterherjagen und kichern. Die Jungs probierten sich in Ringkämpfen aus, bis sie von oben bis unten dreckig waren und auch schon einmal Beulen und blaue Flecken davontrugen. Die Mädchen standen abseits und kicherten und machten sich über Jungs lustig. Hin und wieder gab es sogar erste verstohlene Geschlechterannäherungen, die vorrangig von den Mädchen betrieben wurden. So soll das 1.Nachkriegskind heimlich ein Auge auf Anneliese, der Gastwirtstochter aus Kirchlinteln, geworfen haben. Anneliese wurde in Verden an der Höheren Schule nicht angenommen und musste täglich den weiten Weg nach Achim machen. Das 1.Nachkriegskind konnte allerdings seine Zuneigung zu der Gastwirtstochter aus den bekannten Gründen nicht verbalisieren, so dass es bei der heimlichen Verehrung blieb. Manchmal dauerten die Pausen auf dem Kirchengelände sehr lange, da die Lehrer, die von oben, vom Paulsberg, immer runterkommen mussten in die Kantorei, keine Lust hatten, oder wegen Krankheit ausfielen, oder oben Konferenzen hatten. So lernten die Schüler unten in der Kantorei, der Außenstelle der Mittelschule, sehr viel im Hinblick auf die Selbstorganisation von Pausen und im Hinblick auf das menschliche Miteinanderumgehen, neusprachlich dann nach Ende der Besatzungszeit auch Soziales Lernen genannt. Dann aber, wenn sich der Geruch von Kautabak und der besudelte graue Anzug mit dem priemsaftbesudelten Geigenkasten unterm Arm mit wehenden weißen Haaren wie Beethoven der Kantorei näherte, dann herrschte wieder Zucht und Ordnung. Dann wurden wieder diese schönen Lieder gesungen von den herrlich hellen Mädchenstimmen. Dann wurden die Lobgesänge auf den Herrgott und Jesum hoch und runter geträllert. Dabei saß das 1.Nachkriegskind dann zusammen mit einigen anderen Brummern und Störern abseits an der Triangel und gab sich wie immer der psychopathologischen Fingernägelpflege hin. Halleluja.
Nach dem Gesangsunterricht war aus terminlichen Gründen bei Willem Petersen dann immer Deutsch, schließlich musste er seinen Unterricht an der Höheren Bildungseinrichtung so kompakt legen, dass er auch noch seinem Hauptberuf als Kantor nachgehen konnte. Dabei fragten sich die Schüler schon früh, wie es wohl oben an der Orgel der St.Laurentius-Kirche aussehen möge. Ob da vielleicht jedes Mal gewischt werden müsse, wenn Willem auf der Orgelbank gesessen hat. Jedenfalls war Deutsch bei Willem Petersen für das 1.Nachkriegskind interessanter als Singen. Hier konnte es unter Beweis stellen, dass es nicht nur hin und wieder einen Schlag gegen die Triangel fertigbringt, sondern dass es ganze Gedichte einwandfrei auswendig lernen kann und sie auch noch ohne Stopp flüssig vortragen kann. Ja Gedichte vortragen, das war für Willem Petersen eine ebenso große Leidenschaft wie musizieren. Wenn Willem in Deutsch den knappen Befehl gab: Aus deutschem Herzen, dann wussten die Kinder Bescheid und holten sofort das entsprechende Schulbuch aus dem Ranzen und legten es vor sich auf die Schulbank. Und wenn Willem dann mit erhabener Stimme ohne Priemsaft zu sabbern aus dem Deutschen Herzen den „6.November 1632“ von Theodor Fontane vortrug, dann war das 1.Nachkriegskind besonders vom Deutschunterricht angetan, denn der 6.November war sein Geburtstag. Es war dem 1.Nachkriegskind egal, ob es in dem von Willem vorgetragenen Gedicht um einen Novembertag in der Schwedische Heide ging, oder ob der Nebel grau am Boden lag, und ob über das Steinfeld von Dalarn ein Räderkarr’n beladen mit Korn holpert und stolpert – stolz war das 1.Nachkriegskind auf die Erwähnung des 6.November in dem Gedicht. Und so lernte es eifrig und mit Lust Gedicht für Gedicht aus dem Deutschen Herzen, was als Schulbuch ja im Übrigen bereits am 14.7.1953 unter dem Aktenzeichen Nr.III 2691/53 vom Niedersächsischen Kultusministerium für den Gebrauch in Schulen freigegeben wurde. „Wild zuckt der Blitz. In fahlem Lichte steht ein Turm…“ Ja, selbst vor so endlos langen Gedichten wie „Die Füße im Feuer“ von Conrad Ferdinand Meyer schreckte das 1.Nachkriegskind der Schneiderfamilie Herbert Senior und Hilda nicht zurück. Innerhalb von zwei Tagen konnte das 1.Nachkriegskind den Schinken von Meyer auswendig, um dann Willem zu bitten, ihn das Monsterstück vor der gesamten Klasse vortragen zu dürfen. Und, oh Wunder, wenn Willem zugestimmt hatte, und das 1.Nachkriegskind den Meyer’schen Schinken, für den ein ausgebildeter Sprecher mindestens 10 Minuten benötigen würde, innerhalb von 5 Minuten ohne holpern und stolpern herunter gerappelt hatte, und wenn alle Mitschüler raunten und staunten, dann waren doch schon einmal elementare Bildungsziele der Höheren Bildungsstätte, genannt Mittelschule, erreicht.
Später, nach dem Umzug von der Kantorei in die neugebaute „Realschule“ am Sportplatz, sollte das 1.Nachkriegskind einerseits mit einem weiteren Herbert in seinem Leben konfrontiert werden und andererseits weiteren elementaren Bildungsinhalten wie Rugby,Französisch und Chemie begegnen. Aber davon soll noch vor dem nächsten Buß- und Bettag, an dem es traditionell im ganzen Dorf und auch in den Flüchtlingssiedlungen dieses Kohl- und Pinkelgericht gab mit stundenlang gekochtem Grünkohl, fettem Speck, fetten Würsten und gepökeltem Kassler von den letzten Hausschlachtungen und dann noch mit diesem so genannten Pinkel, von dem keiner so genau weiß, was es eigentlich ist, und Hafergrütze, und kiloweise Zwiebeln, und Gänseschmalz, und pfundweise Zucker, und händevoll Piment undundund…,spätestens jedoch am Totensonntag, wenn alle wieder auferstanden sind von der Kohl- und Pinkelmahlzeit, zu der ja traditionell auch Unmengen an Bier und Korn getrunken werden, erzählt werden.
Derweil muss noch hervorgehoben werden, dass Herbert Junior das angestrebte Abitur in den Rotenburger Anstalten noch nicht realisieren konnte, da er zwischendurch immer wieder einmal verschickt werden musste, weil sich sein Asthmazustand und sein Lungenzustand in Rotenburg keineswegs verbesserten. So musste Herbert Senior ihn mit seinem Grünen Ausweis vom Versorgungsamt, der zu Freifahrten in allen öffentlichen Verkehrsmitteln berechtigte, nach Bad Reichenhall, Borkum und Sylt begleiten, besuchen und wieder abholen. Einmal hörte sich Herbert Junior ein Gedicht vom 1.Nachkriegskind an. Dann nie wieder mit der Begründung: Gedichte aufsagen ist doch potteneinfach, das kann doch jeder - aber Peddigrohr, Schach, Pilze und Malen, das kann nicht jeder, dazu müsse man als Kriegskind geboren sein und schon einmal auf der Flucht vor den Russen gewesen sein. Wozu die Junge Pionierin, die von allen nur Mausi genannt wurde, und die gerade einmal wieder von einem Bau-Auf-Lager am Scharmützelsee zurückgekehrt war, bemerkte, dass die Rote Armee keine Kriegsarmee war, sondern eine Widerstands- und Befreiungsarmee. Sie, die Rote Armee, habe auch keine Verbrechen gegen die Zivilbevölkerung begangen wie die Deutsche Wehrmacht in Russland, sie habe lediglich das Ziel gehabt , Nazideutschland vom Kapitalismus und auch vom Imperialismus zu befreien, was ja in der Deutschen Demokratischen Republik, genannt DDR, auch bisher einwandfrei gelungen sei! Die Frage ihres Vaters, Schneidermeister Herbert Senior, ob sie denn schon einmal mit ihrem Führungskader und gleichzeitigem Cousin aus Sachsen, Tarnname Reinhardt, zusammengetroffen sei, beantwortete sie mit einem sozialistischen, völkerverständigem FDJ-Lächeln.
HERBERT 07.11.2012
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Wie das 1.Nachkriegskind bei der Zeromie am Kriegerdenkmal das Wasser nicht halten konnte und wie das Schachspiel in die Flüchtlingsnotunterkunft kam. Von den Bildungsbemühungen in der Britischen Besatzungszone
Damit die Nachkriegskinder nicht nur bei den Engländern um dreieckige weiße Brote betteln und nicht nur beim Training der 1.Herren des TSV am
Sportplatzrand stehen, um Stalin zu bewundern, wurde die Schulpflicht in der Britischen Besatzungszone durchgesetzt. Alle Kinder, außer den lungenkranken und beinamputierten Flüchtlingskindern,
die den Weg zur Schule ja ohnehin nicht geschafft hätten, weder zu Fuß noch mit dem Fahrrad, und die im Übrigen ja auch in den Anstalten und Heimen beschult wurden, mussten zur Schule – egal , ob
sie wollten oder nicht. Egal, ob sie der Sprache mächtig waren oder nicht. Egal, ob sie mit der Englischen Krankheit gezeichnet waren oder nicht. Egal, ob sie im Schlaf posttraumatische
Gewalterlebnisse verarbeiten mussten, oder auch nicht – sie mussten zu Frollein Koch, zu Herrn Bauer, zu Herrn Schmolke und zu dem 1.Vorsitzenden des TSV Gut Heil, Pachmann, der sein Holzbein
mindestens 30cm nachzog, in die Volksschule. Selbst die Nachkriegskinder, die in den Schulferien zu Ostern, zu Pfingsten, im Sommer, im Herbst, zu Weihnachten, zum Neuen Jahr und zu Heilige Drei
Könige in die Sozialistischen Erziehungslager in die Ostzone verschickt wurden, mussten trotz der kapitalistisch, amerikanisch imperialistischen Unterrichtsinhalte in die Allgemeinen Volksschulen
der westlichen Besatzungszonen. So mussten die Nachkriegskinder Nr. 1 und Nr.2. des Schneidermeisters Herbert Senior aus Sachsen und seiner Frau, der Schneiderin Hilda aus Domnau in Ostpreußen,
die sich in der Uniformschneiderei des Heeres in Bartenstein/Ostpreußen im Jahre 43 kennengelernt hatten, auch hin. Das Nachkriegskind Nr.1 hat sich einige Zeit vor Schulbeginn freiwillig im
Kohlenverschlag versteckt, um nicht hin zu müssen. Schwarz und ungewaschen, wie er war, wurde er von Herbert Senior dann trotzdem hingeschleppt mit dem Sächsischen Bildungsversprechen: „Nu, sei
artisch in der Schule und lerne fleissisch und sing‘ ooch mit, wenn gesungen wird, nu. Später kannste dann och de Feischelan lernen, nu.“ Das Nachkriegskind Nr.2, von allen Mausi genannt, soll
noch vor Schuleintritt auf dem Gutshof der von und zu Herrlichmühlen gestanden haben, um dort ihre Abscheu gegen den kapitalistisch, imperialistischen Schulbesuch allen Flüchtlingsheimbewohnern
und Flüchtlingsheimbewohnerinnen und auch den Gutsherren und ihren amerikanischen Erben sowie allen weiteren Einheimischen zu verkünden: „ Ich gehe nur unter Protest in diese Schule der
Revanchisten, der Revisionisten und Arbeiterverräter. Nach dem Sieg des Sozialismus werde ich persönlich die Schulen des Volkes
übernehmen, ihr seid doch alle ohne jegliche soziale Kompetenz und habt keinerlei Verantwortung!“ Das 1.Nachkriegskind kletterte bei der Hofveranstaltung mit Mausi bis in Spitze der Hofkastanie und warf unreife stachelige Früchte auf die Rednerin, ohne zu treffen.
Alle Hofreden und Kastanienwerfereien halfen allerdings nichts. Die neuen Kreisverwaltungen und die Britischen Besatzungsmächte setzten die
Schulpflicht durch, notfalls mit unmittelbarer Gewalt in Form einer englischen militärischen Jeepfahrt direkt zur Volksschule. Ob die Engländer allerdings wussten, was den Nachkriegskindern in
den Dorfschulanstalten beigebracht wurde, darf bezweifelt werden. Denn ohne englische oder gar amerikanische Schulkontrolle hingen in den Schulräumen diese großen ausrollbaren Landkarten des
Deutschen Reiches in den Grenzen von 1939. Im Singeunterricht wurde neben „…denn wir fahren, denn wir fahren gen Engeland…“ auch gesungen: „ Unsere Fahne flattert uns voran…“. Auch wurde den
Kindern die beliebte preußisch, nationalsozialistische Sütterlinschrift beigebracht, damit sie die Einkaufszettel der Mütter und die Briefe der Tanten aus England und aus dem Ruhrgebiet lesen
konnten. Nun gut, die Schriften und Briefe aus der Ostzone konnte so manches Westzonenkind nicht lesen, trotz intensiver Studien auch der arabischen Schriftzeichen in den westlichen Volksschulen,
da sie auf Russisch mit diesen merkwürdigen kyrillischen Schriftzeichen versehen waren. So schrieb Reinhart, der Neffe, so manchen geheimen Brief am Führungsoffizier in Pankow vorbei an seinen
Onkel im Westen, in diesem Falle Herbert Senior, in dieser Geheimschrift, da er sicher sein konnte, dass der Führungsoffizier im Anblick der sowjetisch-kyrillischen Schriftzeichen sofort Haltung
annehmen würde und den Brief ohne Weiteres einwandfrei weiter in die Westzonen leiteten werde. Woher allerdings, so fragte sich mancher Dorfbewohner Jahre später, Herbert Senior die kyrillischen
Schriftzeichen lesen konnte, blieb bis zu dessen Tode im Jahre 1997 ungeklärt. Einige vermuteten, dass er die Sprache und die Zeichen im Stalingrader Kessel 42/43 gelernt hatte, da er jedes
abgeworfene Flugblatt der Roten Armee intensiv studierte und über die Lautsprecheragitation der Roten Armee einen phonetisch, linguistisch sprachlichen Begriff vom Feind bekam. Andere wiederum,
vermuteten Geheimdiensttätigkeiten, da Herbert Senior am Tresen von Bischoff, Schulz oder Segelken immer stolz darauf war berichten zu können, dass er dem Stalingrader Kessel mit dem Roten Kreuz
entrinnen konnte und in die Heimat zurückgebracht wurde wegen schwerer Kriegsverletzungen, von denen – um das einflechten zu dürfen – in den Nachkriegsjahren nicht mehr viel zu spüren war,
zumindest nicht bei den Angehörigen. Keine Schusswunden, keine Kopfverletzungen, keine Knochenbrüche, kein Holzbein wie Pachmann. Wahrscheinlich, so nimmt man an, wurde er von der Heeresleitung
zurückgerufen, weil in den Uniformschneidereien des Reiches Schneider fehlten, die nun für den Endkampf Uniformen für die Kinder und Jugendlichen schneidern mussten.
Die einheimischen Bauern- und Junkerkinder, die unter sich zur Abgrenzung von den Flüchtlings- und Nachkriegskindern , mit denen sie ja gezwungenermaßen in die gleiche Schule gehen mussten, diese
Geheimsprache Plattdeutsch sprachen, und die im Gegensatz zu den zugezogenen Schülern große Schwierigkeiten hatten Frollein Koch und Pachmann und die anderen Lehrer, die ja laut britischer
Anordnung im Unterricht hochdeutsch und später mit den älteren Schülern englisch sprechen mussten, überhaupt im Unterricht zu verstehen, wurden trotz aller schulsprachlichen Mängel natürlich im
Unterricht gegenüber den Kindern aus der Kalten Heimat bevorzugt, da ja die bäuerlichen Naturalien, die die Bauernkinder regelmäßig für die Lehrer mit in die Schule brachten, wohl einen gewissen
Einfluss auf das Geschehen in der Volksschule haben sollten. So schleppten diese einheimischen, plattdeutschen Kinder nicht nur ihre schweren Schulranzen mit den Schiefertafeln drin in die
Schule, sondern auch ½ Zentnersäcke Kartoffeln, Körbe voller saftiger Äpfel, gerupfte Hühner und Gänse, ganze Schweinehälften, Grünkohl, selbstgemachte Würste und Speck von den Hausschlachtungen,
Milch, Schichtkäse und Butter. Manchmal, so hörte man später, soll auch schon einmal ein Ackerwagen voller Torf vor den Lehrerhäusern von Pachmann und Schmolke abgeladen worden sein. Böse Zungen
im Dorf behaupteten sogar, dass so manches plattdeutsche Bauernkind hin und wieder eine Flasche selbstgebrannten Klaren im Tornister mitgeschleppt haben soll, die dann auf ein gewisses
niedersächsisches Geheimzeichen (gekreuzte Finger – wie die gekreuzten Pferdeköpfe an den Giebeln der Niedersachsenhäuser) hin, die Tornister der gekreuzten Finger nach Trinkbarem durchkramten.
Ob die Inhalte der Flaschen dann noch direkt in der Schule konsumiert wurden, blieb den Schülern verborgen, da der Geruch von Bier und Korn neben dem Geruch der abgelassenen Pferdeäpfel überall
auf den Wegen und Kopfsteinpflasterstraßen und dem Duft der riesigen Misthaufen vor den Niedersachsenhäusern ohnehin dominant in der gesamten Dorfluft war. Der Unterricht in der Volksschule wurde
trotz aller Bestechungsvorgänge nach den Richtlinien der Englischen Besatzungsmacht und der neuen Kreisschulbehörde in Achim, später nach der ersten Kreisreform: Verden, durchgeführt. Davon
überzeugten sich regelmäßig die Inspektoren der Besatzungsmacht und der Kreisbehörde. Besonders beeindruckt waren sie immer, wenn Pachmann, Schmolke oder Frollein Koch mit den Kindern aus den
drei Schulräumen der Volksschule heraustraten auf den Schulhof, um direkt vor dem überdimensionalen Kriegerdenkmal, dass zwischen Friedhof und Schule positioniert war, mit den Schülern und
Schülerinnen anschaulichen Geschichtsunterricht durchzuführen. Volksschuldirektor Schmolke ließ antreten, so dass die Kinder in Reih‘ und Glied standen, flankiert von Koch und Pachmann, dem, da
er sein Holzbein immer mindestens 30cm nachziehen musste, ein Stuhl hingestellt wurde, auf dem
er dann auch immer erschöpft Platz nahm, um dem Ritual zu folgen. Die Inspektoren betrachteten den Unterricht von der Friedhofsseite aus, gleich
neben dem Glockenstuhl, in dem eine riesige Glocke hing. Manchmal schaute auch der größte Bauer des gesamten Landkreises von seinem Anwesen aus, das direkt gegenüber der Schule sich
herrschaftlich 400 – 500 Meter erstreckte, der Zeremonie in strammer Haltung zu, denn schließlich war er ja auch der beste Reck- und Bodenturner der Turnabteilung des TSV Gut Heil. Später, so
erfuhr man später, viele Jahre nach Abzug der Besatzungskräfte, sei das Anwesen in ein Heimatmuseum und Dorfgemeinschaftshaus umgewandelt worden. Wohl deshalb, weil der Erbe, mit dem das
1.Nachkriegskind, wir kommen gleich drauf, noch zusammen in die Mittelschule ging, nicht erben wollte oder vielleicht sogar ja enterbt wurde. Näheres wissen wir hier an dieser Stelle leider
nicht. Was berichtet werden kann ist auf jeden Fall die Tatsache, dass Schmolke, nachdem alle ordnungsgemäß angetreten waren, in feierlichem Tone zuerst die in das Kriegerdenkmal eingravierten
Namen der gefallenen Dorfkameraden des 1.Weltkrieges vorlas. Beim 23. oder 24.Namen fingen die ersten Flüchtlings- und Nachkriegskinder an mit den Hufen zu scharren, auch knufften sie sich
gegenseitig mit den Ellenbogen in die Seiten und knickerten vor sich hin. Das 1.Nachkriegskind des Schneidermeisters Herbert Senior und seiner Ostpreußischen Frau, die ja ebenfalls Schneiderin
war, konnte wegen seiner motorischen und psychischen Verhaltensauffälligkeiten, die ihm leider in der Volksschule auch noch nicht abgewöhnt worden waren, dann während des Schmolk‘schen
Kriegerdenkmalnamensregisters des 1.Weltkrieges seine Blase nicht mehr beherrschen, und es versuchte mit mehreren sprachtechnischen Anläufen, bei denen die gedachten Worte sein Sprachzentrum
nicht verlassen wollten, auf diesen körperlichen Sachverhalt aufmerksam zu machen, was letztendlich nicht gelang, so dass ihm wieder einmal vor versammelter Mannschaft die Blase in die mehrmals
von Herbert Senior geänderte kurze Hose und in diese braunen langen Strümpfe, die auch bei den Jungs damals mit Strumpfhaltern getragen werden mussten, überlief. Voller Scham über diesen
körperlichen Sachverhalt, der ja noch verschlimmert war durch die Englische Krankheit und durch die Neigung zur Selbstzerstörung der Fingernägel, wendete sich das 1.Nachkriegskind der
Flüchtlingsschneider von der Kriegerdenkmalzeremonie ab und lief heulend, ohne vorher seinen Tornister zu schnappen, bis nach Breitenmoor, wo es sich so lange in der Nähe des Bauernhauses Henke,
das wiederum eng mit dem Blankehof in Bockhorst verwandt war, versteckte, bis alle Kleidung an seinem Körper wieder getrocknet war. Dann soll das 1.Nachkriegskind des Schneiders Herbert Senior
sich am Dorf vorbei entlang des Mühlengrabens und hinten rum über die Pferdeweiden von Onkel Johann Jäger wieder in die Nähe der Flüchtlingsnotunterkunft begeben haben, ohne gleich hoch zu gehen,
da es wie immer in solchen Nachkriegssituationen einen erheblichen Arschvoll erwartete.
Wie die Volksschulzeremonie am Kriegerdenkmal dann endete, und ob sie den Inspektoren der Englischen Besatzungsmächte und der Schulaufsicht des Kreises gefiel, kann nur vermutet werden: es wird
wohl, wie immer in diesen Zeiten, ein einvernehmliches Ende genommen haben, auch wenn das eine oder andere Flüchtlings- oder Nachkriegskind sich in seinem Verhalten der Würde des Vorgangs nicht
gewachsen genug zeigte. Später ging Pachmann dann mit seinem Holzbein und mit den Jungs der Volksschule wieder auf den Sportplatz des TSV Gut Heil, um ihnen das Fußballspiel zu vermitteln.
Frollein Koch machte mit den Mädchen Haushaltskunde. Manchmal ging sie sogar mit den Mädels in den Saal von Bischoff, der ja gleichzeitig auch Turnhalle des TSV war, um dort die
Puddingvorführungen von Dr. Oetker aus Bielefeld zu verfolgen. Wir sehen schon, welche interessanten Bildungsereignisse die Flüchtlingskinder verpassten, die aus asthmatischen oder anderen
gesundheitlichen Gründen, z.B. Wasserkopp, wie man damals sagte, nicht in die öffentlichen Schulen aufgenommen wurden, da sie ja ohnehin meistens in den Krankenhäusern, in den Anstalten und
Kureinrichtungen anzutreffen waren, wo sie ja auch angemessenen Unterricht erhielten und dabei auch noch das Peddigrohrflechten, das Malen in Öl und das Schachspiel erlernten. Von Inklusion oder
Integration oder gar Partizipation, wie das 60 Jahre später genannt werden will, hatten die Planer der neuen westdeutschen, demokratischen Gesellschaft doch überhaupt keine Ahnung, zumal alle
ethischen Paradigmen, wie man heute so gediegen zu sagen pflegt, aus Amerika in das besiegte Deutschland und den Rest Europas importiert werden sollten. Dazu zählte eben auch, dass diejenigen,
die Pech haben im Leben – egal ob durch Krankheit, Flucht, Vertreibung, Arbeitslosigkeit oder durch den Absturz vom Kastanienbaum- keine Chancen haben in der Amerikanischen Leistungs- und
Ellenbogengesellschaft. Das gilt ja wohl, wie wir heute 60 Jahre später wissen, in Amerika bis heute.
Herbert Junior jedenfalls, dem sowieso egal war, was die Engländer und die Amerikaner mit den Ostpreußen und den Sachsen vorhatten, machte sich verdient um die Einführung des Schachspiels in der
Flüchtlingsfamilie des Schneidermeisters Herbert Senior und seiner Ostpreußischen Frau, die ja ebenfalls Herrenschneiderin war. Irgendwann in diesen Jahren , es mag 57 gewesen sein, vielleicht
auch 58 kurz vor der Fußballweltmeisterschaft in Schweden, kam er von einem 8wöchigen Rehabilitationsaufenthalt von der Insel Föhr zurück mit einem selbstgebastelten Schachbrett und mit 32
selbstgeschnitzten Schachfiguren. Unter der Androhung von körperlichen Repressionen wie Fingerkloppen, Ohrenumdrehen oder Löffelrotzen - Spucke mit dem Teelöffel zielgenau auf die Augen des
Gegenüber schleudern – und anderer heimspezifischer, dem Hospitalismus zuzuordnender Verhaltensmuster, packte er sofort das Schachbrett und die Figuren aus dem Koffer aus und forderte ultimativ
das Nachkriegskind Nr.1, das noch niemals ein Schachbrett gesehen hatte, und das Nachkriegskind Nr.2, das ja immerhin schon einmal im Erziehungslager am Scharmützelsee in der Ostzone den
Generalsekretären des ZK der Jungen Pioniere beim Schachspiel nach sowjetischer Spielweise zuschauen durfte, auf, sofort gegen ihn anzutreten. Die ultimative Aufforderung zum Schachspiel ergänzte
Herbert Junior dann noch mit der sarkastischen Bemerkung, dass die Nachkriegskinder, die ja gar nicht wüssten, was Krieg bedeutet, und er ergänzte, dass Schach Krieg sei, von welchem angelernten
früheren Heimerzieher, der früher bei der SS war, er diese Weisheit auch immer mit von der Insel Föhr aufs Festland der Britischen Besatzungszone mitgebracht haben mag, gegen ihn doch sowieso
keine Chance im Schach hätten. Herbert Senior, der das Nordfriesische Schachwunder Herbert Junior ja von der Insel wieder einmal abgeholt hatte mit seinem grünen Schwerbehindertenausweis /
Angehöriger (freie Fahrt in allen Bussen und Bahnen) , zwinkerte auf seine sächsische Art und Weise den Nachkriegskindern zu, was pädagogisch wohl so viel bedeuten sollte wie: tut ihm doch den
Gefallen. Nun gut, um den Flüchtlingskind nach der 8wöchigen Abwesenheit von zu Hause ein Erfolgserlebnis zu gönnen, stellten sich das Nachkriegskind 1 und das Mitglied der Jungen Pioniere der
Ostzone als Schachopfer zur Verfügung und ließen sich gnadenlos von Herbert Junior, dem Kriegskind und späterem Flüchtlingskind, abschlachten. Beide Begegnungen endeten mit dem Resultat, dass bei
Nachkriegskind 1 alle Figuren bis auf den König abgeräumt waren, und dass bei der Jungen Pionierin neben dem König noch ein Bauer und ein Arbeiter auf dem Brett standen – während Herbert Junior
noch alle 32 Bauern, Arbeiter, Damen, Läufer, Pferde, Türme und den König auf dem Brett hatte. Seinen Triumph krönte er wie immer mit der Bemerkung: „Ihr werdet es wohl nie lernen mich zu
besiegen!“ Und wie immer erfassten ihn dann unvorstellbare asthmatische Anfälle, die das gesamte Flüchtlingsheimgebiet erschütterten, und die manchmal sogar Max Herzfeld, diesen Rächer der
deutschnationalen Rachebewegung anklopfen ließ, um zu fragen, ob er irgendwie helfen könnte!
Im Laufe der Zeit jedenfalls, wenn die Asthmaanfälle des Herbert Junior wider abgeklungen waren, ergriff der Schachergeiz dann auch die Nachkriegskinder 1 + 2 sowie selbst den Schneidermeister Herbert Senior. Auch andere Flüchtlings- und Nachkriegskinder der Siedlung wurden schachinfiziert, so dass es manchmal in der ohnehin beengten Stube der Flüchtlingsnotwohnung ohne fließend Wasser und Klo zu regelrechten Schachturnieren kam, aus denen selbstverständlich immer Herbert Junior als Sieger hervorging. Obwohl alle Teilnehmer sich immer größere Mühe gaben, das Spiel zu verstehen und auch einmal zwischendurch intelligente Züge hinzulegen, konnte Herbert Junior am Ende der Turniere nie darauf verzichten noch einen drauf zusetzen, indem er den Geschlagenen noch mit auf den Weg gab: „Ihr habt doch von Schach keine Ahnung, ihr seid doch alle nur Opfer für mich, ich spiele mit euch ja nur, damit ihr es lernt!“So nahm Herbert Junior seine spielpädagogische Funktion gegenüber den anderen Flüchtlings- und Nachkriegskindern nicht nur im Schachspiel war, sondern dann auch im Skatspiel, im Doppelkopfspiel, im Mensch-ärgere-dich-nicht-Spiel, in Halma, in Dame, in Mühle und natürlich im Murmelspiel. Es gab immer nur einen Sieger, und der hieß Herbert Junior. Selbst die
jungsozialistischen Bestrebungen der Jungen Pionieren, die immer nach dem Motto mitspielte: „Junge Pioniere und Schüler! Lernt besser! Seid bereit für Frieden und Völkerfreundschaft!“, konnte die Siegerstrecke des Herbert Junior nicht gefährden, was manchmal völlig undiszipliniert und unsozialistisch dazu führte, dass die Junge Pionieren die Schachfiguren vom Brett fegte oder beim Skat die Karten durch die Flüchtlingsnotwohnung schmiss. Das 1.Nachkriegskind konterte die überzogenen selbstbeweihräuchernden Siegerposen des Herbert Junior mit den wortakrobatischen Hinweisen darauf – es dauerte mehr als eine Minute bis sie das Sprachzentrum verlassen konnten - , dass er dafür ja im Fußballspiel viel besser sei, und dass Herbert Junior noch nicht einmal hinten im Tor stehen könnte. Woraufhin der angesprochene Nichtsportler dem Sportler kräftig eine schallerte und ihm auch noch mit dem Lineal auf die Finger mit den abgeknabberten Fingernägeln schlug, was besonders weh tat.
Ja, so oder so in etwa verliefen die frühschulischen Bildungswege unserer Flüchtlings- und Nachkriegskinder. Und, welch Wunder, am Ende des 4.Schuljahres bekam Herbert Senior und seine Ostpreußische Frau aus Domnau von Direktor Schmolke die Empfehlung, ihr 1.Nachkriegskind doch auf die Mittelschule nach Achim zu schicken. Er sei, so Schmolke damals, in seiner Entwicklung zwar noch erheblich gestört, was wohl auch mit der Englischen Krankheit zu tun habe, aber wenn man ihm ein wenig mehr Gemüse und Obst und Vitamine verabreichen würde, so Schmolke weiter, dann würde er durchaus die Mittelschule schaffen. Dumm, so Schmolke, sei es ja nicht, das 1.Nachkriegskind, vielleicht ein wenig zu undiszipliniert und zu motorisch, aber das würden sie ihm in der Mittelschule schon abgewöhnen, weil da alles strenger sei. Außerdem seien da jetzt ganz viele junge Nachkriegslehrer tätig, die kurz nach dem Krieg Lehrer studiert hätten, und die jetzt neuen Wind in die Schule bringen. Mit einem gewissen Stolz stimmte Herbert Senior, der selbst ja auch nur Sächsische Volksschule hatte, dem Vorschlag Schmolkes zu und war sichtlich gerührt, dass sein 1.Nachkriegskind nunmehr bald auf die Höhere Schule gehen wird. Herbert Junior, der ebenfalls bei dem Gespräch mit Schmolke dabei war, konnte nicht umhin einzuwerfen, dass er wahrscheinlich in den Rotenburger Anstalten, in die er demnächst eingewiesen werde, Abitur machen werde und danach dann wohl Kunstmalen und Schach studieren werde.
HERBERT 29.10.2012
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Von Pferden. von Kartoffeln, von weiteren Verbrechen, von konspirativen Treffen mit dem Geheimdienst der Deutschen Demokratischen Republik und von den erfolgreichen Erziehungsbemühungen bei Mausi
Die Landwirtschaft in der Britischen Besatzungszone wäre in der Nachkriegszeit ohne die zugewanderten Flüchtlinge und ohne die Pferde gar nicht möglich gewesen. Alles, was krauchen konnte, egal ob 2 Beine, vier Beine, Holzbeine oder Beine mit Schusswunden, musste bei der Wiederinstandsetzung der Niedersächsischen Landwirtschaft mit ran. Selbst die Flüchtlingskinder, die ohne Lungenentzündungen und Asthma noch einmal davon gekommen waren, wurden nicht verschont, obwohl sie mit schweren traumatischen Defekten durch das bäuerliche Niedersachsen wankten. So wurde überhaupt keine Rücksicht darauf genommen, ob sie nun ständig ruckartig den Kopf in den Nacken warfen und nach oben in die Luft guckten, ob sich nicht feindliche Flieger näherten. Auch war es ja nicht so schlimm, wenn der eine oder andere Flüchtlingsjunge oder das eine oder andere Flüchtlingsmädchen ständig etwas Unverständliches vor sich her brabbelte. Die Flüchtlingskinder, die paranoid ständig die Zuflucht in den Armen der Eltern suchten und heulten, wurden aus bauernpädagogischen Gründen zum Beispiel bei der Kartoffelernte der Gruppe der kartoffelaufsuchenden anderen Kinder mit einer Kartoffelreihe zugeordnet, um dort unabhängig von den Eltern soziales Verhalten in der Kindergruppe auf dem Kartoffelacker zu lernen. Alle Kräfte, die irgendwie zu erwischen waren im Umfeld der Flüchtlingsnotunterkunft, wurden mobilisiert. Da am Anfang nach Kriegsende noch keine Landwirtschaftlichen Maschinen zur Verfügung standen – die kamen dann erst später mit dem Deutschen Wirtschaftswunder auf die Höfe- musste das meiste der zu verrichtenden Arbeiten mit Menschenkraft und Pferdekraft gelöst werden. Auch war ja der eine oder der andere Bauer noch nicht aus Sibirien zurückgekehrt, oder er war sogar tapfer „im Felde gefallen“. So ging es dann zur Erntezeit tapfer in die Wümmeniederungen zur Heuernte, fröhlich ins Moor zum Torfstechen, sommerlich gekleidet auf die Kornfelder zum Roggen-, Hafer-oder Gersteschnitt, und später dann in die Kartoffeln und in die Runkeln. Alles Handarbeit. Beim „Kartoffelaufkriegen“, wie die Bauern sagten, die Erwachsenen, welches ja überwiegend die Flüchtlingsfrauen waren, 2 Reihen, die Kinder 1 Reihe auf Knien in der aufgewühlten Erde. Frühmorgens ging es los, am späten Nachmittag, wenn alles geschafft war, ging es zurück auf den Hof. Bei aller Müh‘ und Qual auf dem niedersächsischen Nachkriegsbauernboden – die gemeinsame Arbeit auf dem Acker hatte natürlich auch wunderbare sozialpädagogische Funktionen. Nicht nur für die Kinder, die hier frühzeitig in die bäuerliche Arbeitswelt Einblick gewannen, sondern auch für die erwachsenen Flüchtlingsfrauen und jungen Flüchtlingsmädchen, die hier auf dem Acker die Niederdeutsche Sprache erlernten, die sozialen Hierarchien des Hofes und des Dorfes kennenlernten und Gelegenheit hatten, während der Arbeit alle Dorfgerüchte und Dorfereignisse zu besprechen und zu bekichern. Wer mit wem hintern Erntefestzelt im letzten Jahr, oder wie Max Herzfeld wieder einmal hinten bei den Schweinen in seinem Schuppen schlafen musste, weil Hilda ihn trotz aller deutschnationalen Drohungen nicht rein gelassen hat, oder wie Hannes Strotmann mit seiner Maschine samt Beiwagen aus dem Wassergraben gefischt werden musste, da er wieder einmal die Beherrschung über sein Transportgefährt verloren hatte. Lilo Strotmann, die bei dem Klatsch auf dem Acker dabei war, wiegelte immer ab und hielt zu ihrem Hannes, obwohl sie hin und wieder auch schon mit dem Gesellen und mit anderen Galanen des Dorfes beobachtet worden sein soll. Da sich zu der Zeit die Flüchtlinge und Zugezogenen noch keine Zeitung leisten konnten oder wollten, da sie ja teilweise gar nicht lesen konnten,– das Achimer Kreisblatt lag immer in der Stube des Bauern, in die man selten hineinkam – waren die informellen Gespräche und die Gerüchteküchegerüchte auf dem Acker wunderbar geeignet, das dörfliche Gemeinwesen zu verstehen und zu gestalten.
Besonders beliebt war die Erntezeit bei den von und zu Herrlichmühlens und bei den Jägers und bei den Krohmes und bei den Blankes bei den helfenden Flüchtlinsfrauen und deren Kinder wegen der herrlichen Verpflegung auf dem Felde. Die Omas brachten mit ihren Melkerfahrrädern, oft von weit her, dreimal – zum Frühstück, zu Mittag und zur Kaffeezeit – die schönsten Pausenverpflegungen auf den Acker. Heißer Malzkaffe mit Milch und Zucker in der großen Milchkanne, geschmierte Stullen mit Leberwurst von der letzten Hausschlachtung oder mit Käsescheiben drauf, und Rosinenstuten mit echter Butter drauf, Wickelkuchen und dann dieser buttersaftige Butterkuchen, Butterkuchen , Butterkuchen. Mein Gott, was haben die Flüchtlinge geschlemmt, und das dreimal am Tag. Das entschädigte schon voll und ganz für den spärlichen Lohn, den die Flüchtlinge für ihre Fronarbeit von den Bauern erhielten: 2 Mark die Stunde für die Frauen, 2 Mark für den ganzen Arbeitstag für die Kinder. Naja, wenn die Nachkriegskinder ihre 2 Mark, die täglich ausgezahlt wurden, an die Flüchtlingseltern abgegeben hatten, mussten sie noch zu Schulz Zigaretten und Bier holen für Herbert Senior, der ja wegen seiner Borgwardschichten und der eiligen Aufträge für Krohme und Konsorten nicht mit aufs Feld konnte. Auch Hannes Strotmann war bei der Ernte natürlich nicht dabei. Er hatte ja mit seinen Malerarbeiten zu tun, die in der Regel spätestens um 1 oder 2 bei Bischoff, Schulz oder Segelken endeten. Auch Herbert Junior konnte natürlich nicht bei den staubigen Ernteeinsätzen eingesetzt werden, sehr zum Neidwesen der anderen Flüchtlings- und Nachkriegskinder. Er war zwar meistens , wenn er nicht gerade in den Erholungsheimen und Luftkurorten Westdeutschlands war, mit auf dem Ernteeinsatz – saß dann aber ohne zu arbeiten am Feldrand und hustete, oder malte, oder peddigrohrte, oder zählte seine Murmeln, oder er ging in die angrenzenden Wälder oder auf die Pferdeweiden, um nach essbaren Pilzen für die Flüchtlingsfamilie und nach giftigen für das erste Nachkriegskind zu schauen, das aus diesem Grunde in der Nachkriegszeit keine Pilze aß. Das Flüchtlingskind Herbert Junior gab der arbeitenden Bevölkerung vom Feldrand aus dann auch noch Arbeitsanweisungen, indem er die Frauen aufforderte, nicht so viel über „Ruck-Zuck“ und Stalin zu lamentieren, sondern endlich einmal fertig zu werden mit den zwei Kartoffelreihen, da er nach Hause müsse, um die Koffer zu packen für seine Kurreise nach Bad Reichenhall. Woraufhin Kreidelutzschki, der Adventist aus Amerika und der Erbschleicher bei den von und zu Herrlichmühlen, und der die kartoffelvollen Körbe der Flüchtlingsfrauen auf den Ackerwagen ausschüttete, das lungenkranke Flüchtlingskind auf amerikanisch-schleswig-holsteinisch anschnauzte: „Gott der Herr bestimmt unsere Zeit und nicht du Satan aus der Kalten Heimat“. Woraufhin Herbert Junior dem Kreidelutzschki, der ihm ja gar nichts konnte, weil er nicht mitarbeitete, eine teuflische Gesichtsfratze zeigte, wie sie sie, die Kriegsopfer, in der Lungen-Anstalt in St.Peter-Ording gelernt hatten.
Dann verschwand er in den an das Kartoffelfeld angrenzenden Wald, um nach Pfifferlingen, Ziegenpeter, Birkenpilz und Butterpilz Ausschau zu halten. Besonders der Pfifferling hatte es ihm angetan. Und das schwerkranke Flüchtlingskind war unter all den Einheimischen, Flüchtlingen und Nachkriegskindern auch der einzige Mensch weit und breit, der es beherrschte, zielgerichtet an den Waldrändern die Bäume anzusteuern, die noch ein wenig vom Sonnenlicht abbekamen, um dort an den Füßen der besagten Bäume unter dem herbstlichen Laub die kleinen versteckten Pfifferlinge hervorzuholen
Ohne die Pferde, wie bereits gesagt, hätten alle, egal ob die Niedersachsen, die Ostpreußen, die Sachsen und die Bremer in den besagten Jahren der Britischen Besatzung nicht überlebt. Gut, die Briten selbst, es waren ja meisten keine Engländer, sondern eher Nepalesen, Waliser, Schotten, Kanadier und Helgoländer, überlebten – nicht weil sie Pferde hatten, sondern ihre dreieckigen zusammengeklappten Weißbrote mit irgendetwas dazwischen aßen, von dem bis heute keiner weiß, was es eigentlich war.
Die Pferde waren die eigentlichen armen Schweine der Niedersächsischen Nachkriegszeit. Sie mussten die Karren
aus dem Dreck ziehen! Dabei waren es ja keine Trakehner mehr, die da angespannt wurden vor die schweren überladenen Erntewagen. Die Trakehner, die noch gute Fluchthilfe geleistet hatten für die
Flüchtlingsmütter aus Ostpreußen mit ihrem 43 und 44 geborenem, später lungenkranken Flüchtlingskindern beim eiskalten winterlichen Gang über das brüchige Eis des Kurischen Haffs, waren ja alle
vernichtet. Nur wenige konnten gerettet werden, blieben dann aber in der Nachkriegszeit gegenüber den Hannoveranern, den Holsteinern, den Oldenburgern und den Belgiern unbedeutend. Es wurden ja
auch keine schönen, stolzen Pferde wie die Trakehner, mit denen die Gräfin später im Damensitz bis in die Chefredaktion einer großen Hamburger Nachkriegszeitung ritt, in der Landwirtschaft
benötigt, sondern zugkräftige, pflegeleichte und zuchtgeile Arbeitstiere, die keine Wehrmachtsvergangenheit und auch keine SS-Vergangenheit hatten, und die beim Decken fröhlich wiehern konnten.
So waren die Koppeln und Weiden binnen kürzester Zeit voll mit niedersächsischem und holsteinischem Pferdenachwuchs, was sich dann besonders positiv auf den Pilzbestand in der Niedersächsischen
Tiefebene und auf die Pilzsammelleidenschaft von Herbert Junior und auch von Herbert Senior, der diese Leidenschaft neben vielen anderen Leidenschaften aus Sachsen mit in den Norden brachte,
auswirkte. Kaum, dass ein hannöverischer Nachkriegshengst oder eine oldenburgische Stute einen Ablass auf der Koppel oder auf der Weide niederließen, waren Herbert und Herbert unterwegs, um zu
schauen, ob dort nicht innerhalb kürzester Zeit die schönsten natürlichen Wiesenchampignons das Licht der Welt erblicken wollten. Sie waren ausgestattet mit riesigen Sammelkörben und Eimern,
gingen in aller Hergottsfrühe hinaus in die feuchten Wiesen und Koppeln, wo die Pferde waren, und räumten die Areale der Wiesenpilze ab, um sie dann nicht nur für die Pilzmahlzeiten in der
Flüchtlingsunterkunft nach Hause zu tragen, sondern auch in die feinsten Lokale der Stadt Bremen. In der Herbstzeit gingen sie zusammen in die umliegenden Wälder nach Tüchten und Ueserdicken, um
von dort körbeweise Pfifferlinge, Ziegenpeter, Maronen, Birkenpilze, Butterpilze, Blattknifflinge, den grünen Knollenblätterpilz und den Steinpilz mit ins Flüchtlingsheim zu bringen. Den grünen
Pilz brachte Herbert Junior nur mit, um ihn seinen Nachkriegsgeschwistern 1 – 3 zu
zeigen und damit zu drohen, ihn bei der nächsten Pilzmahlzeit unterzumischen, wenn sie nicht so spuren, wie er das von ihnen erwartete.
Um noch einmal auf die Kartoffelernte zurückzukommen: auch hier geschahen, wie konnte es anders sein, Verbrechen! Das 1.Nackkriegskind wurde zum Beispiel einmal in den 50er Jahren von dem damals noch lebenden Altbauern und Altgutsbesitzer Carl-Adolf von und zu Herrlichmühlen, auch genannt „der Herr von und zu Herrlichmühlen“ zusammen mit dem Flüchtlingskind Günter aus Ost-Berlin, was ja zur Sowjetischen Besatzungszone gehörte, und was ja bis zum Bau der Mauer im Jahre 1961 noch fluchtfrei war, zur Kartoffelnachlese auf den Kartoffelacker neben der Autobahn beordert. Pro Zentner nachgelesene Kartoffeln versprach der Gutsherr den beiden verhaltensgestörten Bengels aus der Flüchtlingsnotunterkunft je 2 Mark. Nun war es leider so, dass der fruchtbare Geeestboden hier oben zwischen Weserniederungen und Wümmeniederungen nicht nur reichlich Frucht und Korn hergab, sondern auch durchdrungen war, schließlich war es erdgeschichtlich gesehen Endmoränengebiet aus der letzten Steinzeit, von vielerlei Kleingestein. So sammelten das 1.Nachkriegskind mit der Englischen Krankheit und dem Sprachversagen und das immer kampfbereite Sowjetzonenflüchtlingskind Günter aus Ost-Berlin, der späteren Hauptstadt der DDR – worauf wir noch zu sprechen kommen -, eifrig die liegengebliebenen Kartoffeln auf dem abgeernteten Acker auf, beförderten die Knollen in die beiden von dem Gutsherrn mitgegebenen Kartoffelsäcke und mussten feststellen, dass die gefundenen Restkartoffeln zusammen wohl noch nicht einmal einen halben Zentner ergeben würden, was im Hinblick auf die zu erwartende Geldzahlung ja wohl ziemlich dürftig sei. Erst einmal kompensierten sie ihren Kartoffelfrust dann mit einem Ringkampf im Dreck des Kartoffelackers, den natürlich Günter, der immer kampfbereite ehemalige Junge Pionier aus Berlin, wie immer gewann. Was Wunder – hatten doch die in der SBZ aufgewachsenen Nachkriegskinder von klein an Kampfunterricht bei den Jungen Pionieren der Freien Deutschen Jugend. Nach dem Kampf und nach dem notdürftigen Abklopfen der Flüchtlingskinderkleidung beschlossen die beiden dann in friedlicher, besatzungszonenübergreifender Einheit ein Verbrechen zu begehen. So sammelten sie, den Blick dabei immer auf den Feldweg gerichtet, ob nicht der Herr selber oder sein Knecht Albert sich näherten, noch körbeweise Endmoränensteine ein, um diese dann mit den spärlichen Kartoffeln zu mischen, und um somit das Gewicht der Säcke und somit auch die zu erwartende Lohnzahlung positiv zu qualifizieren. Sie gingen davon aus, dass der Bauer den Betrug ja sicher nicht merken würde, da er wie immer wohl einfach nur wiegen wird und dann die Säcke zu den anderen Kartoffelsäcken stellen wird, um sie am nächsten Tag in Bremen-Sebaldsbrück von Haustür zu Haustür zu verkaufen. Jedoch – das Verbrechen flog auf, nachdem gewogen wurde und auch je 2,50 Mark an die Missetäter ausgezahlt waren. Dem Knecht Albert, der weder lesen noch schreiben konnte, und der auch nicht im Krieg war wegen Dummheit, fiel beim Verladen einer der nachgelesenen Säcke auf die Füße, wobei sein rechter großer Zeh wohl fast von einem Endmoränenstein, der nach ganz unten in den Kartoffelsack gerutscht war, zerquetscht worden wäre. Er schrie, wie eines der Schweine hinten bei den Klos, worauf der Gutsherr samt Schwiegersohn Kreidelutzschki sofort aus dem Gutshaus herauskamen, um nach den Ursachen des Schreies zu forschen. So nahm die Verbrechensaufklärung ihren Lauf. Von und zu Herrlichmühlen und Kreidelutzschki leerten die nachgelesenen Kartoffelsäcke der Übeltäter und sortierten nach Kartoffeln und nach Steinen. Dabei stellte sich dann heraus, dass der Steinhaufen doppelt so groß war wie der Kartoffelhaufen. Woraufhin Carl-Adolf von und zu Herrlichmühlen mit hochrotem Kopf über den ganzen Hof hinweg in Richtung Flüchtlingsnotunterkunft ohne Klo und fließend Wasser schrie: „Kommt heraus ihr Verbrecher, ihr Lumpengesindel, ihr Betrüger. Wäret ihr nur in eurer verfluchten Kalten Heimat geblieben Vaterlandsverräter. Wie der Herr, so das Gescherr….“ Und es folgten noch weitere Flüche, bis auch Tante Hanni, die Tochter des Gutsherrn, die aus Amerika zurückgekommen ist, auf dem Hof erschien und die beiden Verbrecher samt ihrer Väter vor der inzwischen versammelten gesamten Flüchtingsnotunterkunftgemeinschaft antreten ließ, um sie zur Rechenschaft zu ziehen. Die strafunmündigen Bengel schauten beide verschämt auf den Boden des Hofes, der mit hunderten von Endmoränensteinen ausgepflastert war, und ließen die Maßregelungen von Tante Hanni, Fritz Kreidelutzschki und Carl-Adolf von und zu Herrlichmühlen unter Tränen über sich ergehen. Sie brachten kein Wort hervor, als sie die Frage beantworten sollten, weshalb sie diese Untat begangen haben. Das 1.Nachkriegskind aus den bekannten sprachtechnischen Gründen sowieso nicht, und Günter der ehemalige Junge Pionier druckste nur tränenerstickt irgendwelche unverständlichen sozialistischen Sprechblasen hervor. „Ich bin nicht aus Amerika nach Deutschland zurückgekehrt, um mir neue deutsche Verbrechen gefallen zu lassen. Wir wollen doch, dass ihr Deutschen endlich besser werdet, und nun dieses hier...!“ An die Väter, Herbert Senior und Fritz aus Ost-Berlin, gerichtet, forderte sie zur sofortigen Rückgabe des Betrugsgeldes auf. Dabei wusste sie natürlich, dass die Kinder das Geld sofort haben an die Eltern abgeben müssen. Und nicht nur das. Sie forderte die Väter auf, das 1.Nachkriegskind und das ehemalige Mitglied der Jungen Pioniere durch eine ordentliche Tracht Prügel zu disziplinieren. Was dann ja auch wieder einmal in schrecklicher Weise passierte. Wobei Herbert Junior, der weder an der Kartoffelnachlese beteiligt war und auch nicht an dem Verbrechen, und der niemals väterliche Schläge bekam, obwohl er der größte Missetäter im ganzen Umkreis war, schadenfreudig feixte: „Kartoffelschweine, Kartoffelschweine…“
Das 2.Nachkriegskind, von allen nur Mausi genannt, und das beim Fußballspielen auf der Kuhweide immer zwischen den Jungs hin und her lief oder aber ins Tor gestellt wurde, musste weder eine Reihe Kartoffeln auskriegen, noch an den Verbrechen der Jungs teilnehmen, und schon gar nicht zu Schulz laufen, um Bier und Zigaretten für Herbert Senior zu holen. Sie stieg auch nicht auf den Kastanienbaum bis hoch in die Spitze wie das 1.Nachkriegskind, sondern sie blieb lieber unten in der ersten Astgabel des Baumes sitzen. Meistens hatte sie eine riesige von der Ostpreußischen Mutter, die ja eigentlich auch Schneiderin war, selbstgemachte Puppe aus alten Lumpen und Holzwolle dabei, die sie sommers wie winters durch Dreck und Schnee zog, um sie danach mit in das Familienbett zu nehmen. Gut, Herbert Junior nahm sie manchmal mit in die Pilze oder zeigte ihr, wie ein Bild mit Ölfarbe zu malen ist, aber sonst konnte sie sich dem abenteuerlichen Leben der Flüchtlingsjungs und der Nachkriegsjungs nicht so recht anpassen. Gut, die Ostpreußische Mutter nahm sie mit zu Keule, Reifen, Ball und Band in den Saal von Bischoff, der ja bekanntlichermaßen auch gleichzeitig die Turnhalle war. Auch brachte die Mutter dem Nachkriegskind Nr.2 auch wohl einige Lieder des Bund Deutscher Mädchen bei, aber so richtig pädagogisch wollte es mit der Erziehung des 2.Nachkriegskindes, das von allen Mausi genannt wurde, nicht so richtig klappen. Das war alles nicht so richtig amerikanisch, wie Tante Hanni, die als Adventistin zurückgekehrte Gutserbin immer sagte. Auch war es nicht so richtig britisch, da sie weder die Englische Krankheit hatte noch mit zu den Tommys auf den Dorfplatz vor Bischoff genommen wurde, wenn diese ihre dreieckigen Weißbrote verdrückten und den umstehenden Flüchtlings- und Nachkriegsjungs manchmal aus humanitären Gründen eines oder zwei von den Dingern abgaben. Stutzke, der eigensinnige Mittelstürmer der Schülermannschaft, rief einmal verzückt bis entsetzt, als er ein dreieckiges englisches Brot erwischte: „Es ist süß, aber auch ein bisschen bitter, schmeckt lecker, nee furchtbar“. Dann spuckte er vom Ekel gepackt, vor den Engländern so etwas wie Apfelschale aus, oder war es Fischgräte, oder vielleicht sogar Eierschale? Auf jeden Fall nahmen nach diesem Vorfall die Flüchtlingskinder und die Nachkriegskinder, sagen wir ab jetzt verallgemeinernd: die Englischen Besatzungskinder, Abstand von der Annahme der Besatzerbrote, es sei denn, sie kamen völlig ausgehungert, weil es seit Tagen nichts zu essen gab in den Flüchtlingsnotunterkünften, auf den Dorfplatz zum Englischen Lager.
All‘ dies‘ jedenfalls, bekam das Englische Besatzungskind Mausi gar nicht mit, da es an den Erziehungsprozessen der Englischen Besatzungsjungs ja gar nicht beteiligt war, sondern eher unerzogen ihre überdimensionale Lumpenpuppe durch die Wasserpfützen zog. Das konnte, so Herbert Senior, dem ja eine liebevolle und manchmal sogar handgreifliche Fürsorge für seine Englischen Besatzungskinder nicht abzusprechen ist, so nicht weitergehen. Es müsse etwas geschehen mit Mausi, damit sie nicht so werde wie das 1.Nachkriegskind, besonders im Hinblick auf die Verhaltensstörungen und auf die wohl unheilbaren Sprachlichen Behinderungen. Zum Glück kam in dem Moment dieses Gedankens von Herbert Senior bezüglich der Erziehung von Mause einmal wieder der Neffe Reinhart aus Sachsen mit heruntergezogenem Hut an die Haustür, ohne die Flüchtlingsnotunterkunftwohnung zu betreten. Er könne die Wohnung nicht betreten, so soll er immer gesagt haben, da er im staatlichen Auftrag unterwegs sei und er sich nur einmal kurz nach dem Wohlergehen des Onkels und seiner Familie erkundigen wollte. Wie sich Jahre später herausstellte, konnte Hildchen, die Schwester von Herbert Senior und Mutter des besagten Reinhart mit t hinten und dem heruntergezogenen Hut, frei in den unterschiedlichen Besatzungszonen hin und her reisen, da sie ja bereits Rentnerin war, und da die Sowjetische Besatzungszone und die Deutsche Demokratische Republik ein großes Interesse daran hatten, dass die reisenden Rentner nicht in die Sozialistische Volksgemeinschaft zurückkehrten, da sie ja ohnehin nur unproduktiv dem Neuen Staat Geld kosten würden. So freute sich die SBZ-Regierung auch über jeden rentenmäßig Verstorbenen in den Zügen zwischen Marienborn und Helmstedt, so wie es dem Mann von Hildchen ergangen ist. Reinhart dagegen, der Sohn, war von Anfang an in den Aufbau des Sozialismus involviert als verantwortlicher Parteikader und Reisekader, und er durfte zu seinen imperialistisch, kapitalistischen Verwandten in den Westzonen keinerlei Kontakt pflegen, obwohl er als VEB-Betriebsleiter (Uhren) regelmäßig auf den Industriemessen im westlichen Feindesland anzutreffen war, um seinem Führungsoffizier in der Hauptstadt der DDR danach darüber zu berichten. Herbert Senior berichtete dem DDR-Reisekader, welcher ja sein Neffe war, von den Erziehungsdefiziten seines 2.Nachkriegskindes, genannt Mausi. Woraufhin der Neffe aus der Ostzone spontan ohne mit der Wimper zu zucken, was man ja bei der heruntergezogenen Hutkrempe auch gar nicht richtig sehen konnte, gesagt haben soll: „Nu, das regel ich. Schickt sie uns rüber ins Sommerlager der Jungen Pioniere der Freien Deutschen Jugend an den Scharmützelsee bei Berlin. Da kriegen wir sie hin. Sie kann da 6 Wochen bleiben, danach isse dann auf Linie, nu!“ Dann erkundigte sich der Neffe noch bei dem Onkel, ob alle genug zum Essen hätten und ob auch sonst alles einwandfrei sei. Wenn nicht, so soll er angeboten haben, würde er dafür sorgen, dass zu Ostern und zu Weihnachten Pakete rübergeschickt würden mit DDR-Spezialitäten wie Dresdner Stollen, Bananen und Eierschecken. Herbert Senior bedankte sich bei dem Gast an der Tür, von dem die Besatzungskinder nur diffuse Schatten im Treppenhaus sahen, und soll nach dem Schließen der Tür auf Sächsisch gesagt haben: „Nu, der Reinhart, ein lieber Junge, aus dem ist was geworden!“ Dann soll er sich eine Juno angesteckt haben, soll dann noch die Besatzungskinder in die Betten geschickt haben, soll seine Frau, die Ostpreußische Schneiderin, ermahnt haben, nicht mit Max Herzfeld zu sprechen, um sich dann für mehrere Stunden, vielleicht waren es auch Tage, zu Bischoff, Schulz und Segelken zu verabschieden. Ob er sich dort noch konspirativ mit seinem Neffen aus Sachsen getroffen hat, bleibt bis heute ungeklärt. Auf jeden Fall war es so, dass dann eines Tages in den Sommerferien auf dem Hof des Gutes der von und zu Herrlichmühlen ein Sammeltransporter der SDAJ, der Sozialistischen Deutschen Arbeiterjugend, einer westlichen Ablegerorganisation der Freien Deutschen Jugend der Sowjetischen Besatzungszone, zum Erstaunen von Strotmann, Frau Hoppe, Lilo und Tante Hanni, die sich gerade auf dem Hof befanden, einfand, um Mausi kostenlos in das sozialistische Ferienlager an den Scharmützelsee bei Berlin-Ost abzuholen. Im Bus selbst wurde bereits das Lied vom kleinen Trompeter gesungen, während Mausi mit ihrem Koffer sich noch einmal zu allen westlichen Besatzungskindern und allen Einheimischen und allen westlichen Eltern umdrehte, um ein letztes Mal zu rufen: „Ihr seid doch alle blöd und tragt alle keinerlei Verantwortung für den Weltfrieden!“ Woher sie diesen Satz kannte, weiß man bis heute nicht so genau. Es wird vermutet, dass Stalin, der Mittelstürmer des TSV Gut Heil, in Wahrheit bezahlter, verkappter Agent der FDJ war und den Auftrag hatte, westliche Besatzungskinder für die Jungen Pioniere und für die FDJ zu rekrutieren. Wie anders wäre dann zu erklären, dass Reinhart und er, Stalin, an dem Abend nach Reinharts Besuch bei Herbert Senior in der Flüchtlingsnotunterkunft noch gemeinsam dabei beobachtet wurden, wie sie hinter dem Saal von Bischoff im Dunklen Geldscheine austauschten. Wahrscheinlich, so vermutet man bis heute, Ostmark oder Rubel. Für Mausi jedenfalls, um darauf zurückkommen zu dürfen, war das damals in den 50er Jahren der Beginn einer großen sozialistischen Karriere, die sie dann später nicht nur an den Scharmützelsee in der Nähe von Berlin führte, sondern auch nach Moskau, nach Berlin-Pankow, nach Cuba und in eigentlich alle sozialistischen Bruderländer. Das alles hat sie ihrem Vater, Herbert Senior, zu verdanken, der wie immer weitsichtig die Karrieren seiner Abkömmlinge, dieser Flüchtlings- und Nachkriegskinder, plante. Nur bei einem hat er sich verplant: bei dem 1.Nachkriegskind. Das sollte später unbedingt Beamter werden mit all seinen psychischen und sprachlichen und englischen Störungen. Das ist, wie wir heute wissen, voll in die mehrmals geänderte Hose gegangen.
HERBERT 19.10.12
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Wie Stalin zum Held des gesamten Dorfes wurde, und wie das Nachkriegskind Nr.1 beinahe das Osterfeuer schon einige Tage vor Ostern entfacht hätte, und wie „Ruck-Zuck“, der Malergeselle, vor den Augen der Dorfjugend Lilo, der Frau des Malermeisters, hinter dem Erntefestzelt an die Wäsche ging , und wie Herbert Juniors Radevormwalder Peddigrohrtabletts bald jeden Haushalt in der Flüchtlingssiedlung zierten
Nun gut, die Nachkriegszeit schritt voran. Allmählich stellte sich wieder Ordnung her. Immer noch trafen in der Siedlung so genannte Spätheimkehrer ein. Sie kamen aus Sibirien, aus England, Frankreich und sogar aus Amerika, wo sie in Gefangenschaft waren – aus welchen Gründen auch immer - zurück „in die Heimat“.
Im Radio hörten sich Herbert Senior und Herbert Junior regelmäßig stundenlang den Suchdienst des Roten Kreuzes an. Ob wohl jemand dabei ist, den man kennt? Vielleicht irgendein Sachse, irgendein Radebeuler, der auf der Liste steht?
Im Dorf kursierten Namen von Bauern und Bauernsöhnen, die wohl im Felde geblieben sind, und denen – Jahre später – vom Kyffhäuserbund ein Ehrenmal gesetzt wurde, an dem einmal im Jahr dann von kyffhäuseruniformierten Veteranen mit Fahnen und Standarten geschmückt das Lied: „Ich hat‘ einen Kameraden…“ mit Unterstützung der einheimischen Blasmusik gesungen wurde. Anschließend, nach der Blasmusik, ging es dann immer, wie gehabt, zu Bischoff, Schulz oder Segelken, um den gefallenen Kameraden in angemessener flüssiger Form zu gedenken. Auch Max Herzfeld und Heinrich Strotmann, die Nachbarn von Herbert Senior und Hilda, der Schneiderin aus Domnau, und ihrer Flüchtlings- und Nachkriegsfamilie, waren bei den Uniformierten. Wobei Max Herzfeld sich auch hier nicht zusammenreißen konnte und in gewissen Intervallen synchron zum Takt der Bier- und-Korn-Runden, die den Tresen einschlämmten, sein inzwischen berüchtigtes „Hilda, einst kommt der Tage der Rache“ in die Lokalrunde schmetterte.
Herbert Senior war an diesen Aufmärschen nicht beteiligt. Genau so wenig wie die anderen Sozialdemokraten des Dorfes, die inzwischen einen Ortsverein gegründet hatten. Sehr zum Leidwesen der einheimischen Kyffhäuser- und Bauernverbandsrepräsentanten, die die Sozis als Vaterlandsverräter und Kommunisten beschimpften, und die die Auftragslage für Herbert Senior als Schneidermeister wohl aus diesem sozialdemokratischen Grunde erheblich schrumpfen ließ, weil sie jetzt wieder zu Brunkhorst, dem alteingesessenen Schneider gingen, der zwar teurer, aber einheimischer und nationaltreuer war. Von Eleganz und ästhetischer Schneiderei, wie sie Herbert Senior in der damaligen Kulturmetropole Dresden gelernt hatte, war Brunkhorst weit entfernt, da er ja überwiegend übergroße Bauernanzüge und grüne Jagdbekleidung zu arbeiten hatte. Auch soll er, das war Gesprächsstoff später am Tresen von Bischoff, Schulz und Segelken, in der Kriegszeit, und auch schon davor seit 33, Uniformen für die SS geschneidert haben – was als Gerücht allerdings dann nicht mehr belegbar war, da ja alle ihre Uniformen abgelegt, verbrannt oder vergraben hatten. Ihre Gesinnung allerdings konnten sie nicht vergraben. Die kam immer besonders gerne am Tresen bei Bischoff, Schulz oder Segelken zum Ausdruck, wobei der berühmte Ausruf von Max Herzfeld mit dem Tag der Rache ja noch harmlos war. Wenn die Nachkriegskinder, die ja häufig – was heißt hier häufig – sagen wir einmal: regelmäßig mitgenommen wurden oder von der Ostpreußischen Mutter hingeschickt wurden zum Abholen des Vaters- nicht in der Nähe waren, dann wurden auch schon einmal die alten Lieder angestimmt. Ob der sozialdemokratische Herbert Senior hier mit trällerte, kann nicht hundertprozentig behauptet werden. Zu vermuten ist, dass er eher aus betriebswirtschaftlichen Gründen im Hinblick auf die Akquisition von Arbeitsaufträgen das bäuerlich nationale, wenn nicht nationalsozialistische Liedgut über sich ergehen ließ.
Derweil die Besatzungsmächte, in diesem Falle die Engländer, genannt Tommys, wieder einmal auf dem Dorfplatz kurz vor Bischoff ihr Quartier aufgeschlagen hatten in Form so einer Art Jeep-Wagenburg, und wie immer am Verdrücken ihrer dreieckigen weißen Sandwichscheiben mit irgendetwas dazwischen waren, wuchsen die Kinder heran und wussten eigentlich immer, wo die Väter zu finden waren, wenn sie nicht gerade in Achim in Untersuchungshaft saßen wegen des Verdachtes des versuchten Totschlages. Das beruhigte ungemein, und die Flüchtlingskinder und die
Nachkriegskinder konnten ohne Aufsicht ihren eigenen Interessen nachgehen. So butscherten die Nachkriegskinder an den Nachmittagen nach der Volksschule, in die sie ja inzwischen aus Gründen der Allgemeinen Schulpflicht auch gehen mussten, ohne Aufsicht und Kontrolle auf dem Flüchtlingsheimgelände und der weiterer Umgebung herum. Das Flüchtlingskind Herbert Junior konnte meistens nicht mit, weil es dem Tempo der Hin- und Herlauferei der Nachkriegskinder einfach aus atemtechnischen, asthmatischen Gründen nicht gewachsen war. Auch konnte er nicht mit auf die Bäume steigen, oder gar auf der dicken Teppichklopfstange zwischen Buche und Eiche hinten bei den Schweinen mit den Nachkriegskindern balancieren oder den Aufschwung und das Schweinebaumeln spielen.
Dafür war er, Herbert Junior, das Flüchtlingskind, erheblich besser im Herstellen von Peddigrohrtabletts und im Malen und Zeichnen. Die Nachkriegskinder bewunderten ihn für seine Fingerfertigkeiten, wenn sie nicht gerade ausarteten in Murmelsackschlagen und Zwilleschießen. Mit der selbstgeschnitzten überdimensionalen Zwille schoss er nicht etwa auf die grasenden Kühe oder Pferde auf den gegenüberliegenden Weiden von Onkel Johann Jäger, oder auf die Schweine in der Suhle von Herrlichmühlen – nein, er schoss damit auf die Nachkriegskinder, so als seien sie Russen oder Indianer. Und er schoss nicht etwa mit Papierkrampen, sondern mit kleinen Kieselsteinen, die hier überall auf der Geest an den Feldrändern zu finden waren. Er schoss, das muss man ihm zugutehalten, nicht auf die Nachkriegskinderköpfe, sondern nur auf die Beine. Wobei es natürlich dabei zu Unfällen kam. Einmal musste Fredi, der Sohn der Spargeldiebfamilie, ambulant vom Notarzt, der nach 7 Stunden kam, behandelt werden, da Herbert Junior ihn mit der Zwille knapp neben dem linken Auge getroffen hatte. Das wäre was gewesen, wenn Herbert Junior getroffen hätte, dann wäre nämlich Fredis zweites Auge auch weg gewesen, da sein rechtes von Geburt an irgendwie nicht gucken wollte. Er trug eine dicke überdimensionale Brille, die er wohl gerade in dem Moment des Zwillenschusses des asthmakranken Flüchtlingskindes Herbert Junior abgenommen hatte.
Wie auch immer – wenn Herbert Junior nicht gerade auf Kur verschickt war, oder hustete, oder mit Murmelsäcken um sich schlug, oder mit der Zwille auf den sehbehinderten Sohn des Spargeldiebes schoss, dann war er künstlerisch, wie die Eltern, Herbert Senior aus Sachsen und die Ostpreußische Mutter, es nannten, tätig. Er malte schöne Stillleben und Landschaftsbilder in Tusche und Öl, auch konnte er aquarellieren, ruck zuck war ein Bild auf dem Block fertig. Auch war er sehr gut in Laubsägearbeiten, bei denen die Nachkriegskinder 1 – 3 sich sehr schwer taten, als sie von Herbert Senior und der Ostpreußischen Mutter immer zu Weihnachten aufgefordert wurden, doch bitte für die Tante in der Ostzone und für die Tanten im Ruhrgebiet und in England auch etwas auszusägen. Natürlich bekamen sie Arschvoll, als es nicht klappte mit den Sägearbeiten. Das Nachkriegskind 1 musste einmal kurz vor Weihnachten irgendwann in den 50er Jahren zur Strafe wegen der Zerstörung einer Laubsägearbeit, die für England bestimmt sein sollte, für einen ganzen Nachmittag in den Kohlenverschlag, der abseitig unter der Dachflüchtlingsnotunterkunftswohnung noch mehr unter dem Dach verborgen war. Hier lagerten in der Regel Eierkohlen und Briketts aus dem Ruhrgebiet für den einzigen Ofen der gesamten „Wohnung“. Und besonders dann, wenn es mit der Kohle knapp war, dann war genügend Platz in dem Verschlag, um dort die Nachkriegskinder stundenweise einzusperren. Das Flüchtlingsjunge Herbert Junior war dort nie anzutreffen, obwohl er der größte Missetäter des ganzen Landkreises Verden war. Wäre er dort bei den Kohlen, von denen niemand genau wusste, ob sie am Sagehorner Bahnhof von den Kohlezügen geklaut wurden, oder ob sie legal bei Karpinsky im Dorf erstanden wurden auf Anschreiben oder gegen das Versprechen eines neuen Anzuges , - wäre er also dort bei den Kohlen eingesperrt worden, wäre das einem Todesurteil gleichgekommen. Heute wissen wir, dass diese Kohlenmonoxyde und sonstigen Kohlenstoffe, die in der Flüchtlingswohnung aus dem Ofen krochen, wohl nicht gerade zur Verbesserung des Gesundheitszustandes des Flüchtlingskindes Herbert beigetragen haben. Kurz vor seinem Tode im Jahre 1963, wir kommen später wieder darauf zurück, hatte er gerade noch, wenn überhaupt, eine Viertel Lunge. Stattdessen hatte er 100% künstlerisches und handwerkliches Talent, das, dem Versorgungsamt, dem Reichsbund und der Gemeinde sei Dank, er in den diversen Kur- und Heilanstalten erlernen und kultivieren konnte. Jedes Mal kam er mit neuen künstlerischen und handwerklichen Techniken und Fähigkeiten nach Hause, die er natürlich sofort den künstlerisch vernachlässigten Nachkriegskindern stolz vorführen musste. Nun muss man nicht glauben, dass diese Vorführungen zu deren Bildung beigetragen hätten. Im Gegenteil: deren Minderwertigkeitsverhaltensweisen wurden dadurch nur noch gestärkt. Die Vorführungen verstärkten die Englischen Krankheiten und sonstigen psychischen und körperlichen Beeinträchtigungen der Nachkriegskinder. So musste das 1.Nachkriegskind z.B. nach Bremen zum Orthopäden, der ihm unter Qualen ein Gipsbett anfertigte, in dem es 4 Wochen ohne Bewegung und ohne Verpflegung liegen musste, damit sich die Knochenverformungen des Brustkorbes endlich zurückvergipsten. Auch, so kann rückblickend reflektiert werden, haben die Wunderkindvorführungen des Flüchtlingskindes Herbert Junior in keiner Weise zur logopädischen,
wie man heute sagt, also: zur sprachlichen Förderung des 1.Nachkriegskindes beigetragen, oder etwa zur Abstellung der Verhaltensstörungen.
Besonderen Neid und besondere Missgunst erzeugte Herbert Junior bei den anderen Kindern, nicht nur der Familie, sondern des gesamten Dorfes, wenn er seine unwahrscheinlichen, noch nie gesehenen Peddigrohrtablettherstellungsvorstellungen zeigte. Sperrholzbrett, Peddigrohrruten, buntes DC-Fix-Aufklebepapier, Handbohrer, Feile, Lack. Und schon ging’s los. Innerhalb weniger Stunden fertigte Herbert Junior Tabletts en masse an, die er dann in der gesamten Siedlung an die Familien verteilte. Die Nachkriegskinder staunten am Anfang, später schauten sie gar nicht mehr zu und beschäftigten sich stattdessen mit Unsinn hinten am Misthaufen bei den Schweinen, mit Schweinebaumeln auf der Teppichstange, oder mit dem Erklimmen der Hofkastanie, in der sie dann stundenlang ganz oben in der Krone saßen und wie die Barone in den Bäumen von oben beobachteten, wie Hannes Strotmann mit seiner Horex mit Beiwagen total besoffen die B75 entlang kam, wie der Spargeldieb sich mit dicken Taschen ins Haus schlich, und wie Max Herzfeld im Schuppen nach der Axt suchte, um wieder einmal vor der von Hilda verbarrikadierten Haustür seine bekannten Schmährufe loszuwerden – wobei ihm, das war nun wahrlich genau zu beobachten, einmal sogar die Blase direkt unterhalb der Hofkastanie in die Manchesterhose überlief. Er wunderte sich sogar noch über die reifen Kastanien, die von oben auf seinen besoffenen Kopf flogen.
Bald schon in den 50er Jahren, spätestens aber nach dem Gewinn der Weltmeisterschaft 1954 in der Schweiz, begann in den Westzonen in allen Lebensbereichen die große Fussballeuphorie. Die Nachkriegskinder spielten jetzt sogar regelmäßig als Volksschulunterrichtsfach auf dem Vereinssportplatz Fußball. Das lag an Herrn Pachmann, der ein Holzbein mitbrachte aus dem Krieg, und der als Lehrer aus der Ostzone jetzt neu an die Dorfschule kam. Er kam wohl aus Leipzig
und soll dort früher vor dem Krieg, wie wir später erfuhren, Spieler des Vereins VfB Leipzig gewesen sein. Die
sowjetischen Besatzungsmächte der Ostzone verfügten dann wohl nach dem Kriege die Umbenennung der bürgerlichen Fußballvereine, so dass der VfB dann zuerst „BSG Einheit Ost“ und später „Lokomotive
Leipzig“ genannt wurde. Von dort kam er also mit seinem Holzbein, das er immer mindestens 30cm nachziehen musste. Und da er den Nachkriegskindern ja nicht den ganzen Schultag über Rechnen und
Sozialistische Volkskunde beibringen konnte, ging er mit den Schülern regelmäßig auf den Sportplatz zum Fußballspielen. Die Mädchen kamen natürlich nicht mit. Sie blieben in der Schule bei
Frollein Koch und strickten und häkelten. Auch nach der Schule und nach einem schönen Mittagessen bei der Ostpreußischen Mutter, die aus Nichts wunderbare Sachen kochen konnte, ging es sofort
runter zum Bolzen, entweder auf die Wiese vor der Schweinesuhle oder rüber auf Krohme‘s Kuhweide, egal, ob Kühe drauf standen oder nicht. So spielten sie also nach dem Genuss von Steckrübensuppe,
Plum und Klütschen, ostpreußischen Kartoffelflinsen mit Apfelmus drauf, Knipp von der letzten Schlachtung des von und zu Herrlichmühlen oder Milchreis mit Zucker und Zimt zwischen den frischen
oder verkrusteten Kuhfladen barfuß mit irgendwelchen alten Pillen den ganzen Nachmittag lang bis zum Dunkelwerden, wenn Herbert Senior von der Borgwardschicht nach Hause kam oder nicht, Fußball
bis die Knie grün waren und an den Füßen Kuhscheiße haftete. Alle Jungs der Siedlung und der Flüchtlingsnotunterkunft spielten mit. Die Mädchen durften nicht mitspielen, da es ihre Mütter
verboten hatten. Sie sollten lieber mit den Puppen spielen oder häkeln oder stricken. Bis auf das Nachkriegskind Nr. 2. Das durfte mitspielen. Dabei nervte das Nachkriegskind Nr. 2 die Jungs,
weil es immerzu heulte, wenn es den Ball nicht bekam. Dann schlug das Kind, ruppte und benahm sich unsportlich. So stellten die Jungs sie manchmal ins Tor, egal, ob sie halten wollte, oder nicht.
Hauptsache sie lief nicht auf dem Feld herum und heulte. Wenn Krohme zum Melken kam, mussten sie schnell verschwinden, sonst gab es Anschnauze. Sie wechselten dann rüber auf die kleine
Wiesenfläche vor der Schweinesuhle. Wobei Tante Hanni, die Tochter von Herrlichmühlen, die inzwischen aus Amerika zurückgekehrt war auf den Hof ihrer Eltern, um diesen später zu übernehmen
zusammen mit Fritz Kreidelutzschki, einem Bauern, den sie in Amerika bei den Adventisten kennengelernt hatte, und weshalb auf dem Hof dann später am Samstag nicht gearbeitet wurde, dafür aber am
Sonntag, - wobei Tante Hanni den Kindern , wie gesagt, mit ihrem amerikanischen Unterdialekt zurief: „ Erschreckt bitte die Schweine nicht, das sind auch nur Deutsche!“
Später kam Bobbi, ein amerikanischer junger Verwandter, ca. 16 years old, von Tante Hanni aus Portland / Washington zu Besuch in die Nachkriegssiedlung. Er trug immer nur weiße Shirts, putzte
sich ständig, was die Flüchtlingskinder und die Nachkriegskinder gar nicht kannten, die Zähne – auch draußen beim Spielen – und er hatte von Fußball überhaupt keine Ahnung, da er den Ball ständig
in die Hand nahm und damit wegrannte. Alle waren froh, als er wieder zurück musste nach Amerika.
Pachmann hatte inzwischen auch den Dorf-Sportverein übernommen. Der TSV Gut Heil, der bisher ein traditioneller Turn-Vater-Jahn Turnverein war, wollte nun nach der Fußball-WM 1954 dem Fußballsport mehr Gewicht geben. Sehr zum Leidwesen der alteingesessenen Turner und Turnerinnen des Vereins, zu denen nicht nur die einheimischen Männer zählten, sondern inzwischen auch viele Zugewanderte. Zu denen gehörte auch die Ostpreußische Mutter des Flüchtlingskindes Herbert Junior und der drei Nachkriegskinder, die wunderbar im Frauenturnen war. Reifen, Gymnastikball, Keule und Gymnastikband beherrschte sie aus dem ff. Kein Wunder, hatte sie doch beim Bund Deutscher Mädchen als Jahrgang 22 all‘ diese sportlichen Fähigkeiten eintrainieren können. Und nicht nur das: wie sich Jahre später herausstellte: war sie doch Kompanieführerin beim BDM, worüber sie allerdings den Kindern gegenüber nie sprach, da sie ja ohnehin nicht verstanden hätten, was BDM ist. Die Turner des TSV Gut Heil übten regelmäßig im Saal von Bischoff, der gleichzeitig Turnhalle, Dr. Oetker-Pudding-Vorführsaal, Tanzsaal mit Tresen und Theaterraum war. Theater spielte die Ostpreußische Mutter auch gerne mit, da sie ja Platt beherrschte, wenn es auch nicht dieses niedersächsische Bauernplatt war, sondern das viel feinere Ostpreußische Platt. Wie auch immer, Ostpreußisches Platt hin, Bauernplatt her, die Turnerei und die Turnerbälle im Saal von Bischoff, die meist bös‘ endeten, gingen weiter. Auch spielten die Herren Turner eifrig ihr Lieblingsspiel Faustball, bei dem sie immer so richtig auf diesen schweren dicken Lederball eindreschen konnten, weiter. Dafür hatten sie einmal in der Woche am Abend den Sportplatz des TSV zur Verfügung. Einmal wurde die Mannschaft des TSV sogar Kreisvizemeister, was 5 Tage abwechselnd bei Bischoff, Schulz und Segelken gefeiert wurde.
Herbert Senior spielte auch hier nicht mit, da seine sächsische Sozialisation eher unsportlich verlief. Er widmete sich musikalisch seiner Feischelan, er war im Sächsischen eher in den Kneipen des Sächsischen Berglandes und in den Wohnungen verschiedener Sächsischer Damen anzutreffen, als auf den Sportplätzen. Gut, er hat sich hin und wieder positiv zum Dresdner Sport-Club von 1898 geäußert, der ja vor seiner Namensänderung in Dynamo zweimal Deutscher Meister war. Später, als Helmut Schön Bundestrainer wurde, ließ er immer verlauten: „Nuu, der Helmut Schön kommt vom SC, der hat immer einwandfrei gespielt, nu!“
Aber was war Helmut Schön schon gegen Stalin. Stalin, der TSV-Gut-Heil-Stalin, ein Mittelstürmer der Extraklasse. Die Nachkriegskinder, die jetzt auch vom Turnen zum Fußball übergewechselt waren, bewunderten ihn sehr und nahmen sich ein Beispiel an ihm. Wie er ein Tor nach dem anderen erst für die Jugendmannschaft und später für die 1.Herren schoss, bewundernswert! Alle Nachkriegskinder wollten so werden, wie er. Natürlich wollten sie nicht so aussehen, wie er, aber so gut spielen Wer wollte denn schon so rote Haare haben und eine so markante Hakennase? Und wer wollte denn schon so spiddeldünn sein wie Stalin, aber so schnell und so torgefährlich wie er wollten sie alle sein. Erst Jahre später haben wir verstanden, weshalb er Stalin genannt wurde, obwohl er mit richtigem Namen Hans-Heinrich Masemann hieß und kein Flüchtling war, sondern der Sohn einer einheimischen Maurerfamilie, die direkt gegenüber dem Sportplatz wohnte. Beim Training und bei den Punktspielen kam ja Stalin auch nicht wie die Mitspieler von Segelken anmarschiert, wo sie im Clubraum ihre Umkleide hatten, sondern Stalin kam direkt von zu Hause auf den Sportplatz und legte sofort los. Gut, im Hin- und Herlaufen hatte er seine Schwächen, da reichte manchmal die Kondition nicht aus, da er ja immerhin schon als junger Mann stark rauchte und auch dem Tresen bei Segelken, dem Treffpunkt der Fußballer bis heute, nicht fernstand. Aber was sollte er auch viel hin und herlaufen, möglicherweise sogar nach hinten hin mit decken. Das war damals nicht Aufgabe eines Mittelstürmers mit der echten Nummer 9 noch hinten auf dem grünen Trikot (rote Hosen). Bei Angriffen des TSV hatte er vorne in der Mitte zu sein und die Dinger rein zu machen. Fertig. Und das klappte prima. Er war sogar Schützenkönig der Kreisklasse Verden, wie man später erzählte. Ja, so wurden auch die Nachkriegskinder peu a peu an den beliebten Fußballsport herangeführt. In der Schülermannschaft ging es bald um Stammplätze. Die Mannschaftsaufstellung für die Punktspiele am Samstagnachmittag hing Pachmann immer am Freitagmittag im TSV-Kasten bei Bischoff aus. Alle waren pünktlich zur Stelle, um zu sehen, sie ob mitspielen durften oder nicht. Das Nachkriegskind Nr.1 war manchmal sehr traurig und heulte vor dem Kasten, obwohl es auf dem rechten Flügel schnell wie ein Pfeil war. Er dachte sich, dass das wohl mit seiner Englischen Krankheit zu tun hatte und mit seinem Unvermögen, auf dem Platz reaktionsschnell den Mitspielern etwas zuzurufen. Bis da einmal ein Wort oder ein halber Satz rauskam, war der Ball längst weg und der Gegner hatte einmal wieder ein Tor geschossen. Nein, das war es aber nicht. Pachmann erklärte später dem Vater Herbert Senior, dass er das Nachkriegskind Nr.1 nicht aufstellen könne, weil er keine richtigen Fußballschuhe habe. Barfuß dürfe bei Punktspielen nicht angetreten werden, und mit den alten hohen Schuhen, die das Nachkriegskind noch vom Flüchtlingskind Herbert Junior geerbt hatte, könne er ihn auch nicht auflaufen lassen, da zu rutschgefährlich. Wo dann irgendwann richtige Fußballschuhe mit Stollen drunter herkamen, das weiß man heute nicht mehr so genau. Auf jeden Fall waren dann irgendwann welche da, und das Nachkriegskind Nr. 1 wurde dann auch hin und wieder von Pachmann, der sein Holzbein 30cm nachzog, aufgestellt. Die größte Fresse in der Schülermannschaft hatte Stutzke, der Spinner. Gut, er war technisch sehr gut und konnte drippeln. Aber abgeben, oder mal den Nebenmann beachten: Fehlanzeige! Er wollte alles alleine machen und meckerte die anderen Bauernkinder und Nachkriegskinder ständig an. Pachmann, der Pädagoge und Trainer ließ ihn gewähren, weil er noch die Führungsideale der Hitlerzeit und der Ostzonenzeit im Kopf hatte: Die besten Leute voran, egal was sie im Schädel haben Selbst als Stutzke das Nachkriegskind Nr.1 wegen seiner Englischen Krankheit während eines Spiels hänselte, griff Pachmann nicht ein. Statt Stutzke vom Platz zu nehmen, rief er ihm zu: „Da kann er nichts für, das haben die Tommys zu verantworten!“
Und sonst: Beim Erntefest 1958 konnte die Nachkriegsjugend beobachten, wie Paarungsverhalten unter Erwachsenen geht. Der Mitspieler von Stalin und gleichzeitige Geselle des Malermeisters Strotmann, alle kannten ihn nur unter dem Rufnamen „Ruck-Zuck“, kam nach der Damenwahltanz und dem anschließen Gang an den Tresen, an dem es für die Tanzpaare Bier und Korn gab, mit Lilo, der Frau des Malermeisters Strotmann, aus dem Zelt heraus, um sich ein dunkles Plätzchen auf dem Sportplatz zu suchen, um dort dem außerehelichen, verbotenen, schnellen Geschlechtsverkehr nachzugehen. Dabei hatten sie allerdings nicht mitbekommen, dass sich die Nachkriegsjugend und die Dorfjugend auch außerhalb des Zeltes ganz in der Nähe aufhielten, um heimlich zu rauchen und Bier zu trinken. Aber, es blieb alles unter der Decke, weil es sich ja nicht gehörte im Dorf, über so etwas zu sprechen. So sprach auch die Nachkriegsjugend den Erwachsenen gegenüber nicht über das, was sie sexualpädagogisch miterleben durften. Es wurde viel in der Schule darüber getuschelt und verstohlen darüber gegrinst. Die Mitschülerinnen, die davon erfuhren, kicherten untereinander.
Und sonst: das Nachkriegskind Nr. 1 hatte irgendwann Streichhölzer vom rauchenden Vater geklaut, um damit, es war ja schwer verhaltensgestört, einige Tage vor Ostern 1958 schon eine Feuerprobe am aufgestapelten Osterfeuerhaufen zu haben. Glücklicherweise, wie wir heute rückblickend sagen können, kam Onkel Johann Jäger mit einem Pferdegespann vorbei, auf dem Abdeckplanen lagen. Mit denen erstickte er das angefackelte Feuer. Dann nahm er sich das vor Angst schlotternde Nachkriegskind Nr. 1 vor und verpasste ihm einen dermaßen kräftigen Arschvoll, von dem das Nachkriegskind Nr. 1 noch heute traumatisiert ist. Das Flüchtlingskind Herbert Junior forderte den Vater Herbert Senior noch auf, dem Nachkriegskind wegen der Wegnahme der Streichhölzer noch einen weiteren Arschvoll zu verpassen, worauf dieser aber verzichtete, weil er noch ganz schnell eine Änderung am Anzug von Krohme vornehmen musste, der am Abend zum Jägerball wollte.
HERBERT 11.10.12
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Amerikanische und andere Verwandte, oder: wie der Opa auf dem Kutscherbock sitzend Wehrmachtslieder singend und pfeifend mit dem Pferdewagen ins Moor zum Torfstechen fuhr
Immer zu Fuß auf dem Padweg an der B75 entlang. An der Sandkuhlensiedlung vorbei, bei Krohme in Schaphusen, dessen Pferde wie immer stolz auf der Wiese an der Straße grasten, vorbei. Dann noch 1 km, vorbei bei Heitmann und Ehlers, und schon hatten alle 6, Herbert Senior aus Sachsen, die Mutter und das Kriegskind Herbert Junior, beide aus Ostpreußen, und die Nachkriegskinder 1, 2 und 3, die in der Englischen Besatzungszone geboren wurden, ihr Wanderziel erreicht: den Blankehof mit den zwei markanten Spitzeichen, die bis heute dort stehen. Herbert Junior jabbste wie immer, eigentlich war der Weg von etwa 3 km viel zu lang für ihn, aber er hatte bei allen krankheitsbedingten verhaltensauffälligen, gewaltbereiten Persönlichkeitsstrukturen auch echte positive Eigenschaften wie Durchhaltevermögen, starken Willen, künstlerische Neigungen und eine erstaunliche Liebe zum Peddigrohr. Alle sechs waren bestens gebügelt angezogen, Herbert Senior, wie es sich für einen Schneidermeister gehört, immer in Anzug, Schlips und Kragen – die Ostpreußische Mutter in einem feschen Nachkriegskleid, und die Kinder in besten, 5 – 6 mal geänderten und auf den jeweiligen Alterszustand zugeschnittenen Hosen, Hemden, Kleidern und Pullovern. Das war für den Schneidermeister Herbert Senior überhaupt kein Problem, mal eben aus der ehemaligen langen Hose von Herbert Junior eine kurze Hose für das 1.Nachkriegskind herzustellen. Hosenträger mit Hirschemblem vorne dran ran, fertig! Lange Strumpfhosen, gebügelte weiße Kinderhemden, mit Spucke geputzte Schuhe, so konnte es losgehen zur Geburtstagsfeier nach Bockhorst zum Blankehof.
Mit großer Dankbarkeit kehrte die Flüchtlingsfamilie aus ihrem 2.Flüchtlingsnotquartier immer wieder zurück an den Ort ihrer 1. Flüchtlingsunterkunft gleich nach der Flucht aus Ostpreußen. Hier fanden sie eine erste Bleibe nach dem langen Weg, hier wurden sie herzlich aufgenommen, hier fanden sie mit dem kranken Flüchtlingskind eine echte Herberge, wenn auch eine sehr beengte unter dem ausgebauten Dach des Bauernhauses. Hier gab es für sie eine Grundversorgung mit Lebensmitteln und Essen, hier konnten sie in den ersten Jahren, sowohl Herbert Senior als auch die Mutter des Flüchtlingskindes aus Ostpreußen, die ja eigentlich auch Herrenschneiderin war, sich mit kleinen Schneiderarbeiten für die umliegenden kleidermäßig abgebrannten Bockhorster und Oytener über Wasser halten. Selbst Dr. Stinnes ließ bei Herbert Senior arbeiten, auch Herr Meyer, der Inhaber des Schreibwarengeschäftes in Oyten, auch der Bruder von Meyer, ein Violinist im Bremer Philharmonischen Orchester, auch Zöllner, der Kaufmann, und nicht zuletzt Pastor Janßen, der später das Pech haben sollte, das 1.Nachkriegskind, das ja bis heute eigentlich antireligiös ist und damals bis eigentlich auch heute außerordentlich psychisch gestört, sprachbehindert, von der Englischen Krankheit heimgesucht und sich keinerlei Verantwortung bewusst ist, konfirmieren zu dürfen. Der Herr ist dein Hirte, so stand es später im Konfirmandenbrief des 1.Nachkriegskindes, was, oh Wunder, 50 Jahre später tatsächlich noch einmal in Timmendorfer Strand von Bedeutung sein sollte.
Ja, die Zusammenkünfte auf dem Blankehof waren immer etwas Besonderes, und die Flüchtlinge und die
Nachkriegskinder waren immer sehr stolz dabei sein zu dürfen, wenn auch die Verwandten der Blankes aus Breitenmoor angeritten kamen und Tante Anna mit ihrer Familie aus der Mühlensiedlung, wo der
Mann von Anna, ein Maurermeister, schon gleich nach dem Krieg ein wunderschönes, weithin sichtbares Haus aus rotem Klinker hingestellt hatte. Die roten Klinkersteine, so wurde damals bei
Bischoff, Schulz und Segelken am Tresen spekuliert, soll sich Diddi, so hieß der Maurer, von den Trümmergrundstücken in Bremen-Sebaldsbrück, was ja vollkommen in Schutt und Asche lag, besorgt
haben. Aber, wie gesagt, alles reine Spekulation
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Wenn man Glück hatte, dann waren auch Amerikanische Verwandte zugegen, die mit dem Schiff über den Großen Teich angereist kamen. Einmal, so erinnert sich das 1.Nachkriegskind, haben sie sogar ihren riesigen Straßenkreuzer mit rüber gebracht, um den geschlagenen und besiegten Deutschen zu zeigen, was wahrer Wohlstand ist. Und natürlich standen alle Einheimischen, alle Flüchtlinge, alle Bauern, alle Kinder zusammen. Auch kamen englische Tommys in ihren Jeeps mit der riesigen Funkantenne angefahren, weil sie wohl auch in England solch ein Auto noch nie gesehen hatten. Und üppig beschenkten die Amerikaner uns arme Kriegs- und Nachkriegskinder. Es gab keine dreieckigen zusammengeklappten Weißbrote mit irgendetwas Undefinierbarem dazwischen, wie bei den Tommys, sondern eingepackte, gummiartige amerikanische Süßigkeiten, die man stundenlang ohne Ausspucken im Mund behalten konnte, und amerikanische Küchlein und Kekse in Blechdosen. Für die Raucher, wie Herbert Senior einer war, und auch Onkel Hinnnerk sowie Opa Blanke, Maurermeister Diddi und einige andere Herren, die noch anwesend waren, wurden Amerikanische Zigaretten und Zigarren verteilt. Die Frauen, die ja, wie es sich gehörte, nicht rauchten, bekamen Amerikanische Modezeitschriften zugeteilt und Amerikanische Stoffe, damit sie möglichst schnell auf den Stand der neuesten Weltmode kamen.
Für uns Flüchtlingskinder und Nachkriegskinder war die Frage damals überhaupt nicht interessant, weshalb Amerikaner, gegen die wir gerade noch Krieg geführt hatten, mit dem Schiff von Amerika kommen, ums uns „ungezogenen Kinder“, wie Gutsbesitzer Herrlichmühlen uns zu titulieren pflegte, wenn wir den bissigen Hofhund Erwin, der an der Kette und in der Hundehütte gehalten wurde, ärgerten, zu beschenken. Hauptsache wir hatten etwas zum Kauen. Auch wollten wir gar nicht wissen, warum die Amerikaner so eine komische Sprache sprachen. Wie wir heute wissen, war es so ein Gemisch aus amerikanischem Wildwestslang und Niederdeutsch des 18. Und 19.Jahrhunderts. Ostpreußisch, Sächsisch, Bremisch, Neuniedersächsisches Plattdeutsch, wie es die Einheimischen hier sprachen, oder gar Hochdeutsch konnten sie nicht sprechen, was die Beantwortung der Fragen, die die Amerikaner an uns Kinder richteten, erheblich erschwerte, da wir sie gar nicht verstanden. Ich, als 1.Nachkriegskind, gab sowieso keine Antworten – egal wer mich was fragte -, da es mir bis ins spätere hohe Alter hinein nicht gelingen wollte, die Worte in mir so zusammenzustellen und meinen Atem so zu regulieren, dass meine Worte wohlklänglich wie Musik aus meinem Munde perlten. Manchmal dauerte es Minuten, wenn nicht Stunden, bis Worte in mir ganzheitlich und verständlich ohne mehrere Versuche ans Licht der Öffentlichkeit gelangten Was also hätte ich als 1.Nachkriegskind den Amerikaner mitteilen sollen, die das Ostpreußische und das Sächsische nicht verstanden, und schon gar nicht mein kindliches Gestammel und Gebrabbel.
Herbert Junior hatte es auch in dieser Beziehung immer leichter, auch wenn ihm das Atmen sehr schwer fiel. Mit seiner Flüchtlingskinderkrankheit hatte er immer alle Aufmerksamkeit und alle Sympathien auf seiner Seite. Er musste nur kräftig und ausdauernd husten, und schon brachen die Amerikaner und die Einheimischen in wilde gestikulative Tiraden gegen den Weltkommunismus und die Rote Gefahr aus dem Osten aus. Herbert Senior wollte noch einwerfen, dass sich ja die Russen und die Amerikaner auf der Sächsischen Brücke bei Torgau die Kriegsgewinnerhände gereicht haben. Das wollte aber keiner der anwesenden Geburtstagsgäste – die Oma feierte heute ihren 70.Geburtstag – hören, denn Tante Mimmi rief zum Einzug in die gute Stube an die Geburtstagskaffeetafel auf. Vorher traf man sich in der einfachen Stube, die alltäglich benutzt wurde. Nur zu den Feierlichkeiten ging es in die gute Stube, die dominiert war von einem riesigen Kamin aus feinsten Kacheln und einem riesigen Edel-Tisch mit Glasplatte drauf, an dem mindestens 20, wenn nicht 30 Personen Platz fanden. Und der Tisch bog sich dann jedes Mal unter den Mengen an selbstgebackenen Kuchen und Torten. Edles Sammelgeschirr an jedem Platz, silberne Kuchengabeln und Kaffeelöffel, herrliche Porzellankannen und Porzellankännchen. Die Ostpreußische Mutter jedes Mal zu den Nachkriegskindern 1, 2 und 3: „Na, passt auf, nehmt eure Grabbel vom Tisch, damit nuscht nich runterfliecht!“ Das Flüchtlingskind Herbert Junior wurde natürlich von den Belehrungen ausgenommen, denn das hatte ja inzwischen in den Heimen und Anstalten Anstand gelernt, obwohl es
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auf seinem Kuchenteller jedes Mal aussah wie Sau, da er sich nur die Kirschen aus der Schwarzwälder Torte, die Schokolade aus dem Schwarzen Peter, die Mandelsplitter vom Butterkuchen und die Rosinen aus dem Wickelkuchen pickte. Er konnte, das muss an dieser Stelle auch einmal gesagt werden, nicht nur nicht richtig Luft holen, er konnte auch nicht richtig essen. Typisch Heimkind, würde die moderne Pädagogik heutzutage sagen!
Moderne Pädagogik hin, moderne Pädagogik her. Die Pädagogik der Nachkriegszeit war eher eine Erlebnispädagogik, wenn nicht sogar eine spätmilitaristische Nationalpädagogik. Alle Kriegsteilnehmer, alle Flüchtlinge, alle Spätheimkehrer und alle Spätaussiedler, wenn nicht sogar auch alle „Vaterlandsverräter“ und Deserteure waren bemüßigt, uns nachwachsenden Kriegs- und Nachkriegsgenerationen die Welt und den Untergang der Welt und die Schuldigen für den Untergang der Welt zu erklären. Die Lehrer und Lehrerinnen in den Schulen der frühen 50er Jahren hatten es da einfach. Sie mussten sich gar nicht groß umstellen. Sie konnten einfach das Lehrmaterial, was sie bereits vor dem Weltuntergang verbreiteten, einfach weiter benutzen und uns Nachkriegskindern, im wahrsten Sinne des Wortes, um die Ohren hauen. Denn, wenn nicht gespurt wurde und anständig angetreten, dann gab es in der Schule an die Ohren oder auf die Finger. Das Nachkriegskind Nr.1, das ja bereits durch andere Umstände englisch krank war, psychisch und sprachlich behindert, sowie verhaltensauffällig – unter anderem auch bettnässig - , könnte hier von weiteren Angriffen auf die körperliche Unversehrtheit weitere größere Kapitel beschreiben.
Einmal abgesehen von den Volksschulerlebnissen wollen wir noch einmal auf den 70.Geburtstag von Oma Blanke zurückkehren, indem wir die besonderen pädagogischen Fähigkeiten von Opa Blanke hervorheben wollen. Er nahm uns Flüchtlingskinder und Nachkriegskinder regelmäßig mit auf seine Exkursionen mit Pferd und Wagen in das Posthauser Moor, dorthin, wo heutzutage das modernste Landkaufhaus der ganzen Welt steht. Wir, meistens das kurzatmige Flüchtlingskind und das gestörte 1.Nachkriegskind mit keinerlei sozialer Verantwortung, saßen neben dem Opa vorne auf dem Kutscherbock und durften hin und wieder die Zügel in die Hand nehmen. Es ging damals langsam und nachhaltig voran, so dass Opa Blanke genügend Zeit hatte uns Flüchtlings- und Nachkriegskinder mit seiner Nachkriegspädagogik zu beglücken, indem er uns auf der ca. 8km langen Strecke bis ins Posthauser Moor bei Tempo ca.5 – der Belgische Wallach konnte nicht schneller – das Liedgut der Soldaten entweder vorsang oder vor pfiff. Gut – Herbert Junior kannte einige Lieder bereits aus dem gemeinsamen Singen in den Heimen und Anstalten – aber nichts desto trotz hatten wir das Vergnügen, authentisch von einem Altgedienten in erzieherischer Weise in das Kulturgut der Deutschen Vergangenheit auf dem Kutschbock eines Torffahrzeuges eingeweiht zu werden. Wären wir nicht ins Moor mitgenommen worden, hätten wir niemals Lieder und Texte gelernt wie: Ach, welche Lust Soldat zu sein – oder: Bin ein lust’ger Grenadier- oder: Ein Schifflein sah‘ ich fahren- oder: Es braust ein Ruf wie Donnerhall. Oder: Froh leben die Soldaten, ganz abgesehen von: Gott, erhalte Franz den Kaiser und Heil dir im Siegerkranz, Herrscher des Vaterlands… Ach, warum soll hier erwähnt werden, dass auch: Es zittern die morschen Knochen und Wir ziehen gen Engeland dabei war, ist ja unerheblich! Warum muss denn hier betont werden, dass Opa Blanke bei den Ortsdurchfahrten z.B. durch Bassen und Tüchten nicht sang oder pfiff, sondern proklamierte: Deutschland erwache! Und am Straßenrand standen wieder die Tommys in ihren Jeeps mit den langen Antennen und aßen diese dreieckigen Weißbrotbrote mit diesem Undefinierbarem drauf. Sie hätten als Besatzungsmacht eingreifen können und Opa Blanke sofort verhaften können – aber wir kennen ja die Engländer: ohne die Anordnung von Churchill lief damals gar nichts! So konnten wir weiter mit ansehen, wie der Opa sich im Moor abrackerte und Torfstück für Torfstück aus dem uralten feuchten Boden hob. Dann wurde trockener Torf aufgeladen. Und zurück ging es auf der gleichen Strecke mit Gesang und Frohgemut. In Bassen an der Kreuzung rief Opa Blanke dem auf seinem Motorrad mit Beiwagen in Wellenlinien dahinfahrenden Malermeister Hannes Strohmann noch zu: Einst kommt der Tag der Rache… Und dem gerade an der Kreuzung stehenden Stalin rief er zu: Stalingrad ist nicht vergessen, wir kommen zurück!
HERBERT 5.10.12
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Wie der Sexualstraftäter Horst aus Hamburg-Moorfleet sich in die Familie einschlich und glaubte, allen Nachkriegskindern der Siedlung auf der Autobahnbrücke seine äußeren Geschlechtsmerkmale zeigen zu müssen
Die Nachkriegstage in der Englischen Besatzungszone gingen dahin. Churchill wurde berühmt durch die Vernichtung Dresdens und durch seine Aussage: no sports. In den amerikanischen Besatzungszonen wurde die Umerziehung der Deutschen Nachkriegsjugend in Angriff genommen, sie sollte so werden wie die Amerikanische Jugend. Sie schickten deshalb Millionen von so genannten Care-Paketen in die Westzonen, die sich ja inzwischen zur Bundesrepublik Deutschland erklärt hatten. In der Sowjetischen Besatzungszone gab es weder Bananen noch Bohnenkaffee, stattdessen eroberte der so genannte Broiler die Ostzone. Stalin ließ die Ostzone zur Deutschen Demokratischen Republik ausrufen, Broiler wurden zur Volksnahrung erklärt. Zu Weihnachten stellten die Westzonenbewohner Kerzen in die Fenster und schickten Pakete mit Bananen, echtem Bohnenkaffee, Schokolade und Apfelsinen, die wohl in Sachsen und Thüringen auch nicht wuchsen, rüber in „die Zone“ – damit war aus westlicher Sicht die Ostzone gemeint, oder wie andere Flüchtlinge und Bauern sagten: die SBZ. Manchmal kam sogar Besuch aus der SBZ in die Flüchtlingsnotunterkunft. Die Schwester des Schneidermeisters Herbert Senior aus Sachsen reiste regelmäßig an, um beim Anblick der Auslagen in den westdeutschen Wirtschaftswunderschaufenstern zu sagen: „Das ha‘m mir och im HO, nu“. Was hätte sie auch sagen sollen, denn schließlich hatte sie ja den amtlichen Auftrag ihres Führungsoffiziers in der Heimat, im imperialistischen, kapitalistischen Feindesland Propaganda für die Errungenschaften des jungen Sozialismus in der SBZ zu machen. Wo sie allerdings geschlafen hat bei ihren Besuchen im kapitalistischen, imperialistischen Westen, das kann von dem 1.Nachkriegskind heute nicht mehr mit hundertprozentiger Sicherheit geschildert werden. Es übersteigt die Vorstellungskraft sich vorzustellen, dass die Tante aus dem Osten auch noch in die Flüchtlingsbetten integriert war, in denen bereits 6 Personen anzutreffen waren: das schwerkranke Flüchtlingskind Herbert Junior –wenn er einmal zu Hause war-in der Stube auf dem Sofa, das 1.Nachkriegskind mit im Flüchtlingsehebett – später im Einzelbett mit Gatter, da es wegen der besagten frühkindlichen, psychischen Störungen nachts fantasierte und laute Schreie von sich gab – die Nachkriegskinder 2 + 3 mit im Flüchtlingsehebett. Wahrscheinlich war die Tante aus dem Osten immer nur dann da, wenn das Flüchtlingskind auf Kur war und das Sofa in der Stube nicht frequentierte. Wie allerdings die vielen Schwestern der Schneiderin aus Domnau und Mutter der 4 besagten Kinder in der Flüchtlingswohnung untergebracht waren, wenn sie auf Besuch kamen, das muss ein Rätsel bleiben. Denn immerhin handelte es sich um 3 oder 4 Schwestern aus dem Ruhrgebiet, 2 Schwestern, die inzwischen in England ansässig geworden waren, 2-3 Brüder und mehrere sonstige Verwandte und Verschwägerte. Auch waren Taubstumme dabei, Beinamputierte, sonstige Kriegsopfer und Spätheimkehrer. Und auch die Ostpreußische Oma, ebenfalls aus dem Ruhrgebiet, war regelmäßig auf Besuch in der Flüchtlingsnotunterkunft, um nach ihren Enkelkinderchen zu schauen. Sie wird, so wird vermutet, dann wohl mit im Ehebett am Fußende geschlafen haben, weil sie ja auch sehr klein war. Es könnte auch sein, dass Herbert Senior in der Zeit der ostpreußischen Schwiegermutterbesuche gar nicht zu Hause war, weil er entweder wieder auf Kurtransport oder Kurbesuch von Herbert Junior war, oder aber für mehrere Tage sein Quartier bei Bischoff, Schulz oder Segelken aufgeschlagen hatte, wenn es da im Dorf nicht noch andere Adressen gab. Er war es ja aus seinen Schneidergesellenwanderjahren in Sachsen und Thüringen vor dem Krieg gewohnt, umtriebig und flexibel zu sein. Unter anderem hatte er auch die Fähigkeit, da er häufig die Nächte durcharbeitete, im Schneidersitz auf dem Küchentisch für ein bis zwei Schneiderstündchen zu schlafen. Wie auch immer: unerklärlich muss auch die Tatsache bleiben, dass sich eines Tages in den 50er Jahren ein gewisser Horst aus Hamburg-Moorfleet in der Flüchtlingsnotunterkunft wiederfand. Horst war aus der Sicht von uns Nachkriegskindern ein älterer Mann wohl so um die 30 – 40 Jahre. Er jabbste, wie das Flüchtlingskind, auch ständig nach Luft und hustete permanent. Er trug, so haben wir ihn in Erinnerung, immer einen langen Mantel – wie sich später herausstellte: einen Mantel der ehemaligen Reichswehr. Auch sprach er sehr merkwürdig. Kein Hochdeutsch wie die Bremer, kein Plattdeutsch wie die Bauern hier, auch nicht Sächsisch wie Herbert Senior und auch nicht Ostpreußisch wie die Mutter der 4 Kinder. Wie sich später herausstellte, sprach er Hamburgisch, was ja kein Schwein in der Flüchtingsnotunterkunftgegend verstand. Weder die hier angekommenen Schlesier, Hinterpommern, Bessarabier, Menschen aus der Walachei und aus dem Banat hatten jemals in ihrem Leben Hamburgisch gehört. Dem entsprechend wurde er auch von allen misstrauisch beäugt. Herbert Senior erklärte den misstrauischen Siedlern, weshalb Horst für ein paar Tage in der Flüchtlingsnotunterkunft zu Gast sein würde. Auch Herr von und zur Herrlichmühlen, der Gutsbesitzer und Bauer, der Herr und Vermieter der Flüchtlingsnotunterkunftwohnung ohne Bad und WC, wollte natürlich wissen, was der Hamburger hier auf seinem Anwesen wollte. Herbert Senior erklärte wohl, dass er ihn aus reiner Gutmütigkeit und Mildtätigkeit aus dem Kurheim in Westerland auf Sylt, wo er enge fürsorgliche Kontakte zu Herbert Junior gepflegt haben soll, mitgebracht habe aufs Anwesen, da er in Hamburg, was ja wegen des englischen Bombardements völlig abgebrannt war, keine Wohnung und keine Unterkunft fand. Er, der Hamburger, habe, so Herbert Senior zum Gutsbesitzer, als junger Mann bei den schrecklichen Feuerangriffen auf Hamburg schwere Rauchvergiftungen und Lungenkrankheiten erlitten, so dass er jetzt auch immer, wie Herbert Junior, auf Kur müsse. Und er habe sich rührend um Herbert Junior im Kurheim gekümmert. Aus Dankbarkeit dafür, so Herbert Senior, erhielte er nun vorläufiges Quartier in der Flüchtlingswohnung. Der Gutsbesitzer kniff dann wohl beide Augen zu, verlangte aber 2 Mark Extramiete pro Aufenthaltstag des Hamburgers, da er ja schließlich wohl auch das Aussenklo hinten bei den Schweinen benutzen würde. Horst war wohl mit in der Stube bei dem Flüchtlingskind Herbert Junior einquartiert – ob er in seinem Wehrmachtsmantel unten auf dem Teppich nächtigte, oder aber mit auf der Krankencouch, das kann im Rückblick nicht mehr mit Sicherheit gesagt werden. Es ist eigentlich auch unerheblich, da der Aufenthalt des Horst aus Moorfleet in der Flüchtlingsnotunterkunft nur von sehr begrenzter kurzer Dauer war. Denn nach drei oder vier Tagen seines Aufenthaltes wurde er bereits von der Verdener Kriminalpolizei, die mit zwei VW-Käfer-Polizeiwagen mit Blaulicht auf dem Dach vorfuhren, in Handschellen aus der Flüchtlingswohnung abgeführt und vor unser aller Nachkriegskinderaugen in den hinteren Fonds des ersten Polizeiwagens gestoßen wurde. Wir Kinder sollten, so der eine zackige Polizist, doch lieber zum Spielen gehen, statt diesem bösen Hamburger zuzuschauen, wie er jetzt lebenslänglich ins Gefängnis gefahren wird. Oh Gott, dachten wir Nachkriegskinder damals bereits, lebenslänglich hinter Schwedischen Gardinen, dann kommt er ja gar nicht wieder raus und kann mit uns spielen. Hänschen, von unten von der Siedlung, fügte noch hinzu, dass es jetzt aus sei für Horst. Dabei hatten wir ihn alle so lieb in Erinnerung. Wie er mit uns zusammen Marmeln spielte, mal auf Pott, mal mit den Eisenpiksern auf Dreieck. Gut, er spielte immer so mit, dass Herbert Junior letztenendes gewann und all‘ die Kittscheißer, Glasmurmeln und Eisenpikser von uns Nachkriegskindern einkassierte, um sie in seinem überdimensionalen Marmelsack zu verstauen, mit dem er dann hin und wieder uns anderen Kindern auf den Kopf schlug. Auch ging Horst mit uns Flüchtlingskindern und Nachkriegskindern, Günter, Helmut, Fredi, Manfred, Jochen, Erika und Margret waren dabei, gerne zum Spielen an die Autobahnbrücke. Dort baute er an der Brückenböschung mit uns Höhlen und Verstecke und sagte immer: Hier kann uns keiner sehen. Doch scheinbar hatte Frau Hoppe aus Schlesien, die unten in der Siedlung siedelte, und die immer über die Brücke musste zum Arbeiten beim Bauern Hehmsoth, doch gesehen, welche Spiele Horst mit uns spielte. Das, was sie gesehen hatte, schilderte sie wohl dem Dorfpolizisten Hermann, der dann wiederum wohl nichts besseres zu tun hatte, als das, was Hoppe zu Protokoll gab, telefonisch zu den Kollegen in der Polizeistation in Achim weiterzugeben, die wiederum dienstbeflissen die Meldungen per Telefon an Verden weiterleiteten, da Achim selbst ja nicht mehr Kreisstadt war wie vor dem Krieg, obwohl es das Achimer Kreisblatt bis heute gibt. Kurz und gut: die Verdener Kreispolizei rückte zusammen mit der Achimer Ex-Kreis-Polizei an und nahm den Unhold aus Hamburg aufgrund der Aussage von Hoppe aus Schlesien fest. Wir Flüchtlingskinder und Nachkriegskinder sahen „das Schwein aus Hamburg“ , wie Herbert Senior ihn später bezeichnete, im Leben nie wieder. Mit der Verarbeitung unserer Erlebnisse und Abenteuer an der Autobahnbrücke mussten wir Flüchtlingskinder und Nachkriegskinder dann nach der Verhaftung des bösen Horst aus Hamburg-Moorfleet später alleine fertig werden. Es wurde nicht darüber gesprochen auf dem Anwesen, auch schon gar nicht im Dorf, in der Schule schon überhaupt nicht, bei Bischoff, Schulz und Segelken war das Thema am Tresen tabu. Das gehörte sich einfach nicht. Deswegen war es auch kein Thema. Wie überhaupt über Regelverletzungen und Kriminalfälle im Dorf nicht gerne gesprochen wurde. Alle wussten Bescheid und waren bestens informiert über die Einzelheiten der Untaten, aber darüber zu sprechen, verbat sich schon aus Gründen der deutschen geschichtlichen Tradition: alles wissen, aber nichts sehen, nichts hören, nichts empfinden! So kam, wie wir Nachkriegskinder beiläufig beobachten konnten, Hannes Strotmann, der Malermeister aus dem Hellwegischen , der mit seiner sächsischen, noch vor dem Mauerbau zugewanderten Lilo und dem angefertigten Kind Beate, unten in dem umgebauten gutsbesitzerlichen Schweinestall lebte, wegen seiner täglichen unter Alkoholeinfluss ausgeübten Verkehrsdelikte mit dem Horex-Motorrad mit Beiwagen, in dem die Farbeimer, Pinsel, Spachtel, Quaste, Verdünner und sonstige Malerutensilien verstaut waren, die den gesamten, wenn auch spärlichen Verkehr zwischen Bischoff, Schulz oder Segelken und dem Anwesen des von und zur Herrlichmühle auf der B75 zum Erliegen brachte, da er die Fahrspuren nicht ordnungsgemäß einhalten konnte, völlig straffrei und ohne Freiheitsentzug davon. Hannes musste ja schließlich am nächsten Tag dann wieder pinseln und tapezieren im Dorf, was sonst keiner konnte. Auch die Eisenbahnerbaufamilie Naber, die auf der anderen Seite des Schweinestalls bereits seit Kriegsende lebte, blieb ungeschoren, obwohl der alte Naber regelmäßig abends nach Eisenbahnbaudienstschluss auf den Feldern von Krohme, der sich die Anzüge und die Jagdbekleidung bei Schneidermeister Herbert Senior auf dem Küchentisch der Flüchtlingsnotunterkunft anfertigen ließ ohne zu bezahlen, beim Spargeldiebstahl erwischt wurde. Ja gut, das bisschen Spargel, so Frau Hoppe, davon wird Krohme auch nicht dünner! Auch die anderen Kriminalfälle wurden zwar getuschelt, blieben aber ungesühnt! Dass Herbert Senior wegen der Affekthandlung gegenüber Lilo Strotmann, die wohl nicht so wollte, wie er es wollte, auf dem Heimweg von der Kneipe in Oyten zum Anwesen der Herrlichmühlen, und die daraufhin wohl einen Schlag mit der Kornflasche auf den Kopf erleiden musste, 14 Tage in U-Haft im Achimer Gefängnis verbringen musste, war zwar allgemeines Dorfgetuschel, aber klare Fakten und Beweise wurden uns Flüchtlingskindern und Nachkriegskindern bis heute nicht vorgelegt. Die Ostpreußische Oma aus dem Ruhrgebiet – der Opa übrigens wurde allein in Ostpreußen krank zurückgelassen- nutzte die Abwesenheit des Herbert Senior zu einem weiteren Besuch im Flüchtlingsheim, da ja im Ehebett ein vollwertiger Platz frei war. Sie erklärte uns Flüchtlings- und Nachkriegskindern die Abwesenheit des Vaters mit den üblichen Montagetätigkeiten auswärts, die wohl noch ein Weilchen anhalten werden. Nur irgend so ein Bauernlümmel in der 2.Klasse der Volksschule machte eine anrüchige Bemerkung über die Abwesenheit des Herbert Senior. Dafür bekam er dann aber auch vom 1.Nachkriegskind und seinem Kumpel aus dem Wohnschweinestall, Günter, voll was auf die Fresse, so dass Frollein Koch dazwischen gehen musste. Herr Schmolke, der Volksschulleiter, schrieb mit Kreide an die Klassentafel: „ Liebe Deinen Nächsten!“Herbert Junior wurde während der Abwesenheit des Herbert Senior sehr krank, so dass Dr. Stinnes ihn sofort ins Krankenhaus Sebaldsbrück einweisen ließ. Die Ostpreußische Mutter aller 4 Kinder musste ihn besuchen. Da die Ostpreußische Oma aus dem Ruhrgebiet zu dem Zeitpunkt auch nicht im Flüchtlingsheim war, erhielt das 1.Nachkriegskind den Auftrag, die Nachkriegskinder 2 + 3 zu bewachen, was in unrühmlichen Kloppereien, Schreiereien, Heulereien und Schmierereien endete. So hatte das 1.Nachkriegskind, das ja sprachlich, psychisch und verhaltensmäßig gestört war, die Eigenart, gerne Brotstullen mit schwarzem Sirup drauf, gegen die Wand zu klatschen und zu kontrollieren, wie lange sie dort kleben bleiben. Strafen mit dem Bandmaß oder dem Gürtel waren ja nicht zu befürchten, da die Mutter Herbert Junior besuchen musste und Herbert Senior immer noch auf Montage war.
HERBERT
1 26.09.2012
Wie ein schwerkrankes Flüchtlingskind einem psychisch und sprachlich behinderten Nachkriegskind mit einem Schlag mit dem Eisenpicksermurmelsack auf den Kopf die schulische und berufliche Zukunft versaute
Das Nachkriegskind war und ist sich bis heute keiner Kriegsschuld bewusst. Es sei denn, man wolle ihn in Sippenhaft nehmen und ihm dafür die Verantwortung zuschreiben , dass der Schneidergeselle Herbert aus Sachsen im Jahre 43, es muss biologisch gesehen im April gewesen sein, die Schneiderin Hilda aus Domnau in der Reichsuniformschneiderei in Bartenstein in Ostpreußen schwängerte, um daraus den Reichsnachwuchskrieger Herbert Junior entstehen zu lassen. Schließlich hatte der Kriegsführer eine tausendjährige Perspektive versprochen, an die besonders die im Ostpreußischen lebenden Bauern und Junker, und auch die zwangsverpflichteten Sachsen, mit Inbrunst glaubten. Nicht von ungefähr war Hilda Kommandantin einer BDM-Hundertschaft und Herbert Senior Sprecher der Reichsuniformschneidergesellen. Bis hierhin alles noch keine Erklärungen und keine plausiblen Gründe dafür, weshalb Jahre später das Nachwuchskriegerkind und spätere Kriegsflüchtlingskind Herbert Junior dem Nachkriegskind in den 50er Jahren mit voller Wucht den Murmelsack – dort, wo sie später siedelten, sagten sie niederdeutsch: Marmelsack -in dem sich mindestens 10 dicke Eisenpikser befanden, auf den Kopf schleuderte, so dass das Nachkriegskind, das ja ohnehin schon durch die Englische Krankheit, durch sprachliche Behinderungen und durch die Neigung zur Selbstzerstörung an den Fingernägeln erheblich in seiner Entwicklung beeinträchtigt war, mehrere Stunden besinnungslos am Rande des Kartoffelackers auf dem Feldweg zwischen Flüchtlingsnotunterkunft und der Brücke über die Autobahn A1, die noch der Kriegführer hat bauen lassen, lag und dem Tode näher war als dem späteren Leben, das dann geprägt war von weiteren Kopfverletzungen, für die allerdings dem Flüchtlingskind keinerlei Verantwortung zuzuschreiben ist. Die übelste Kopfverletzung, unter der das Nachkriegskind bis heute im Hinblick auf Gedächtnisstörungen, zerebrale Artikulationsmängel und konzentrative Dispositionen zu leiden hat, zog es sich in der Trabantenstadt im Jahre 61, oder war es 62, auf jeden Fall noch vor dem Tod des tausendjährigen Nachwuchskriegers und späterem Flüchtlingskind Herbert Junior im Winter auf dem Eis des zugefrorenen Fleets in der Trabantenstadt-Nord zu. Beim „Glitschen“ mit spiegelglatten Sohlen flog das Nachkriegskind, das weder Schlittschuh noch Schlitten sein eigen nennen konnte, nach zweifachem Salto rückwärts mit voller Branelle mit dem ohnehin schon durch den Schlag mit dem Marmelpieksersack deformierten Hinterkopf auf das spiegelglatte Eis. Das Nachkriegskind fand sich dann im St.Joseph-Krankenhaus mit 5-facher Gehirnerschütterung wieder, wo es dann mit dem Generalmusikdirektor des Radio -Symphonieorchesters 14 Tage auf einem Zimmer lag. Dieser wiederum wollte dem Nachkriegskind, das als Musik einzig und allein des „Feischelanspiel“ des Schneiders Herbert Senior identifizieren konnte, den Weg in die Klassische Musikwelt öffnen durch musikphilosophische, gestikulative und summende und näselnde Konzertvorführungen. Vergebliche Liebesmüh’ des Radiosymphoniekonzertdirektors. Der Krieg, die Flucht, die Englische Krankheit , die sprachlichen und sonstigen psychischen Behinderungen verhinderten einfach, dass sich das Nachkriegskind der Klassischen Musik, der sich ja auch der Kriegsführer hingebungsvoll hat gewidmet haben soll, hingab.
Die Angriffe des Flüchtlingskindes auf das Nachkriegskind mit Murmelsäcken, mit selbstgebauten Indianerwaffen wie Pfeil und Bogen und Tomahawks, mit gewaltigen Zwillen und Steinschleudern sowie mit sonstigen Gerätschaften, die für körperliche Angriffe geeignet erschienen, fanden zum Glück nur periodisch statt, da das Flüchtlingskind die meiste Zeit gar nicht „zu Hause“, wenn wir die in einem zu Notflüchtlingswohnungen umgebauten ehemaligen Schweinestall befindliche Behausung mit 2 Zimmern und einer kleinen Küche ohne Badezimmer und Klo so nennen wollen, war. Die meiste Zeit verbrachte Herbert Junior nämlich in Erholungsheimen und Rehabilitationsanstalten, um dort seine auf der Flucht vor den einmarschierenden sowjetischen Truppen der Roten Armee eingefangenen Lungenkrankheiten zu kurieren, was letztendlich nie gelang. Zuletzt hatte er nur noch eine Viertel Lunge. Das Nachkriegskind erlebte seinen Bruder Flüchtlingskind somit entweder nicht da oder als Angreifer auf die körperliche Unversehrtheit. So ähnlich war es mit Herbert Senior auch. Entweder war er auf Transport oder Besuch in den Lungen-Kurkliniken in Bad Reichenhall, Oberstdorf, Wyk auf Föhr, Westerland auf Sylt, Radevormwald und was weiß das 1.Nachkriegskind noch wo, oder er saß im Schneidersitz auf dem Küchentisch und nähte für die Bauern der Gegend Anzüge und Jagdbekleidung. Oder aber er war dann später, nach dem Aufkommen der industriellen Textilherstellung und dem Zusammenbruch des altehrwürdigen Schneiderhandwerks, mit dem Fahrrad unterwegs auf Schichtarbeit zu Borgward, von wo er dann meistens nach Schichtende nicht nach Hause kam und in einer der vielen Kneipen unterwegs, meistens in Oyten, zu finden war. Und wenn er dann einmal zu Hause anzutreffen war, dann setzte es aber kräftige Kinderstrafen für die Untaten, bei denen das 1.Nachkriegskind sich immer besonders hervortat. Das Flüchtlingskind Herbert Junior musste dem Sächsischen, inzwischen zum Schneidermeister gekürten, Herbert Senior nur irgendeine Lügengeschichte auftischen, bei der das 1.Nachkriegskind als Schuldiger im Vordergrund stand, und schon setzten die Rituale spätwilhelminischer Kinderzüchtigungsorgien ein. Herbert Senior benutzte dabei nicht Murmelsäcke und Pfeil und Bogen, sondern Gürtel, das Schneidermaßband, das Holzbügelbrett und die rechte flache Schneiderhand, die gekrönt war von sehr gelben zerstochenen Fingerkuppen, die wohl entstanden sind durch das Rauchen filterloser Zigaretten bis zum Anschlag. Alle filterlosen Marken der damaligen Zeit kamen auf den Schneidertisch, mal Gold-Dollar, mal Eckstein, auch Overstolz, viel auch die schöne runde Juno, manchmal sogar die ovale Nil, wenn genügend Geld dafür übrigblieb. Meistens war das Geld knapp, weil die Bauern ihre Anzüge und Jagdbekleidungen nicht bezahlten, oder aber die Deckel in den verschiedenen Kneipen eingelöst werden mussten. Dann hieß es sogar manchmal als Befehl an das 1.Nachkriegskind: „Geh‘ mal eben schnell zu Schulz ins Dorf (1,5,km) und hol‘ 5 Juno, laß‘ anschreiben“. Nach einer Stunde dann, wenn die Juno aufgesogen waren, wurde der Befehl wiederholt – oder aber Herbert Senior machte sich selbst auf den Weg ins Dorf und vergaß weltentrückt am Tresen von Bischoff oder Segelken sitzend seinen Handwerksauftrag, um dann zu mitternächtlicher Stunde „heim ins Reich“ zu kommen. Manchmal zusammen mit Max Herzfeld, der im gleichen Schweinestall mit seiner Familie lebte, und der als Begrüßung seiner Ehefrau Hilde, die sich aus Angst vor Gewalttätigkeiten des besagten Max regelmäßig einschloss, im Treppenhaus zurief: „Hilde, du deutsche Hure, einst kommt der Tag der Rache!“
Unter all diesen Umständen, und den weiteren, die noch kommen sollten – so wurden dann auch noch das 2.Nachkriegskind und ein 3. in die Welt gesetzt, so dass die Nachkriegsfamilie sich schließlich mit 6 Personen in diesem Wohnloch wiederfand – unter all diesen Umständen, wie gesagt, war ein normaler Bildungsverlauf für das 1.Nachkriegskind und für das 2, und für das 3. schon gar nicht, unmöglich Das Flüchtlingskind Herbert Junior musste nicht in die Volksschule, da es ja überwiegend in den Heimen und Anstalten beschult wurde. Dort lernte es Basteln und Malen, was es wirklich ausgezeichnet konnte. Besonders der Schlag mit dem Eisenpieksermurmelsack auf den Kopf des 1.Nachkriegskindes war wohl der Anfang von allem mittelmäßigen Übel, was dann später in der Laufbahn kommen sollte: Knapp die Mittlere Reife geschafft, fürchterliche Berufsausbildung für den Mittleren Dienst in der Öffentlichen Verwaltung, Mittelmäßiger Dienstposten in der Verwaltung eines Arbeitsgerichtes, Mittelschweres Studium auf dem 2.Bildungsweg an einer mittelklassigen Fachhochschule, an der es als Zensuren nur Einsen oder Zweien gab, wenn überhaupt. Bis hier hin also eine wirklich mittelmäßige Eisenpieksermurmelsackaufdenkopfhaulaufbahn, für die eindeutig das Flüchtlingskind aus Ostpreußen, das dann leider mit 19 Jahren im Jahre 63 verstorben ist an den Folgen seiner Krankheiten, verantwortlich ist. Aber, man soll ja über Verstorbene nicht schlecht reden! Deshalb: Viel Gutes in der nächsten Folge.
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Dörte Hansen, Schriftstellerin
Quelle: NDR Kultur
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